aus bma 10/11 – Fahrbericht

von Klaus Herder

Honda CBR 600 F ABS  Modell 2011Manchmal habe ich das Gefühl, das Leben geht völlig an mir vorbei. Dafür mag es Gründe geben, denn ich bin heterosexuell, besitze keinen Migrationshintergrund und entstamme keiner bildungsfernen Schicht. Ich hatte eine völlig normale Kindheit und bin glücklich verheiratet. Ich leide nicht unter irgendeiner Allergie oder Phobie, bin nicht vorbestraft und auch nicht drogenabhängig. Ich gehe einer geregelten Arbeit nach und zahle sogar Steuern. Kurz gesagt: Ich bin total normal. So schrecklich normal, dass ich zwar ziemlich sicher bin, zur Mehrheit der Bevölkerung zu gehören, aber von Jahr zu Jahr mehr das Gefühl habe, dass das zum Beispiel meine Volksvertreter oder das öffentlich-rechtliche Fernsehen – ja, ich Idiot zahle GEZ-Gebühren – eigentlich nicht wirklich interessiert. Um für den Gesetzgeber, die um ihre Daseinsberechtigung bemühte Helfer-Industrie oder einen großen Teil der Medien interessant zu sein, gehört man am besten zu irgendeiner Randgruppe oder Minderheit. Total normal zu sein, ist megamäßig out. Es sei denn, man sucht irgendjemanden, der bezahlt…

Im Freizeitbereich sieht das nicht sehr viel anders aus. Konventioneller Sport tut es nicht mehr, angesagt sind Extremsportarten, wenn man wirklich interessant sein will. Womit wir eigentlich auch schon beim Thema „Extrem-Motorräder“ wären. Speziell bei den Sport-Motorrädern gab es in den letzten 10, 15 Jahren eine Entwicklung, die immer mehr in Richtung Supersport-Nische ging. Als Marktbeobachter konnte man den Eindruck gewinnen, dass speziell die japanische Motorradindustrie fest davon überzeugt war, dass jeder Motorradfahrer, der nicht mit Fransenjacke oder Topcase durch die Gegend tobt, an mindestens jedem zweiten Wochenende Renntrainings besucht. Noch leichter, noch stärker, noch mehr Einstellmöglichkeiten, noch extremere Fahrwerksauslegungen – für sportlich verkleidete Motorräder gab es in den letzten Jahren offensichtlich nur einen legitimen Einsatzort: die Rennstrecke. Drei Kilo weniger Masse, zwei PS mehr Leistung – das waren die Entwicklungsziele, die die Marketingstrategen die letzten Jahre bewegten.

Honda CBR 600 F ABS Schade nur, dass die potenzielle und erschreckend normale Kundschaft nicht wie geplant mitspielte. Die große Mehrheit kauft eben nicht den neuesten Super-Duper-Hypersportler, sondern ganz normale Motorräder. Die mit Abstand best­- verkauften Modelle der einzelnen Marken sprechen da eine deutliche Sprache: Honda CBF 600 S, Kawasaki ER-6f/n, Suzuki Bandit 1250, Yamaha XJ6. Speziell in der hochgejazzten 600er-Supersportklasse, in der spätestens alle zwei Jahre etwas radikal Neues präsentiert werden musste, herrscht verkaufsmäßig tote Hose. Daran ändern auch die Moto2-Erfolge eines Stefan Bradl wenig, der Entwicklungs- und Marketingaufwand steht in keinem Verhältnis zum Vertriebsergebnis.

Das musste wohl auch Honda erkennen, obwohl man mit der CBR 600 RR immerhin die „Einäugige unter den Blinden“, sprich den bestverkauften 600er-Supersportler im Programm hat. Die Doppel-R gibt es seit 2003, und sie entstand aus der 2001 präsentierten CBR 600 FS, die wiederum die etwas sportlichere Schwester der CBR 600 F war.

Honda CBR 600 F ABS CockpitHonda CBR 600 F! Da leuchten vermutlich die Augen mancher Ü40-jährigen Leser, denn der seit 1987 verkaufte Sportler war praktisch das Schweizer Offiziersmesser für etwas dynamischere Motorradfahrer. Mit ihr entdeckten nicht wenige von uns den Spaß an der flotteren Gangart. Und das im ganz normalen Straßenverkehr mit all seinen Widrigkeiten. Der Begriff „Renntraining“ sagte damals bestenfalls ein paar Lizenzfahrern etwas. Die CBR 600 F machte alles völlig problemlos mit: den Sonntagmorgen-Quickie auf der Hausstrecke, den Italien-Urlaub mit Braut und Gepäck, den täglichen Weg zur Uni oder Arbeit – einfach alles. Man saß auf ihr durchaus sportlich, aber immer noch sehr bequem. Das Fahrwerk war (für damalige Verhältnisse) straff, aber immer noch komfortabel. Extreme Zuverlässigkeit, geringer Verbrauch, niedrige Unterhaltkosten und auch ein fairer Einstandspreis sorgten dafür, dass die F in guten Jahren deutlich über 3000 Mal verkauft wurde – das würde heutzutage locker für Platz zwei der Zulassungs-Hitparade reichen.

Bis zur PC25 (1991 bis 1994), vielleicht auch noch bis zur PC31 (1995 bis 1998) war die CBR 600 F ein echter Volks-Sportler, doch danach entfernte sie sich immer mehr vom ursprünglichen Konzept, wurde immer aufwendiger und teurer, um dann Ende 2006 endgültig überflüssig geworden zu sein.

Doch nun wird sie wieder gebraucht, denn die Tugenden der frühen CBR 600 F sind gefragter denn je. Die potenziellen Kunden haben immer weniger Fahrpraxis, können oder wollen immer weniger Geld ausgeben und sind auch rein körperlich nicht immer bereit, sich auf einem ausschließlich abseits der Rennstrecke bewegten Sportler krumm zu machen. Die Zeit ist reif für einen total normalen Sportler – und der heißt konsequenterweise wieder CBR 600 F.

Honda CBR 600 F ABS Die alte Neue ist ein Baukasten-Produkt, was ja nichts Schlechtes sein muss, wenn der Baukasten hochwertig bestückt ist. Grob vereinfacht gesagt ist das Comeback-Bike eine Honda Hornet mit Vollverkleidung. „Grob vereinfacht“ deshalb, weil technisch zwar eine mächtig enge Verwandtschaft besteht – Motor und Fahrwerk sind praktisch identisch – beide Modelle aber recht unterschiedliche Charaktere haben. Hornet und CBR werden im Honda-Werk in Atessa südöstlich von Rom gebaut. Für Vortrieb sorgt jener auf mehr Kraft bei mittleren Drehzahlen abgestimmte, von ursprünglich 120 auf 102 PS gedrosselte Motor aus der CBR 600 RR des Modelljahrs 2007.

Über dem wassergekühlten und natürlich von einer elektronischen Einspritzanlage befeuerten Reihenvierzylinder bildet ein Zentralrohrrahmen aus Gussaluminium das Fahrwerks-Rückgrat. Aluschwinge, direkt angelenktes Zen­tral- ­federbein, Upside-down-Gabel, beides von Showa und in Federbasis sowie Zugstufendämpfung verstellbar – das ist bewährte, ordentlich gemachte Hausmannskost. Wer ohne Low- und Highspeed-Dämpferverstellung nicht leben kann – ich vermute, es handelt sich um eine verschwindend kleine Minderheit – wird vermutlich erst gar nicht in die Versuchung kommen, sich die neue CBR 600 F etwas genauer anzuschauen. Müsste der Supersport-Junkie doch bereits bei der ersten Sitzprobe feststellen, dass Lenkerstummel nicht zwangsläufig zu einer extrem gefalteten Sitzposition führen müssen und dass es durchaus möglich ist, zwischen Sitzbank und Fußrasten soviel Platz zu lassen, dass weder Durchblutung noch Schräglagenfreiheit beeinträchtigt werden. Die über der oberen Gabelbrücke montierten Lenkerhälften, die bequeme Sitzbank und der saubere Knieschluss bescheren dem Probesitzer ein angenehmes Déjà-vu: PC25, das muss eine PC25 sein! Ist es natürlich nicht, und wer Großmutter und Enkelin im direkten Vergleich betrachtet, sieht das auch sofort. Doch dieser Draufsetzen-und-sofort-wohlfühlen-Effekt ist bei beiden CBR-Modellen identisch.

Honda CBR 600 F ABS Was bei der älteren Dame in meinen Augen aber deutlich besser ausfällt, ist das Cockpit. Keine feinen, analogen und vor allem übersichtlichen Rundinstrumente mehr, sondern vor allem beim Drehzahlmesser kontrastarmer und damit nur sehr mäßig ablesbarer Digitalzirkus. Sogar die 4500 Euro günstigere Honda CBR 250 R hat ein schöneres und übersichtlicheres Cockpit. Und wo ich gerade beim Meckern bin: Die an dieser Stelle schon mehrfach als Referenz angeführte Kawasaki GPZ 500 S meiner Frau war bereits 1995 mit verstellbaren Kupplungs- und Bremshebeln bestückt. Die 8990 Euro teure Honda CBR 600 F des Jahrgangs 2011 hat nur einen verstellbaren Bremshebel zu bieten und erlaubt sich als Kupplungsarmatur das vermutlich billigste Teil, das im Regal zu finden war. Und das ist zu allem Überfluss auch noch mit einer überflüssigen Spiegelaufnahme bestückt. Die CBR-Spiegel sitzen nämlich direkt an der Verkleidung und bieten beste Rücksicht – was sie wiederum von den entsprechenden GPZ-Bauteilen unterscheidet.

Der geneigte Leser wird womöglich gemerkt haben, dass der letzte Absatz eindeutig unter die Rubrik „An irgendetwas müssen wir aus journalistischer Sorgfaltspflicht doch herummäkeln“ fällt. Mehr habe ich dafür leider nicht zu bieten, denn der ganze CBR-Rest funktioniert tadellos und macht dabei sogar mächtig Spaß.

Halt, stopp, einen haben wir noch: In der CBR-Frühzeit wurde in jeder CBR-Geschichte löblich erwähnt, dass sie serienmäßig mit einem Hauptständer herumfährt. Die neue CBR hat keinen. Und es gibt ihn noch nicht einmal als Zubehör, denn die neue CBR hat an besagter Stelle aus Massenzentralisierungsgründen (welch ein Wort!) ein „Unterflur-Auspuffsystem“ (O-Ton Honda) montiert. Da bleibt für den legendären Hauptständer einfach kein Platz übrig. Schade!

Honda CBR 600 F ABS HeckSo, zwei Absätze kritischer Journalismus, das muss reichen. Widmen wir uns den überaus angenehmen Seiten der CBR 600 F. Die sehr bequeme, dabei durchaus vorderradorientierte Sitzposition hatten wir schon, allerdings ohne den Hinweis, dass genau sie es ist, die den wesentlichen Unterschied zur Hornet ausmacht. In Kombination natürlich mit dem überraschend guten Wind- und Wetterschutz, den die recht wertig gemachte Vollverkleidung bietet. Keine ganz unwichtige Sache, denn die besagten 102 PS beschleunigen die mit 18,4 Litern Sprit betankte nur 214 Kilogramm wiegende Honda bei Bedarf auf bis zu 230 km/h. Für den zumindest stammtischmäßig sehr wichtigen Sprint von 0 auf 100 km/h vergehen nur 3,6 Sekunden. Damit die CBR so richtig in Wallung kommt, benötigt sie Drehzahlen, was für CBR-Kenner nicht wirklich überraschend sein dürfte. Einigermaßen verwertbare Leistung gibt es ab etwa 4000/min, offene Flammen zündeln ab 7000 Touren, doch fürs richtige Inferno darf es gern der fünfstellige Bereich sein. Der Begrenzer greift erst bei gut 13000/min ein, verbleibt also ein Drehzahlfenster von immerhin 6000 Umdrehungen, in denen die CBR sehr viel Spaß macht. Angestrengt oder mechanisch übermäßig belastet wirkt sie zu keiner Zeit. Alles funktioniert so wie früher: total normal und völlig problemlos.

Honda CBR 600 F ABS  mit SoziusHandling? Fahrrad! Okay, ein etwas abgedroschenes und zu oft bemühtes Bild, aber dank der bequemen und trotzdem aktiven Sitzposition gar nicht mal so weit hergeholt. Selbst ungeübte Fahrer, die von sich als „nicht so der Heizer“ sprechen würden, toben mit der Honda nach sehr kurzer Eingewöhnungszeit äußerst frech um die Ecken. Die Fuhre lenkt spielerisch ein, wird nie link, verzeiht auch gröbere Patzer und schwächelt auch jenseits aller Kurven in Sachen Geradeauslauf-Stabilität nicht. Verhalten im Grenzbereich? Interessiert niemanden, wer partout im Kreis fahren möchte, gehört eindeutig nicht zur CBR 600 F-Zielgruppe. Für alles, was im öffentlichen Straßenverkehr unter die klassenüblich bereiften Räder (120/70 ZR 17; 180/55 ZR 17) kommen kann, ist die in Weiß/Rot, Weiß/Blau und Schwarz/Grau lieferbare Honda bestens gerüstet. Das gilt übrigens auch für die serienmäßig mit ABS bestückte Kombibremse. Wer ausschließlich aufs Pedal tritt, aktiviert den hinteren Stopper und die beiden mittleren Kolben der vorderen Dreikolbensättel. Wer nur am Handhebel zieht, bremst auch nur vorn. Alles klappt fein dosierbar und mit geringen Bedienkräften; das ABS greift angenehm spät und dann souverän regelnd ein. In diesem Zusammenhang fehlte bislang eine gern genommene Formulierung. Bitteschön: Alles typisch Honda!

Die ganz große Stärke der CBR 600 F ist ihre herrliche Normalität. Sie verlangt von ihrem Piloten nicht, der rennstre­ckenerfahrene Angaser zu sein, sorgt dann aber ganz spielerisch dafür, dass Otto Normalmotorradfahrer trotzdem flott und dabei sicher unterwegs ist. Sie überfordert ihren Besitzer nicht mit Einstell-Gimmicks, die außer in Oschersleben oder am Stammtisch ohnehin kaum jemand benötigt. Sie verkauft nicht Unbequemlichkeit als Charakter, und sie sorgt nicht dafür, dass sich arme Schlu­cker 72 Monate lang mit Haut und Haaren an ihre Bank verkaufen, nach 12 Monaten aber bereits einen Totalverlust zu vermelden haben, denn sie ist bezahlbar. Die neue Honda CBR 600 F ist kein Motorrad-Meilenstein, sie wird niemals einen Track-Test gewinnen, und um am Treffpunkt auf dicke Hose zu machen, taugt sie auch kaum. Sie ist einfach nur ein richtig feines Motorrad für total normale Menschen. Und damit ist sie absolut mehrheitsfähig.