aus bma 07/98

von Klaus Herder

Die Honda Deauville (sprich „Dohwill”) ist nicht einfach nur ein neues Motorrad. Sie ist ein Jobkiller. Generationen von Metallbiegern und Plastikschnitzern verkauften reiselustigen Motorradfahrern grottenhäßliche Transportsysteme. Legionen von Zweiradmechanikern und Autolackierern kümmerten sichHonda NT 650 V Deauville um lausig passende Nachrüst-Verkleidungen. Doch damit ist nun Schluß. Honda hat den Selbermachern und Nachrüstern den Kampf angesagt. Die Uhr der Bastler ist abgelaufen. Verschont blieben nur ein paar spanische Motorradwerker: Das Alles-Inklusive-Angebot Honda Deauville wird im ehemaligen Montesa-Werk in Barcelona zusammengesteckt. Alles inklusive bedeutet im Fall des nach einem französischen Badeort benannten Mittelklasse-Tourers, daß Verkleidung und Koffer schon serienmäßig dran sind und alles erdenkliche Zubehör ebenfalls aus dem Hause Honda stammt. Die Basis der Deauville ist die über zehn Jahre lang ebenso erfolgreiche wie langweilige NTV 650. Die Honda-Marktstrategen nahmen die Fahrer des nahezu faszinationsfreien Zweizylinders etwas genauer unter die Lupe und stellten fest, daß immerhin 52 Prozent der NTV-Treiber nachträglich Koffer montieren und 20 Prozent mit Topcase unterwegs sind. Das Aussehen der ohnehin nicht übermäßig schönen NTV gewann durch die Nachrüst-Aktionen nur in den seltensten Fällen. Ganz im Gegenteil. Honda reagierte, und so kam es zu der laut Presse-Info „Entwicklung einer ganzheitlichen, runden Lösung.” Entstehen sollte „ein funktionelles Alltagsmotorrad für den sprichwörtlichen Weg zur Arbeit.”
Honda NT 650 V DeauvilleEin Motorrad also, das in einer Linie mit der NSU Quickly und der 250er MZ zu nennen ist? Nicht ganz, denn Quickly und Emme haben keine Dreiviertelverkleidung und keine integrierten Koffer. Integriert? Jawoll, die Gepäckbehälter der Deauville lassen sich nicht abnehmen. Oder positiv formuliert: Sie sind immer dabei. Von Haus aus passen links 18 und rechts 16 Liter hinein. Das ist nicht übermäßig viel und reicht nicht für einen handelsüblichen Integralhelm. Für Thermoskanne, Bildzeitung und Kniftenkiste langen die Stauräume aber allemal. Wer mit der Deauville nicht nur zur Arbeit sondern auch in Urlaub fahren möchte, bekommt beim Honda-Händler Wechseldeckel, die das Volumen auf 27,7 und 29 Liter erhöhen. Passende Innentaschen und das unvermeidliche Topcase gibt’s dort ebenfalls. Klarer Vorteil der integrierten Lösung ist neben der harmonischeren Form die im Vergleich zu Nachrüst-Lösungen geringere Baubreite und vor allem das für den Sozius uneingeschränkte Platzangebot.

 

Stichwort Platzangebot: Die Deauville ist eines der wenigen Motorräder, auf denen Einssechzig-Zwerge und Zweimeter-Riesen gleichermaßen gut untergebracht sind. Sitzhöhe, Position der Fußrasten, Entfernung zum Lenker und Breite vom Lenker – alles paßt hervorragend, egal, wie klein oder groß der Fahrer ist. Die Verkleidung ist weit genug geschnitten, um keine Platzangst aufkommen zu lassen. Und sie ist trotzdem schlank genug gehalten, um kein Gold Wing-Trauma zu verursachen. Links und rechts neben dem übersichtlichen Cockpit bleibt Platz für die Installation von Lautsprechern. Die Verkabelung zwischen Verkleidung und Koffern ist bereits serienmäßig. Für Kleinkram stehen zwei Handschuhfächer zur Verfügung, das rechte ist abschließbar.
Honda NT 650 V DeauvilleDer Wind- und Wetterschutz der Verkleidung ist ordentlich. Der Oberkörper liegt voll im Windschatten, der Helm bleibt bei normalgewachsenen Fahrern frei von Turbulenzen. An den Händen kann es im Winter etwas frisch werden, doch die maßgeschneiderten Zubehör-Heizgriffe dürften für Abhilfe sorgen. An der rundherum erfreulichen Deauville-Schale stimmen selbst Kleinigkeiten: Die Spiegelausleger sind lang genug, um dem Fahrer die Rücksichtnahme zu erleichtern, und unter der Schale stecken Sturzbügel, die einen Umfaller nicht ganz so teuer werden lassen. Unter der Verpackung steckt weitgehend bekannte Technik. Der flüssigkeitsgekühlte V-Zweizylinder muß immer noch mit 647 ccm auskommen, erstarkte aber durch Feinarbeit an Ventilsteuerung und Zündung auf 56 PS (wahlweise auch 50 oder 34 PS). Die Kurbelwelle bekam eine größere Schwungmasse, und das Abgassystem wurde im Hinblick auf mehr Drehmoment im unteren und mittleren Drehzahlbereich in Länge und Durchmesser reduziert. Für die thermische Gesundheit sorgt ein 50 Prozent größerer Kühler. Den Endantrieb übernimmt weiterhin eine Kardanwelle, doch die läuft nicht mehr in einer Einarmschwinge, sondern steckt in einer längeren Zweiarmschwinge, die aus den Shadow-Choppern stammt. Der Griff in den Honda-Baukasten erklärt, warum am Deauville-Kardangehäuse eine arbeitslose Federbeinaufnahme zu finden ist. Das über einen Knopf unter der rechten Seitenverkleidung in der Federvorspannung verstellbare Zentralfederbein ist direkt angelenkt und steckt weiter vorn.
Honda NT 650 V DeauvilleDer aus Stahlprofilen bestehende Deauville-Rahmen stammt praktisch unverändert aus der NTV. Die Wandstärke wurde etwas erhöht, das war’s auch schon. Neu ist dafür die Doppelscheibenbremse im Vorderrad. Die Brembo-Stopper sind fein zu dosieren, packen gut berechenbar zu und haben mit dem vollgetankt immerhin 238 Kilogramm schweren Tourer leichtes Spiel. Etwas schwerer tut sich da schon der Motor. Das Kalt- und Warmstartverhalten ist tadellos, der Sound ist kernig, doch die Leistungsentfaltung nicht gerade berauschend. Vom biederen Honda-Twin erwartet niemand Supersportler-Fahrleistungen, doch gerade im Vergleich zu der auf dem Papier leistungsmäßig unterlegenen NTV fällt die Deauville etwas ab. Der Motor hängt zwar gut am Gas, das Fünfganggetriebe ist hervorragend gestuft und leicht zu schalten, die Kupplung funktioniert butterweich, und doch will anfangs die rechte Faszination nicht aufkommen. Doch die Deauville erzieht ihren Fahrer. Nach geraumer Zeit merkt man, daß theoretisch zwar 180 km/h Spitze drin sind, daß 130 km/h Richtgeschwindigkeit aber viel mehr Spaß machen. Der Verbrauch bleibt bei einem solchen Tempo in Regionen um fünf Liter Normalbenzin, was in Verbindung mit dem üppigen 19-Liter- Tank zu einer ordentlichen Reichweite führt. Fahrer und Sozius sind auch auf Dauer bequem untergebracht, und so lassen sich Reiseschnitte realisieren, von denen mancher Supersportler nur träumen kann. Der Geradeauslauf ist hervorragend, Vibrationen sind deutlich spürbar, aber unterhalb von 150 km/h nie unangenehm.
Doch bequemes Kilometerfressen auf der Autobahn ist nur eine Stärke der Deauville. Der Landstraßenbetrieb macht mit ihr mindestens genauso viel Spaß. Enduros und Naked Bikes sind handlicher, doch die aufrechte Sitzposition, der breite Lenker und die gelungene Gewichtsverteilung sorgen dafür, daß flottes Kurvenfahren auch mit der Honda nicht zur Schwerarbeit wird. Die Schräglagenfreiheit ist völlig ausreichend, die Telegabel arbeitet sehr sensibel, nur dem Federbein würde etwas weniger Dämpfung ganz gut tun. Die Kardanwelle benimmt sich völlig unauffällig, Lastwechselreaktionen sind so gut wie nicht zu spüren.
Wer noch mehr Tourenkomfort haben möchte, wird beim Honda-Zubehörangebot fündig: Passende Beinschilde und Zwölf-Volt-Steckdose sind normal, ein echtes Gimmick ist aber die nachrüstbare Schaltwippe. Die Verarbeitung der Deauville ist manierlich, allerdings nicht so gut wie die mancher direkt aus Japan stammenden Honda. Schön und für einen Tourer ja eigentlich selbstverständlich ist der serienmäßige Hauptständer. Weniger schön ist der für’s Aufbocken nicht ganz so gelungen plazierte Handgriff. Das Abblendlicht ist auch noch nicht der Weisheit letzter Schluß, doch das ist es auch schon fast mit den Kritikpunkten.
Die Deauville kostet 14.270 Mark. Das ist im Vergleich zur zuletzt für rund 10.800 Mark gehandelten NTV auf den ersten Blick ziemlich heftig. Addiert man allerdings die Einzelpreise für eine Nachrüst-Verkleidung, Nachrüst-Kofferträger samt Koffern und Nachrüst-Bremse, liegen die Tarife nahezu gleichauf. Die Deauville ist aber zumindest für Tourer die bessere Wahl. Nichts wirkt improvisiert und zusammengeschustert, und die Form ist gefälliger als das Metallbaukastendesign der NTV.
So ganz arbeitslos werden die Motorradschrauber aber doch nicht. Für die Deauville-Farbpalette griffen die Honda-Macher nämlich zielsicher ins Klo. Das „Pearl-Rapsberry-Schwarz” garnierten sie mit einem tuntigen Purpur-rot, beim „Sandy-Beigemetallic” schläft einem das Gesicht ein, und „Pyrennees-Braunmetallic” geht umgangssprachlich als Kackbraun durch. Den Herstellern von Dekor-Sets und der Zunft der Lackierer dürfte die Deauville somit eine goldene Zukunft bescheren.