aus Kradblatt 7/19, von Marcus Lacroix

Nervt so eine Airbag-Weste eigentlich im Alltag?

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Als vor Jahren die ersten Airbag-Systeme auf den Markt kamen, wurde noch fleißig drüber gespöttelt. Allerdings war es ja bei elektronischen Fahrhilfen wie ABS und Traktionskontrolle das Gleiche und vermutlich haben unsere (Ur-)Großväter auch über die ersten Sturzhelme gelacht – braucht doch keiner, einfach nicht hinfallen und gut ist. Leider klappt das nicht immer und aus eigener Erfahrung kann ich sagen: jeder Knochenbruch ist auf längere Sicht betrachtet einer zu viel. Bleibt also, das Risiko bei einem der besten Hobbys der Welt – dem Motorradfahren – möglichst zu minimieren.

Reißleine - Helite Turtle 2.0 Airbag Weste Ohne zumindest halbwegs angemessene Schutzkleidung sind wohl nur die wenigsten unserer Leser unterwegs. Kommt das Gespräch allerdings auf Airbag-Systeme, ist das manch einem dann schon wieder zu viel. Zu viel Geld, zu viel Getüdel und überhaupt – ans Stürzen denkt natürlich keiner gerne …

Dabei ist der Mehraufwand für mehr Sicherheit wirklich gering. Den Airbag als Weste zieht man einfach drüber, den in die Kleidung integrierten merkt man beim Anziehen gar nicht. Bleibt noch bei autarken Systemen das gelegentliche Laden des Akkus der Auslöseelektronik und bei mechanisch ausgelösten Systemen das An- und Abstöpseln an die Reißleine.

Eine Weste mit solch einem mechanischen Auslöser bekamen wir im Frühjahr von der französischen Firma Helite zum Ausprobieren zur Verfügung gestellt: die Helite Turtle 2. Was mich dabei am meisten interessierte: Nervt die Handhabung der Reißleine im Alltag oder nicht?

Rückenprotektor - Helite Turtle 2.0 Airbag WesteDie Franzosen entwickeln seit 2002 ihre Airbag-Systeme unter dem Motto „so technisch wie nötig, so einfach wie möglich“. Auf Messen und bei Händler-Veranstaltungen haben sicher schon viele von euch das Helite-System in Aktion gesehen und evtl. sogar ausprobiert. Spätestens dann dürfte klar sein, dass so manche Verletzung mit einem Airbag vermieden werden könnte. Eine Vollkasko gegen Knochenbrüche ist ein Airbag aber natürlich auch nicht!

Das Helite-Sortiment umfasst verschiedene Westen für Tourer und Racer, beginnend bei 449 Euro UVP sowie Leder- und Textil-Jacken mit integriertem Airbag ab 689 Euro. 

Die Westen sind vor allem für Motorradfahrer interessant, die – wie ich – je nach Motorrad, Style und Einsatzzweck unterschiedliche Klamotten tragen oder einfach ein paar Euro sparen möchten. Die Turtle (engl. = Schildkröte) Weste hat gegenüber der „Airnest“ den Vorteil, dass sie über einen großen, CE-geprüften SAS-TEC-Rückenprotektor verfügt. Zusätzliche Rückenprotektoren zum Umschnallen oder in der Bekleidung sind daher nicht notwendig, die Aufprallenergie wird „sanft“ verteilt. Die Weste „GP-AIR 2.0“ eignet sich für Rennkombis mit Höcker.

Verstellbare Riemen - Helite Turtle 2.0 Airbag WesteAlle Helite-Systeme werden über eine Reißleine ausgelöst, die fest mit dem Motorrad verbunden wird. Bei einem Abflug löst die Leine einen Schlagbolzen aus, der in eine CO2-Kartusche hämmert und aus der das Gas schlagartig in den Airbag entweicht und ihn so aufbläst. Das Ganze dauert 80–100 Millisekunden, was auf den ersten Blick wirklich schnell erscheint. Hier kommen wir allerdings zu einer Einschränkung im Vergleich zu den teureren autarken sensorgestützten Systemen, z.B. von Dainese: Zur eigentlichen Aufblaszeit addiert sich die Zeit bis zur Auslösung. Hier muss man für sich selbst einen Kompromiss finden, da man die Länge der Reißleine fest einstellt. Je kürzer die Reißleine, je weniger Bewegungsraum hat man auf dem Motorrad aber desto schneller löst der Airbag aus. An meinen beiden Bikes ist die Leine, die auch einzeln erhältlich ist, damit man sich den Umbau zwischen mehreren Maschinen spart, so eingestellt, dass ich mich auch mal aufrichten kann. Bei einem seitlichen Einschlag z.B. in einen PKW, hilft die Weste beim Erstaufprall so natürlich gar nicht, denn bis sie auslöst beiße ich auch bei nur 50 km/h schon in die Dachkante. Erst beim zweiten Aufprall auf die Straße hilft dann der Airbag. Da meine bisherigen Stürze aber alle einen Freiflug beinhalteten, kann ich mit dem Kompromiss gut leben. Es versteht sich sicher von selbst, dass man die Reißleine in Sitznähe, z.B. am Rahmen oder der Tankhalterung montiert und nicht am Lenker (auch wenn das einfacher wäre). Man fliegt i.d.R. schließlich nach vorne ab …

Länge der Reißleine individuell einstellbar - Helite Turtle 2.0 Airbag WesteNun endet ja nicht jeder Sturz in einer Katastrophe und hier kommt ein Pluspunkt des Helite-Systems zum Tragen: Wenn der Airbag äußerlich nicht beschädigt wurde, kann er durch den Austausch der CO2-Kartusche (22 Euro, ab 2XL da mehr Inhalt 26 Euro) direkt wieder startklar gemacht werden. Gerade bei Urlaubsreisen eine gute Sache. 

Was mich persönlich überraschte ist, wie schnell man sich an das Tragen der Weste und die Stöpselei gewöhnt. Wie das An- und Abschnallen im Auto wird es in kurzer Zeit zur Selbstverständlichkeit. Das „Abschnallen“ habe ich zwar schon ein paarmal vergessen, das ist aber kein Problem. Zum Auslösen wird eine Zugkraft von 30 Kilogramm benötigt, das ist schon ein recht kräftiger Ruck. Wendet man sich vom Motorrad ab, erinnert einen ein leichter Zug an die Reißleine.

Ersatzpatrone - Helite Turtle 2.0 Airbag WesteDer Tragekomfort der Weste ist hoch, nichts scheuert oder stört. Das Gewicht von 1,63 kg (Gr. M) spürt man im Alltag nicht. Die Weste ist über Klettbänder justierbar und liegt bewusst nicht eng an sondern hat ein ca. faustbreites Spiel, damit der Airbag sich nach innen aufblasen kann.

Praktisch ist die kleine Schlüsseltasche über der linken Brust, gerade wenn man mit einem Keyless-Ride System unterwegs ist.

Bedenken hatte ich, als wir bei über 30 Grad Celsius in Mecklenburg Vorpommern unterwegs waren, die Weste verdeckt schließlich die Brustbelüftung meiner Textiljacke. Mit der Einschränkung kann man aber ganz gut leben. Ich fuhr mit leicht geöffnetem Frontreißverschluss und der Gewissheit, dass die Weste bei einem Abflug die Jacke am Körper hält. Sicherheit ist immer ein Kompromiss.

Kritikpunkte gibt es nur wenige. So wäre es schön, wenn man die Auslöse-Schnalle an der Weste in einer kleinen Tasche verstecken könnte, wenn man am Bikertreff oder sonst wo unterwegs ist. Witze à la „Wenn ich daran ziehe, bläst du dich dann auf?“ sind nach dem zehnten Mal nämlich echt öde. Zur Abhilfe klipse ich den Reißleinen-Clip am Treff bisweilen in die untere Verschlussschnalle, dann fällt der Auslöser nicht so auf. Bei eisigen Temperaturen und ausgekühlten Fingern lässt sich die Schnalle der Reißleine außerdem nur recht schwer zusammendrücken. Wer damit Probleme hat, tauscht das Kunststoffteil am besten gegen einen Karabiner aus (Gruß an Bianca und danke für den Hinweis!).

Schlagbolzengehäuse - Helite Turtle 2.0 Airbag WesteStatt in freundlichem Schwarz mit Reflexstreifen gibt es die Airbag-Westen gegen Aufpreis auch in „Hi-Vis“ (engl. highly visible = sehr gut sichtbar) – sprich in Warnwesten-Neongelb für mehr passive Sicherheit. Die Airnest ist außerdem in verschiedenen bunten Farben verfügbar.

Wenn man sich so überlegt, für was für einen überflüssigen Spielkram man beim Motorradfahren so seine Kohle ausgibt, ist ein Airbag sicher nicht die schlechteste Investition, denn wenn schon die Profis auf der Rennstrecke Airbags tragen, macht es auf der Landstraße mit ihren vielen Unwägbarkeiten noch viel mehr Sinn. Und die dummen Sprüche werden sich, wie beim ABS, auch mit der Zeit erübrigen …

Schaut euch die Airbag-Systeme am besten live bei eurem Händler an und lasst sie euch erklären und vorführen. Was die Alltagstauglichkeit angeht, braucht ihr euch jedenfalls keine Gedanken zu machen, von mir gibt’s dafür beide Daumen hoch. 

Alle Infos zu Helite sowie ein Händlerverzeichnis findet man online unter www.helite.de. Helite stellt übrigens nicht nur Airbagsysteme für Motorradfahrer her. Auch im Reitsport ist die Firma aktiv und für sturzgefährdete Senioren gibt es spezielle Hüftprotektor-Airbags. In Kürze sollen außerdem unter dem Namen „B’Safe“ sensoraktivierte Airbags für Radfahrer verfügbar sein. Das Thema bleibt auch in Zukunft interessant …