aus Kradblatt 3/16
Text: Gregor Schinner, www.zweirad-online.de
Fotos: Buenos Dias

Fährt es — oder fliegt es schon?
Honda NM4 Vultus

Honda Vultus 2015 FrontIrgendwo in Japan: Ein junges Projektteam der Honda Design Academy erhält den Auftrag, ein Bike zu entwerfen. Jung & flippig – Manga-Style. Abgefahren und individuell. Nicht selten vergammeln solche Projektbikes später in irgendwelchen Schubladen, im besten Falle stehen sie auf einer großen Messe und wenn sie dann sogar gebaut werden, dann hat das fertige Bike kaum noch etwas mit dem ursprünglichen Entwurf zu tun.

Im Falle der Honda NM4 Vultus ging alles ganz schnell. Die Entscheider bei Honda waren von dem progressiven Entwurf so beeindruckt, dass die Weiterentwicklung zur Serienreife kurzfristig beschlossen wurde, aus dem Projektbike entstand der Honda Technologieträger „Vultus“. Der Begriff stammt aus dem Lateinischen und bedeutet übersetzt so viel wie „Miene“, „Blick“ oder „Gesichtsausdruck“, gelegentlich auch mit den Adjektiven „streng“ oder „zornig“ kombiniert.

Sicher, das mutige Design findet vor allem in Europa mindestens ebenso viele Gegner wie Anhänger. Zu wuchtig und eckig ist die Front, als dass sie sich mit dem klassischen Bild eines Motorrades vereinen ließe. Dazu kommen gewöhnungsbedürftige Proportionen. Schwere Kost, wenn man beim Stichwort Honda das Bild einer CB 750 im Kopf hat.

Honda Vultus 2015 linksDabei hat Honda die Welt bereits vor ein paar Jahren mit der DN-01 auf Bikes mit spezieller Optik vorbereitet. Auch 2007 sorgte das neue Design für Aufregung und Honda hatte ein prominentes Bike um eine neue Antriebstechnologie vorzustellen, die sich aber letztlich nicht durchsetzen konnte.

Doch zurück zur Vultus: auch hier zeigt Honda jede Menge fortschrittlicher Technik, wenngleich das Rad nicht neu erfunden wurde. Motor und Antrieb sind aus den NC 750 Modellen bekannt, ein Zweizylinder Viertakt-Reihenmotor mit 745 ccm Hubraum, in der Vultus zwangsverheiratet mit dem tollen automatisierten DCT-Doppelkupplungsgetriebe (siehe auch Fahrbericht NC 750 Integra im Kradblatt Archiv), dient als Antrieb für den vollgetankt 245 kg schweren Tourencruiser.

Erstmals bei einem Honda-Modell sind alle Scheinwerfer, inklusive dem Hauptscheinwerfer, mit LED-Technik ausgestattet. LED-Technik gibt es auch im Cockpit, welches auf Wunsch in 25 verschiedenen Farbtönen erstrahlt. Oder man lässt die Cockpitbeleuchtung analog zur gewählten Fahrstufe des DCT-Getriebes leuchten, d.h. weiß bei Neutralstellung, blau im Fahrmodus D, pink im Sportmodus S und rot im manuellen Modus.
Honda Vultus 2015 CockpitEin weiteres Gimmick ist der hochklappbare Soziussitz, der dann als Rückenlehne für den Fahrer fungiert. Die Lehne muss mit dem Zündschlüssel entriegelt werden und kann dann in kleinen Stufen bis zur gewünschten Neigung aufgestellt werden.

Dank der niedrigen Sitzhöhe von nur 650 mm lässt sich der Vultus-Sattel ohne Mühe entern. Das von außen imposante Bike macht auch aus der Fahrerperspektive Eindruck, die breite, ausschließlich in „Matt Ballistic Black Metallic“ lieferbare Verkleidung baut sich schützend vor dem Fahrer auf und sorgt für Superheldenfeeling.

Gotham City – dein Retter ist unterwegs!

Der Umgang mit dem automatisierten Schaltgetriebe ist kinderleicht, das Starten nicht anders als mit jedem anderen Bike auch. Naja fast, bevor es los geht, muss noch die manuelle Handbremse links unterhalb der Verkleidung gelöst werden. Bei laufendem Motor reicht ein Druck auf den Wählschalter der Automatik, schon rollt die Vultus im D-Modus nur durch Betätigen des Gasgriffs los.

DCT Dual Clutch TransmissionDas erstmals 2010 von Honda eingesetzte Doppelkupplungsgetriebe DCT ist mittlerweile erstaunlich weit gereift und ohne Abstriche einsteigertauglich. Die bei den ersten DCT-Modellen noch bemängelte unharmonische Schaltcharakteristik, und auch die übermäßige Geräuschentwicklung wurde konsequent ausgemerzt, der Fahrer kann sich nun ganz ohne Ablenkung auf den Straßenverlauf konzentrieren.

Bei der Vultus passt die im Modus D hinterlegte Abstimmung gut zum Charakter des Bikes. Wer vor einem Überholvorgang schnell herunterschalten möchte tippt einfach ein- oder zweimal auf die Schaltwippe der linken Lenkerarmatur, schon steht der passende Gang für das Überholmanöver bereit. Kommt eine Zeit lang kein manueller Schaltbefehl, sucht das Getriebe einen passenden Gang und übernimmt wieder das Kommando. Zudem passt sich das lernfähige System dem Fahrer an. Wird öfter und heftiger Gas gegeben bzw. gebremst, stellt sich das System darauf ein und reagiert entsprechend aggressiver.

Honda Vultus 2015 LehneDer aus den NC-Modellen bekannte Zweizylinder mit 745 ccm Hubraum bringt die immerhin vollgetankt rund 245 kg schwere Fuhre ordentlich voran, erst an steilen Anstiegen oder bei Überholmanövern, deutlich jenseits der Landstraßengeschwindigkeit, könnte die Vultus noch einen Schuss Mehrleistung vertragen. Darunter gelingt es dem DCT-Getriebe erstaunlich gut, die 55 PS Spitzenleistung und 68 Nm Drehmoment effektiv für den Vortrieb einzusetzen.

Doch hektische Überholmanöver stehen im Sattel der Vultus eher selten an, denn das optisch so wilde Bat-Bike ist eher ein gemütlicher Kilometerfresser. Die lümmelige und wenig fahraktive Sitzposition mit der Lehne im Rücken ist zwar sensationell bequem, andererseits sitzt der Fahrer wie festzementiert in der Sitzmulde, da wirken schnelle Kurvenwechsel irgendwie deplatziert. Auch Fahrwerk und Motor sind eher für Touristen als für Racer abgestimmt, die Vultus kann zwar gerne flott, sollte aber nicht am Limit bewegt werden.

Neben dem langen Radstand könnte auch der mächtige 200er Hinterreifen ein Grund für die etwas eingeschränkte Wendigkeit sein – ein Tribut an die Vultus-Optik. 55 PS hätte sicher auch ein 160er Reifen noch ordentlich auf den Asphalt übertragen. Auch das Einlenken in Kurven erfordert vom Fahrer immer etwas Nachdruck, die Vultus neigt außerdem gerne dazu, sich aufzurichten. Die Schräglagenfreiheit geht im Gegensatz zu den meisten anderen Fahrzeugen mit Trittbrettern aber in Ordnung.

Honda Vultus 2015 heckDie Abstimmung der Federelemente der Vultus ist eher komfortorientiert, solange es der Fahrer beim lässigen Cruisen belässt. Bei forciertem Ritt kommt dagegen unnötige Unruhe ins Fahrwerk und die verwässert die angepeilte Linie. Auch hier zeigt die Vultus, dass ihr trotz der aggressiven Optik von Honda eher ein defensiver Fahrstil anerzogen wurde.

Zum Thema Bremsen gibt es bei Honda eigentlich nicht viel zu sagen und das ist im positivsten Sinne zu verstehen. Die Bedienung der Bremse ist auch bei der Vultus narrensicher, Dosierbarkeit und Wirkung geben keinen Anlass zur Kritik. Schon seit Jahren werden alle Honda Modelle über 125 ccm serienmäßig mit ABS ausgerüstet, während andere Hersteller oft erst zum Ende der Saison die ABS-Versionen ihrer neu vorgestellten Modelle nachreichten, sofern dieses wichtige Feature überhaupt lieferbar war. Damit ist seit Anfang diesen Jahres durch die ABS-Pflicht ab 125 ccm für neue Typzulassungen aber ja eh Schluss.

Honda Vultus 2015 StaufachKritik wird es sicher für die opulente Verkleidungsfront geben, wenngleich der Windschutz sehr gut ausfällt. Der Oberkörper wird weitestgehend vom Fahrtwind entlastet, auch wenn die Scheibe nicht verstellbar ist. Die Verkleidung beherbergt außerdem noch zwei kleine Staufächer, in einem davon steckt eine 12 V-Bordsteckdose fürs Navi oder das Handyladegerät. Das Voll-LCD-Cockpit selbst bietet neben der oben erwähnten Farbenspielerei auch allerlei nützliche Anzeigen. Den Drehzahlmesser allerdings ausgenommen, er ist als Balkengrafik ohnehin nur schwer für das Auge zu erfassen und durch das DCT-Getriebe überflüssig.

Honda Vultus 2015Die optische Wucht, mit der die Vultus Betrachter in ihren Bann zieht ist beeindruckend. Selbst kleine Kinder, die von Motorrädern wenig Ahnung schauen dem schwarzen Marschflugkörper hinterher und ahnen, dass hier ein besonderes Motorrad unterwegs ist. Wer mit dieser Aufmerksamkeit nicht umgehen kann, der sollte die Finger von der Vultus lassen. Egal ob beim Parken, an der Ampel oder beim Tanken, die Fragen sind immer die gleichen: „Was ist das, wie schnell fährt das und was kostet das?“ Die Strategie von Honda, über aggressive Optik Aufmerksamkeit zu erzeugen ist auf jeden Fall aufgegangen.

Dass Honda mit der NM4 Vultus keine Verkaufsrekorde einfahren wird, ist ein offenes Geheimnis. Mit 40 verkauften Einheiten 2014 und geplanten 50 für den deutschen Markt in 2015 dürfen potenzielle Käufer aber nicht lange zögern, um einen dieser Exoten zu übernehmen.

Honda hat mit der Vultus wieder einmal Mut bewiesen und ein optisch wie technisch besonderes Bike auf die Räder gestellt. Der Preis von 11.755 Euro ist für ein 55 PS Motorrad zwar sehr hoch, legt man die geringen Stückzahlen der Vultus Zugrunde, so ist der Aufpreis von ca. 5.000 Euro gegenüber einer NC 750 mit gleichem Antrieb gerechtfertigt, zumal man mit dem Honda-Stealthbomber bei jedem Biker-Treff garantiert schnell ins Gespräch kommt.