aus bma 9/13
von Klaus Herder

Honda CB 1100 Farben 2013Jammern hilft manchmal. Das Gejammere begann bereits 2007, als die Honda CB 1100 als Studie auf der Tokyo Motor Show stand und ein Jahr später auf der Kölner Intermot, der weltgrößte Motorradhersteller aber noch keine Aussagen zur tatsächlichen Markteinführung treffen wollte. In Japan, Australien und Neuseeland hatte es sich 2010 ausgejammert, denn fortan gab’s dort die so herbeigesehnte CB 1100 ganz offiziell zu kaufen. Und das geschah dann auch im ganz großen Stil: Bereits im Premierenjahr belegte die CB 1100 in Japan Platz eins der Zulassungshitparade für Motorräder über 400 Kubik. Das große Jammern verzog sich nach Europa, und zum Jammer-Epizentrum avancierte Deutschland, das Land, in dem der seligen CB 750 Four sogar solche Menschen nachtrauern, die den Stuhl nachweislich nie gefahren haben – der VW-Käfer-Effekt, wir kennen das ja.
Honda CB 1100 FrontRührige Honda-Exoten-Experten wie Motorrad-Wagner in Buseck versorgten die nach CB 1100 lechzenden Neoklassiker-Fans in Deutschland derweil in homöopathischen Dosen mit original Japan-Ware, meisterten sogar die (abgastechnischen) Hürden der Einzelzulassung, mussten für das Schätzchen dann aber auch rund 15 Mille aufrufen, was die Zahl der Echtkäufer verständlicherweise in einer recht überschaubaren Größenordnung hielt. Das große Jammern ging also weiter. Bis zum Herbst des vergangenen Jahres, als Honda Deutschland endlich den offiziellen Import ab 2013 ankündigte. Und das zu einem Tarif, der mit einem Listenpreis von 10990 Euro (plus 265 Euro Nebenkosten) zwar immer noch sehr ambitioniert ausfällt – eine (zugegebenermaßen ABS-lose) Yamaha XJR 1300 kostet zur Zeit satte 2000 Euro weniger – für viele Ex-Jammerer aber im erträglichen (Finanzierungs)-Rahmen bleibt.
Da steht sie also nun, wirkt trotz des mächtigen Motors und der 248 Kilo Kampfgewicht erstaunlich zierlich und räumt erst mal mit einem Trugschluss auf: Nein, das ist kein Retro-Eisen, das auf CB 750 Four macht. Wer das behauptet, muss nur noch sehr vage Vorstellungen vom 1968er-Original haben. Zugegeben: Der fein verrippte 1100er-Motor (der tatsächlich mit 1140 ccm antritt) ist auch ein luftgekühlter Reihenvierzylinder, aber hatte die Ur-CB zwei obenliegende Nockenwellen? Eben!
Honda CB 1100 HeckUnd auch der ganze Rest ist ein sehr gefälliger Mix aus dem ganz großen, weit über die erste 750er hinausgehenden CB-Baukasten. Nichts anderes behauptet auch der Hersteller, aber die selbsternannten Gralshüter der Honda-Historie schreien halt immer reflexartig „CB 750 Four“, wenn die Rede auf die CB 1100 kommt. Um dieser Spezies noch ein paar kleine fiese Nadelstiche zu verpassen, sei folgendes angemerkt: Die CB 1100-Räder sind KEINE Drahtspeichenräder. Sie erinnern vielmehr etwas an die berühmt-berüchtigten Comstar-Räder, und die waren u.a. ein Markenzeichen der Bol d’Or-Reihe. Eine Vier-in-eins-Auspuffanlage gab’s auch erst ab Mitte der 70er-Jahre mit der CB 750 F1, und der überschaubare, 14,6 Liter fassende CB 1100-Tank war in dieser Form serienmäßig noch nie zuvor zu sehen. Wenn überhaupt, nimmt er Anleihen bei den frühen Honda RC-Rennmaschinen auf. Und er hat einen gewaltigen Vorteil: Seine schmale Form erlaubt auch aus der Fahrerperspektive einen Blick aufs geballte Feinripp. Ein paar kleine Design-Parallelen gibt’s dann aber doch noch. Die grün unterlegten Rundinstrumente hatte in vergleichbarer Form auch schon die Ur-CB, und auch das Rücklicht sieht dem der Mutter aller Honda-Viererpacks sehr ähnlich.
Besagte 248 Kilogramm lassen sich spielend einfach auf den serienmäßigen Hauptständer und auch wieder davon herunter wuchten. Der hohe und breite Lenker macht das Rangieren zur leichten Übung, der gewaltige Lenkeinschlag erlaubt Wenden auf engstem Raum.
Für die Europa-Premiere bekam die Honda CB 1100 ein paar kleine Überarbeitungen spendiert. Die Emissionsgrenzwerte in Japan sind nämlich noch etwas strenger als hierzulande, eine größere Airbox, die modifizierte Einspritzanlage und die fehlende Auspuffklappe fürs EU-Modell tragen dem Rechnung. Zudem sollen eine leicht aufgepolsterte Sitzbank und der noch etwas höher montierte Lenker etwas besser mit europäischen Gardemaßen korrespondieren, was allerdings nur bedingt klappt. Die CB 1100 passt perfekt für Menschen um 1,75 Meter Gesamtlänge und auch ein paar Zentimeter mehr oder weniger stören nicht weiter. Wer allerdings hart auf die 1,90 Meter zusteuert oder gar darüber misst, wird mit der CB 1100 auf Dauer vermutlich nicht glücklich, denn damit müsste man sich zu sehr zusammenfalten und würde ein wenig deplatziert wirken. Der sehr aufrecht und im klassisch-englischen Stil auf der CB 1100 thronende Normalwüchsige freut sich über verstellbare Handhebel, ihren Job tadellos erledigende Rückspiegel und ein unter allen Betriebsbedingungen allürenfreies Startverhalten. Die hydraulisch betätigte Kupplung lässt sich auch von mäßig trainierten Angestelltenhänden sehr fein dosieren, der erste von fünf Gängen rastet auf kurzem Weg und völlig geräuschlos ein – es ist eben eine Honda.
Honda CB 1100 CockpitBereits knapp über 1000/min legt der nominell 90 PS bei 7500/min leistende Vierzylinder mit feinsten Manieren los. Schnell wird deutlich, dass die Honda-Techniker einen Gleiter und keinen Reißer konstruiert haben. Keine Spur von Hektik oder Nervosität, was im Umkehrschluss aber nicht mit einem eher phlegmatischen Charakter verwechselt werden sollte. Dafür ist ein maximales Drehmoment von 93 Nm bei moderaten 5000/min bereits auf dem Papier zu viel Holz. Und in der Praxis noch viel deutlicher zu spüren: Der CB 1100-Motor liefert satten, dabei unglaublich kultivierten und perfekt kontrollierbaren Druck aus dem ganz tiefen Drehzahlkeller. Wer möchte, kann völlig problemlos im fünften Gang mit 1000/min durch die Gegend bummeln und wird beim Gasanlegen nicht mit Ruckeln oder Zuckeln bestraft, der mächtig elastischen Elastizität sei Dank. Zwischen 3000 und 4000 Touren legt der perfekt abgestimmte Motor noch eine Schippe nach, ohne seine coole Grundeinstellung zu ändern. Bis etwa 7000/min geht es konstant weiter, weiteres Ausdrehen bringt nichts. Der Begrenzer soll angeblich bei knapp 9000/min materialschonend eingreifen – ein Bereich, in den kein auch nur halbwegs sensibler CB 1100-Fahrer jemals vordringen wird.
Honda CB 1100Ganz abgesehen davon ist bei 180 km/h ohnehin Feierabend, denn auch die europäische CB 1100 wird beim in Japan geltenden Höchstwert für Motorräder abgeriegelt. Was kein wirkliches Drama ist, denn die CB 1100 ist der Inbegriff des Landstraßen-Motorrads und ist auf der linken Spur der Autobahn völlig fehl am Platze. Wer es trotzdem partout schneller angehen möchte, bekommt vom besagten Motorrad-Wagner für rund 500 Euro Hardware-Modifikationen verpasst, die der CB 1100 dann maximal 217 km/h erlauben. Vom gleichen Händler gibt’s mittlerweile auch eine Vier-in-vier-Anlage – nicht brüllend laut, aber noch ohne TÜV und mit rund 2300 Euro nur etwas für Hardcore-Retrofans.
Honda CB 1100Wir bleiben lieber bei der völlig serienmäßigen CB 1100 und bekommen dieses unverschämte Dauergrinsen einfach nicht aus dem Gesicht; denn neben dem famosen Motor begeistert auch das wunderbar entspannte Fahrverhalten. Die nach heutigen Maßstäben schmalen, aber großen Räder (mit 110/80-18 und 140/70-18 bereift) bescheren der Honda einen tadellosen Geradeauslauf und ein spielerisches Handling. Die mit Bridgestone BT 54 besohlte CB 1100 lässt sich unglaublich zielgenau und dabei absolut neutral durchs Winkelwerk treiben. Die Kombination aus unaufgeregtem Motor und feinster Handlichkeit sorgt dafür, dass man mit der Honda völlig entspannt und dabei durchaus zügig unterwegs ist. Das mag unspektakulärer aussehen, als mit einem Supersportler von Kurve zu Kurve zu toben, doch unterm Strich ist Otto Normalfahrer mit der CB 1100 vermutlich keinen Deut langsamer unterwegs. Die Lässigkeit der Honda strahlt auf ihren Fahrer ab – und macht ihn auf eine sehr sympathische Art schnell, wenn er denn will. Die in der Federbasis verstellbaren Federelemente stehen dem nicht im Wege und sind von Haus aus nicht zu komfortabel abgestimmt. Nur wer betont aggressiv unterwegs ist – eine Gangart, die so gar nicht zur CB passt – wird die konventionelle Telegabel und die Stereo-Federbeine an ihre Grenzen bringen. Brutale Vollbremsungen werden dann mit einer sehr tief eintauchenden, gegebenenfalls sogar auf Block gehenden Gabel bestraft. Und wer auf welligem Asphalt meint, das Gas brutal aufreißen zu müssen, darf sich nicht über unterdämpfte Federbeine wundern. Bei artgerechter Haltung gibt es aber wahrlich keinen Grund zur Klage.
Honda CB 1100 BremsanlageVerzögert wird auf typische Honda-Art, nämlich per Kombibremse. Wer aufs Bremspedal tritt, aktiviert nicht nur den hinteren Stopper, sondern auch jeweils einen Kolben der beiden vorderen Dreikolbenzangen. Der Griff zum Handhebel setzt dann die übrigen Kolben in Richtung 296-mm-Scheiben in Bewegung, und zusammen mit dem serienmäßigen ABS ergibt das eine sehr ordentliche Bremsanlage. Nicht unbedingt referenzverdächtig, dafür sind die Regelintervalle des Blockierverhinderers dann doch etwas grob, aber wie so vieles an der CB 1100 goldrichtig zum Charakter der Schönheit passend. Oder um es mit nur einem Wort zu beschreiben: unaufgeregt.
Es fällt wirklich schwer, an der CB 1100 etwas zu bekritteln. Mit ein wenig Mühe findet man aber doch ein paar Kleinigkeiten: So fällt die maximal erlaubte Zuladung mit rund 170 Kilogramm recht bescheiden aus, und die Sitzbank ist auf Dauer auch nicht wirklich soziustauglich. Der Auspuffsound ist schon sehr harmlos, und die Fahrerfußrasten setzen bei flotterer Gangart vielleicht einen Tick zu früh auf. Stört das tatsächlich? Nicht wirklich. Dafür erfreut die in Rot, Schwarz und Weiß lieferbare Honda CB 1100 mit tadelloser Verarbeitung, mit liebevollen Details wie einem Ölschauglas-Wischer und überhaupt mit ihrer ganzen Art. Man muss gar kein Retro-Fan sein, um zum CB 1100-Fan zu werden. Die hübsche Feinripp-Honda beweist einfach sehr eindrucksvoll, dass Entschleunigung eine durchaus flotte Angelegenheit sein kann. Wie schön, dass lange genug gejammert wurde.