aus Kradblatt 5/16, Text und Fotos: Günter George
Mit dem Motorrad über die gefährlichste Straße Indiens
Der Monsun kam spät in diesem Jahr, und so hatte er, obwohl es schon Ende August war, den Norden Indiens noch fest im Griff. Bis Shimla hatte ich es geschafft, doch hier saß ich fest und wartete auf eine Regenpause. Da diese ausblieb, fuhr ich schließlich im strömenden Regen los und war bald, trotz neuer Regenkombi, bis auf die Haut nass. So war der erste Reisetag, der mich nach Sarahan führte, höchst unerquicklich. Zum Regen gesellte sich Nebel, und als ich mein Tagesziel erreichte, konnte ich nicht einmal den berühmten Bimakali Tempel erspähen, obwohl er gleich auf der anderen Straßenseite lag.
Am nächsten Morgen erlaubte ein kleines Wolkenloch zwar den Besuch des Tempels, doch nach wenigen Minuten war alles wieder in einen dicken Nebelschleier gehüllt, und ich setzte mein Fahrt gen Osten fort. Die Straße führte entlang des Sutlej-Flusses, dessen gewaltige Wassermassen fast den gesamten Flusslauf entlang zur Stromerzeugung genutzt werden. Unangenehme Nebenerscheinung ist, dass sich, dank der jahrelangen Bautätigkeit, der National Highway 22 in einem abenteuerlichen Zustand befindet, was die fahrerischen Qualitäten des Reisenden auf eine erste Probe stellt.
Umso angenehmer war die Ankunft in Kalpa, einem kleinen, romantischen Dörfchen, knapp 2.800 Meter über dem Meeresspiegel. Hier endete das Herrschaftsgebiet des Monsuns. Seine Wolken versperrten zwar noch den Blick auf den Kinner Kailash, den heiligen Berg der Hindus und Buddhisten, aber sie hatten ihre Kraft verloren, und so konnte man sich endlich ohne Regenschutz nach draußen wagen.
Der weitere Verlauf meiner Reise würde mich bis dicht an die chinesisch-indische Grenze führen, und dafür brauchte ich eine Sondergenehmigung, ein „Inner-Line-Permit“. Diese Genehmigung gibt es z.B. beim Ausländeramt in Reckong Peo, nur wenige Kilometer von Kalpa entfernt. Dort angekommen, erwartete mich eine unangenehme Nachricht: Einzelreisende erhalten keine Genehmigung! Nur Gruppen von mindestens zwei Personen wird sie ausgestellt. Was nun?
Wäre ich nicht in Indien, hätte ich mir nun Sorgen machen müssen. In diesem Land ist eine solche Vorschrift jedoch nur dazu da, um umgangen zu werden. Am Nachmittag kämen noch zwei weitere Reisende, erklärte man mir. Man würde mich einfach auf deren Liste setzen und schon stünde der Ausstellung meiner Genehmigung nichts mehr im Wege. Gesagt, getan, und wenige Stunden später hielt ich das wertvolle Dokument in Händen, ohne meine neuen Reisebegleiter je zu Gesicht bekommen zu haben.
Kurz hinter dem Kontrollposten, an dem ich mein Inner-Line-Permit vorzeigen musste, ging eine winzige Straße ab und führte steil nach oben in versteckte Winkel des Himalajas. Immer wieder stand ich zweifelnd an Abzweigungen, und immer wieder wählte ich den falschen Weg. Doch nach einigem hin und her erreichte ich Lippa, den ersten von drei Orten, an denen jede Form von Entwicklung vorbeigegangen zu sein schien.
Das Bike musste ich am Ortsrand abstellen. Der Ort selbst war völlig fahrzeugfrei. Durch enge Pfade und über abenteuerliche Leitern und Treppen ging es höher und höher hinauf, bis ich ganz oben den buddhistischen Tempel, das religiöse und kulturelle Zentrum erreichte und den ganzen Ort überblicken konnte. So etwas hatte ich noch nicht gesehen. Diese Häuser waren nicht aus unserer Zeit. Die finsteren, ineinander verschachtelten Holzkonstruktionen hätten ebenso gut den Hintergrund für einen Endzeitthriller abgeben können.
Die beiden anderen Dörfer, die ich noch am gleichen Nachmittag besuchte, versetzten mich ebenso in Erstaunen. In Labrang erregte ein hoher viereckiger Turm meine Aufmerksamkeit. Ich fragte einen Einheimischen, was es damit auf sich habe. Er erklärte, dass dies ein altes Fort sei. Wie alt, wollte ich wissen. Sehr alt. Wie alt genau? Er überlegte und sagte dann geheimnisvoll, dass der Turm aus der Zeit des Mahabarata stamme. Mir ist nicht bekannt, in welcher Zeit dieses vorgeschichtliche Epos handelt, jedenfalls wusste ich nun, dass der Turm älter ist, als es sich mit Worten und Zahlen beschreiben lässt.
Regen und Nebel hatte ich nun endgültig hinter mir gelassen und gegen Hitze und Staub eingetauscht, was mir aber entschieden lieber war. Die Straßenverhältnisse waren noch immer äußerst bescheiden. Es gab zwar hier und da Abschnitte mit Asphalt, im Allgemeinen fuhr ich aber über grobe, reichlich mit großen Steinen und spitzen Felsen gespickte Geröllpisten. Straßenbau in dieser Region ist eine wahre Herausforderung, besonders wenn man die primitiven Methoden in Betracht zieht, mit denen die Menschen sich den Gewalten der Natur entgegenstemmen. Ein Erdrutsch, und die Arbeit von Wochen ist zunichte gemacht. Immer wieder kam ich an Stellen vorbei, an denen vor nicht langer Zeit der Fels weggesprengt wurde. An solchen Hindernissen kann es dann recht eng werden, und man muss mit teils stundenlangen Wartezeiten rechnen. Erstaunt hat mich, dass die harte Arbeit im Straßenbau meist von Mädchen und Frauen erledigt wird.
Nako ist ein Ort wie aus dem Bilderbuch, autofrei und nur zu Fuß zu erwandern. Im Zentrum befindet sich ein
über 1.000 Jahre altes buddhistisches Kloster, dass auf den großen buddhistischen Übersetzer und Gelehrten Rinchen Zangpo zurückgeht, der bei seiner missionarischen Wanderung durch Ladakh, Zanskar und Spiti mehr als 100 Klöster gegründet hat. Gerade als ich die Anlage erreichte, begann ein Mönch mit einer Puja. Außer ihm war nur ich anwesend. Ich setzte mich still in eine dunkle Ecke des Tempels und ergab mich ganz der Mystik dieses außergewöhnlichen Augenblicks. Mit Trommeln, Zimbeln und Muschelhörnern vollzog der Mönch die religiöse Zeremonie und rezitierte dazu mit tiefer Stimme Texte aus den heiligen Schriften der Buddhisten.
Glaubt man den einschlägigen Reiseführern und den Berichten anderer Abenteurer, so führt die Strecke von Nako nach Kaza über die spektakulärste und gefährlichste Straße Indiens. Mit gemischten Gefühlen machte ich mich auf den Weg. Umso größer war meine Überraschung, als ich einen Fahrweg in ausgezeichneter Qualität vorfand. Nur gelegentlich wurde der Asphalt durch kurze Schotterabschnitte unterbrochen, an denen Erdrutsche die Straße weggerissen hatten. Dennoch ist diese Fahrt nichts für schwache Nerven. Die Fahrbahn bietet in der Breite gerade einem Überlandbus Platz. Auf der einen Seite geht es steil bergan, auf der anderen hunderte Meter ebenso steil hinab, und bei Gegenverkehr gerät man ganz schön dicht an den Abgrund und kann den Spiti tief unten in seinem Bett toben sehen. Mit dem Bus möchte ich diese Strecke nicht fahren müssen, mit dem Bike war es eine Herausforderung, aber auch ein Genuss.
In Kaza habe ich nur kurz die „German Bakery“ besucht und mir einen richtig guten Kaffee und ein Stück Apfelkuchen gegönnt. German Bakeries findet man heute von Leh bis Kerala überall in Indien. Sie gehen auf einen deutschen Reisenden zurück, der vor über 40 Jahren die erste Einrichtung dieser Art in Goa und später in Katmandu in Nepal eröffnete. Heute werden diese Läden bis auf wenige Ausnahmen von Nepalis betrieben, die überall über die gleichen Rezepte zu verfügen scheinen. Richtiges Brot und Kuchen sind eine willkommene Abwechslung, wenn man über Wochen und Monate nur indische Speisen konsumieren konnte.
Nach diesem Genuss fuhr ich weiter nach Kibber, das auf 4.205 Metern über dem Meeresspiegel ehemals höchstgelegene Dorf der Welt mit Straßenanbindung und Stromversorgung.
In Kibber blieb ich einige Tage und nutze den Ort als Basis zur Erkundung umliegender Dörfer und Klöster, wie Key, Komic und Dhankar. Sie alle haben gemeinsam, dass sie ihre Entstehung Rinchen Zangpo zu verdanken haben. Sie liegen meist völlig abseits von jeder Zivilisation und waren bis vor nicht allzu langer Zeit nur zu Fuß oder per Pferd und Maultier zu erreichen. Heute führen grobe Schotterwege zu den meisten Orten. Die wenigen Mönche, die noch in den Klöstern leben, freuen sich über jeden Besucher, und auch wenn es mit den Englischkenntnissen nicht weit her ist, sind sie bemüht, uns Fremdlingen Einblick in ihr einsames Leben zu geben. Ihre Tempel sind Orte voller Geheimnis und Mystik, die jeden unvermeidlich in ihren Bann ziehen.
Das Spiti Tal endet am Kunzum-La, 4.590 Meter über dem Meeresspiegel und hier sollte auch meine Reise enden. Den Rohtang Pass wollte ich mir nicht antun. Von anderen Reisenden habe ich erfahren, dass es dort noch immer regnete und man im Schlamm versank. Deshalb war mein Plan, am Kunzum Pass umzukehren und auf dem gleichen Weg zurück nach Shimla zu fahren. Doch es sollte anders kommen. Beim Aufstieg traf ich einen australischen Radler, der mir voller Begeisterung von seinem Besuch des Chandratal, zu Deutsch Mondsee, berichtete.
Jenseits des Kunzum-La ging es ab auf einen schmalen, aus dem blanken Fels gehauenen Pfad und damit auf die schlechteste und abenteuerlichste „Straße“, die ich auf dieser Reise erlebt habe. Im Schritttempo erkämpfte ich mir Meter um Meter und erreichte nach einer kleinen Ewigkeit das Northface-Camp. Ich bezog eines der stationären Zelte und wanderte zu Fuß zum See, der malerisch in einem kleinen Tal lag. Als ich früh im Bett verschwand, ahnte ich nicht, dass der nächste Tag der verhängnisvollste der ganzen Reise und zu einem zweifelhaften Höhepunkt werden sollte.
Der Tag begann total normal. Nach einer durchfrorenen Nacht, und das obwohl ich mich mit zwei dicken Felldecken zugedeckt hatte, wachte ich um halb sieben auf. Die Morgentoilette war schnell erledigt. Es gab nur eine Wasserquelle im Northface-Camp, gleich hinter dem Küchenzelt. Hier floss eiskaltes Quellwasser in eine große Schüssel, in der das schmutziger Geschirr von gestern Abend ruhte. Ich hab’s mit einer Fuhre Wasser ins Gesicht und Zähneputzen genug sein lassen.
Nach einem guten Frühstück und einem Blick auf die sonnenbeschienenen Gipfel ringsum brach ich auf. Die Straße kam mir heute noch schlimmer vor als auf der Hinfahrt. Immer wieder musste ich Strecken passieren, die mit kindskopfgroßen Kieseln bedeckt waren. Als ich wieder ein solches Schädelfeld erreichte und mir gerade eine Spur hindurch suchte, gab es plötzlich einen Knall und ich stürzte zu Boden. Die linke Gepäckbox war abgerissen und lag etwa fünf Meter weiter hinten. Beim Versuch, den Steinen auf der Straße auszuweichen, hatte ich eine Felsennase übersehen, die ein Stück in die Fahrbahn ragte, und an der bin ich hängen geblieben.
Provisorisch befestigte ich die Box mit einem Spanngurt und setzte vorsichtig die Fahrt fort. Doch dann wartete die nächste Überraschung auf mich. Plötzlich fing der Motor an zu stottern. Ich wusste sofort, was los war. Am Morgen, als ich die Benzinhähne öffnete, fiel mir auf, dass der linke gar nicht geschlossen war. Das war ungewöhnlich, denn wenn ich die Benzinhähne schließe, dann beide. Ob mir jemand Benzin geklaut hat? Nein, den Gedanken wollte ich nicht zu Ende denken. Die Typen vom Camp waren so nett, die würden das nie tun.
Haben sie aber doch, denn außer ihnen und mir war niemand im Camp. Nun hatte ich ein richtiges Problem vor der Brust. Die nächste Tankstelle in Kaza war so weit weg, dass ich es mit der Reserve nicht schaffen würde. Ich beschloss, erst mal bis Losar zu fahren. Manchmal verkaufen die General Stores auch Benzin in Literflaschen. Diesmal aber nicht. Also Augen zu und durch. Irgendeine Lösung würde sich unterwegs schon finden.
Dass sie schon gleich am Ortseingang auf mich zukam, hat selbst mich, als unverbesserlichen Optimisten, in Erstaunen versetzt. Sie näherte sich in Form eines Mopeds, auf dem Vater und Sohn saßen. Ich gab dem Fahrer ein Zeichen, anzuhalten, schilderte meine Situation und bat um einen Liter Sprit. Er öffnete den Tankdeckel, schüttelte sein Bike hin und her, lauschte auf das Geräusch, das aus dem Tank drang und sagte, ok, possible und wenig später hatte ich einen Liter Sprit mehr im Tank. Jetzt war mir klar, dass ich unterwegs garantiert noch ein paar Liter auf diese Weise ergattern könnte. Und das sollte nicht lange auf sich warten lassen.
In einem winzigen Dorf erschreckte mich plötzlich ein ungeheuerliches Knattern hinter mir. Der Blick in den Rückspiegel zeigte mir einen Biker in voller Montur auf einer Maschine, die stark an eine Enduro erinnerte. Da es so etwas in Indien nicht gibt, rechnete ich mit einem Touristen, der mit defektem Auspuff unterwegs war. Aber weit gefehlt. Es war tatsächlich ein junger Inder auf einer 650er BMW mit ausgeräumter Schalltüte. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts hatte BMW versucht, dieses Bike auf dem indischen Markt unterzubringen. Das Projekt war aber an dem für indische Verhältnisse unerschwinglich hohen Preis gescheitert. Joy, so hieß der Knabe, hatte das Bike bei einem Händler irgendwo auf einem Hinterhof gefunden, für umgerechnet 6.500 € erstanden, wieder in Schuss gebracht und macht nun den Himalaja damit unsicher. Er war sofort bereit, mir mit zwei Litern Sprit auszuhelfen. Damit hatte ich genug, um bis nach Kaza zur Tankstelle zu kommen.
Mit diesem unerwarteten Crescendo endete meine Spiti-Reise und wenige Tage später war ich zurück in Shimla, wo der Monsun noch immer sein feuchtes Unwesen trieb.
Organisierte Reisen:
Der Fernreise-Spezialist Wheel of India bietet geführte Motorradreisen in Indien an.
Gefahren wird auf Royal Enfield Bikes, alle Infos und Termine gibts unter www.wheelofindia.de.
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