aus bma 02/02

von Berthold Reinken

Honda GL 1800 GoldWingLange Gesichter machten die Goldwing-Freunde, die im September 2000 bereits am ersten Tag der Intermot in München Hondas neuen Supertourer bestaunen wollten. Erst am Samstag war die Präsentation für Europa vorgesehen und sogar die versammelte Motorrad-Weltpresse wurde enttäuscht. Dabei waren die wichtigsten Eckdaten bereits lange bekannt und erste Fotos schon hier und da abgedruckt. Daß es trotz einiger Achtzylinder-Gerüchte beim Sechszylindermotor bleiben würde, hatte sich auch längst herumgesprochen. Damit ist allerdings auch schon Schluß mit den Gemeinsamkeiten mit der GL 1500. Schnell wurde klar, daß es sich hier um ein völlig anderes Motorrad handelt, das eigentlich sogar einen anderen Namen verdient hätte.
Statt in einen Rohrrahmen ist der jetzt 1832 ccm große Motor in einen Alu-Brückenrahmen gehängt. Das Hinterrad wird in einer Leichtmetall-Einarmschwinge mit Monofederbein geführt. Dadurch gestaltet sich der Radwechsel erheblich einfacher als bei der GL 1500. 118 PS leistet der Sechszylinder bei 5500 U/min. Das höchste Drehmoment von 167 Newtonmetern liegt bereits bei 4000 U/min an. Mit der Einspritzanlage und dem geregelten Dreiwege-Kat ist die neueste Goldwing für die Abgasvorschriften der nächsten Jahre bestens gerüstet.
Während andere Motorradhersteller das Kanten-Design neu entdeckt haben, ist die GL 1800 im Gegensatz zur alten Fünfzehnhunderter eine wirklich runde Sache geworden. Trotz des leichteren Rahmens bringt sie vollgetankt allerdings fast 420 kg auf die Waage und ist damit kaum leichter als die 1500er.

 

Honda GL 1800 GoldWingGeschockt war die Fan-Gemeinde, die allerdings nicht komplett von der neuen begeistert ist, auf jeden Fall vom Preis des neuen Honda-Flaggschiffes. 48.000 DM sind auch wirklich ein echter Hammer. Schuld daran hat angeblich der hohe Dollarkurs, denn die Goldwings werden schon immer in den USA gebaut. Mit einer deutlich besseren Ausstattung kann der extrem über dem der GL 1500 liegende Preis jedenfalls kaum gerechtfertigt werden. Zwar hat die 1800er neben dem Kat nun ABS und die Honda-Kombibremse, das war’s aber auch schon im Wesentlichen. Die Funkzentralverriegelung der Koffer, die Außentemparaturanzeige oder die Displaywarnung bei nicht geschlossenem Topcase oder Seitenkoffer können den Preis wohl genauso wenig so extrem beeinflusst haben wie die nun elektrische Höhenverstellung der Scheinwerfer oder die Wegfahrsperre. Andererseits wurde die serienmäßige Ausstattung im Vergleich zur alten Goldwing auch noch kräftig heruntergefahren. Es gibt zum Beispiel keinen Kassettenrecorder mehr. Statt dessen bietet Honda im Zubehör einen Sechser-CD-Wechsler zum aberwitzigen Preis von 1182 Euro zuzüglich Einbaukosten an. Glücklicherweise wird mit dem Motorrad ein Anschlußkabel geliefert, mit dem man einen Mini-Disc-Player oder MP3-Player an das Bordradio anschließen kann. Hier empfehlen wir zum Beispiel den Sony MZ-R 500, mit dem man Mini-Discs mit fast sechs Stunden Musik bespielen kann. Das Gerät ist überall im Handel für ca. 200 Euro zu haben und damit nicht nur extrem preisgünstiger, sondern auch einfacher zu handhaben als der Sechser-CD-Wechsler. Apple-Computer-Besitzer können sich alternativ auch den neuen MP3-Player iPod von Apple zulegen. Das Gerät kostet zwar 500 Euro, läßt aber das Aufspielen von sagenhaften 1000 Musikstücken zu. Diese Geräte lassen sich bequem im linken Verkleidungsstaufach des Motorrades unterbringen.
Honda GL 1800 GoldWingErst bei näherem Hinhören stellt man fest, daß die vermeintlichen Lautsprecher für den Beifahrer nur leere Hüllen sind. Waren sie bei der GL 1500 noch serienmäßig gefüllt, verlangt Honda dafür nun satte 180 Euro extra. Gestrichen wurden außerdem die früher serienmäßigen Kofferinnentaschen, die Höhenverstellung der Beifahrerfußrasten (praktisch bei Mitnahme von Kindern) und die Fußheizungsklappen. Außerdem macht das Bordradio einen qualitativ schlechteren Eindruck als das der GL 1500, wie wir auf unseren 13.000 Testkilometern mit unserer Maschine leider feststellen mußten. War bei unserer 1500er noch bis 150 km/h mehr oder weniger Musikgenuß möglich, ist bei der GL 1800 spätestens bei 120 km/h Schluß. Besonders in bergigen Gegenden ist ferner die Empfangsqualität schlecht (man muß ständig neue Sender suchen) und die automatische fahrtempoabhängige Lautstärkeregelung arbeitete beim Vorgängermodell effektiver.
All diese Ärgernisse können den Fahrspaß mit der neuen Goldwing aber nicht vermiesen, denn dieser ist enorm. Der GL 1500-gewohnte Fahrer wird vom Anritt der 1800er schwer beeindruckt. Der Sechszylinder scheint die halbe Tonne, die er inklusive Fahrer bewegen muß, einfach zu ignorieren. Die Fuhre stürmt unter herrlichem Sound der Auspuffanlage gewaltig voran. Dabei flutschen die Gänge des butterweichen Getriebes locker vom Fuß und man ist ruckzuck im fünften Gang gelandet. Dieser wird im Display als Overdrive bezeichnet, was aber eigentlich nicht korrekt ist, denn die Tatsache, daß man sich in dieser Gangstufe bis auf Tempo 50 zurückfallen lassen kann, um dann ohne zurückzuschalten mit mächtig Dampf aus dem Keller zu beschleunigen, beweist, daß der GL 1800 ein „ echter Overdrive” fehlt. Honda GL 1800 GoldWingEs gibt wohl kaum ein Motorrad, auf dem man bequemer sitzt als auf der neuen Goldwing. Dieses gilt für den Beifahrer genauso wie für den Fahrer. Eine Rückenlehne, wie sie viele GL 1500-Fahrer angeschraubt haben, ist bei der Neuen nicht mehr nötig, da der Sitz noch besser ausgeformt ist. Geteilter Meinung kann man über die Windschutzscheibe der 1800er sein. Da sie schmaler als beim Vormodell ist, schützt sie nicht so gut vor dem Fahrtwind. Dafür sind Fahrten bei großer Hitze deutlich angenehmer, da der Wind zumindest noch teilweise den Fahrer kühlt. Als hochgradig paradox für einen Supertourer dieser Preisklasse ist allerdings die immer noch anachronistische manuelle Höhenverstellung der Scheibe zu bezeichnen. Für diese Peinlichkeit sollte der Hersteller sich wirklich schämen.
Doch zurück zu den erfreulichen Dingen. Ein Quantensprung im Vergleich zur GL 1500 sind auf jeden Fall die Bremsanlage und das Fahrwerk der Neuen. Die 1800er lässt sich nicht nur viel zielgenauer einlenken, sie fällt außerdem mühelos von einer Kurve in die andere und glänzt dabei mit ihrem stabilen Fahrverhalten. Selbst bei stärkerem Bremsen stellt sie sich kaum auf. Dabei wird ein Eintauchen durch das mechanische Antidive stark reduziert. Diese Goldwing lässt sich auf jeden Fall auch sportlich bewegen.Honda GL 1800 GoldWing
Der Handbremshebel lässt zwar einen klaren Druckpunkt vermissen, die Wirkung der Kombibremse ist aber um Klassen besser als die der 1500er. Fuß- und Handbremshebel wirken zwar immer auf beide Räder, bei einer Vollbremsung müssen aber trotzdem beide Bremsen betätigt werden, da nur so alle neun Bremskolben der drei Bremsscheiben arbeiten.Auch der Geradeauslauf der neuen Goldwing ist fantastisch. Bis Autobahntempo 180 km/h zieht die Maschine stur ihre Bahn. Erst darüber wird es etwas unruhig. Ein Vergnügen bereitet das Fahren mit hoher Geschwindigkeit trotzdem nur bedingt. Nicht nur weil die schmalere Scheibe nicht so gut vor dem Fahrtwind schützt, sondern auch weil der hinter der Scheibe entstehende Sog den Fahrer nach vorne zieht. Außerdem ist der Lärm bei diesem Tempo auf Dauer nicht gerade angenehm und der Benzinverbrauch wird schnell zweistellig. Und noch etwas fällt bei Autobahnfahrten immer wieder unangenehm auf. Beeindruckt der Sechszylinder wie schon bei der alten 1500er normalerweise mit fantastischer Laufkultur, so gibt er beim Beschleunigen im fünften Gang zwischen 4000 (ca. 150 km/h) und 5000 U/min für einen Sechszylinder unfeine Vibrationen von sich. Das gab es beim 1500er Motor nicht. Zum Vergleich haben wir noch eine andere GL 1800 gefahren. Der Effekt trat bei dieser Maschine ebenfalls auf. Die Anfrage unseres Honda-Händlers beim Importeur ergab traurigerweise keine Reaktion. Wir glauben jedenfalls nicht, daß die Erklärung auf Seite 39 im Handbuch steht. Zitat (wörtlich): „Bei Betrieb unter schwerer Last kann gelegentlich ein leichtes Klopfen vernehmbar sein. Dies ist kein Grund zur Besorgnis, sondern bedeutet nur, daß der Motor effizient arbeitet.”Honda GL 1800 GoldWing
Abseits der Autobahn erfreut man sich dafür immer wieder am seidenweichen Lauf des Motors. Der Benzinverbrauch pendelt sich dort bei zügiger Fahrweise auf ca. sieben Liter Normalbenzin auf 100 Kilometern ein. So erinnert die Kontrolleuchte nach etwa 300 Kilometern ans Benzin einkaufen. Mit der Reservemenge von ca. vier Litern lässt sich dann zwar in der Regel problemlos die nächste Tanke erreichen, trotzdem hätte der GL 1800-Fahrer lieber einen 30-Liter-Tank, denn das superkomfortable Fahrwerk, das lediglich durch die manchmal etwas unsensible Gabel getrübt wird, lässt noch deutlich längere Etappen ohne Ermüdungserscheinungen zu. Dabei macht das hervorragende Fahrlicht auch Nachtfahrten zum Vergnügen.
Absolut kein Vergnügen bereiten allerdings ständige Werkstattbesuche, die heutzutage nicht mehr sein müssen. Wenn ein Tourenmotorrad, das zum „Kilometerfressen” förmlich animiert, alle 6000 Kilometer zur Wartung in die Werkstatt muß, kann man das wohl getrost als paradox bezeichnen. Da der neue GL-Motor außerdem nicht mehr den hydraulischen Ventilspielausgleich des 1500er Motors hat, ist ferner alle 24.000 Kilometer ein Einstellen nötig.
Erfreulicherweise hält sich der Reifenverschleiß in Grenzen. Wir wechselten den 180er Hinterradreifen schon nach 7500 Kilometern, weil eine große Tour nach Südfrankreich anstand. Es hätte aber durchaus noch 1500 Kilometer Zeit gehabt. Der vordere 130er dürfte bei ca. 15.000 Kilometern fällig sein.
Fazit: Die neue Goldwing 1800 ist auf jeden Fall ein fantastisches Motorrad. Es gibt wohl kaum eine Maschine, mit der man bequemer auf die große Reise gehen kann. Wer sie aber als den absoluten Luxustourer bezeichnet, hat nicht richtig hingeschaut. Dafür fehlt der GL eine deutlich bessere Serienausstattung. Nicht nur die fummelige Scheibenverstellung, das schlechte Audiosystem und die viel zu kurzen Wartungsintervalle führen hier zur Abwertung. Und wenn ein Navigationssystem nicht einmal gegen Aufpreis lieferbar ist, hat ein PKW jedenfalls keine Chance, in die Luxusklasse aufgenommen zu werden.