aus bma 01/10

von Konstantin Winkler

Harley-Davidson C32Jeder Motorradfahrer erinnert sich an seinen ersten Kontakt mit einer Harley-Davidson. An das erste Mal, wenn man eine sieht, hört, und erst recht an das erste Mal, wenn man sie fährt. Ein unvergessliches Erlebnis. Harleys sehen nicht nur anders aus als »normale« Motorräder, sie haben einen anderen Sound und fahren sich auch anders. Ihr ganz besonderer Reiz bringt Jungs zum Träumen und Männer zum Sparen.

Wer von einer Harley spricht, meint meist die großen V2-Maschinen. Nur wenige wissen, dass in Milwaukee auch Einzylindermodelle gebaut wurden. Selbst die allererste Harley – die legendäre »Silent Grey Fellow« – hatte »nur« einen Zylinder. Aus Angst, das Marktsegment an den Hauptkonkurrenten Indian zu verlieren und aufgrund der sträflichen Vernachlässigung in den vergangenen Jahren – von 1918 bis 1926 wurden ausschließlich die großen Twins gebaut – entstanden wieder Eintöpfe mit 350 und 500 ccm. Ab 1929 baute Harley das seitengesteuerte C-Modell. Am »Schwarzen Freitag«, dem 25. September des gleichen Jahres, brachen die New Yorker Börsenkurse zusammen und zogen zuerst die US-Wirtschaft, später die ganze Welt in ihren Sog. Die »Große Depression« – die Weltwirtschaftskrise hatte begonnen. Harley-Davidson ließ das zuerst unbeeindruckt. Eine breitgefächerte Modellpalette – vom 350er Single bis zum 1.200er Twin – sorgte in jenem Jahr für knapp 26.000 produzierte Motorräder. 1930 wurden rund 18.000 Harleys gebaut, ein Jahr später nur noch 10.407 Stück. Ganz schlimm wurde es 1933. Von 5.690 gebauten Harleys ließen sich gerade noch 3.703 verkaufen. Damals wie heute eine Rarität: das seitengesteuerte »Model C 32«. Nur 213 Exemplare entstanden 1932 von dem auch »Thirty-fifty« genannten Bike. Der auf 30,50 aufgerundete Hubraum in Kubikinch gaben der Halbliter-Harley (genau 493,28 ccm) diesen Spitznamen.

 

Harley-Davidson C32

Vor dem Erlebnis Harley-Fahren steht die Startprozedur: Benzinhahn öffnen und den Choke-Hebel auf die geschlossene Position drehen. Während andere Hersteller noch kleine Hebel für Gas und Zündzeitpunkt am Lenker hatten, verwendete man in Milwaukee schon Drehgriffe. Um den Zylinder anzureichern, wird bei ausgeschalteter Zündung der Kickstarter zweimal betätigt. Danach wird der Choke-Hebel auf die halbe Position gestellt und der folgende beherzte Kick bei eingeschalteter Zündung kann den Motor nun theoretisch zum Leben erwecken. Aber eben nur theoretisch. In der Praxis bedeutet das für den Harley-Neuling Schweiß und eventuell sogar eine dicke Wade, wenn die Kurbelwelle bei zuviel Frühzündung versucht, andersherum zu laufen. Die erhebenden Sekunden nach dem Start sollte man genießen. Denn das, was dann kommt, ist Motorradfahren am Rande der persönlichen Erlebnisfähigkeit. Beim Beschleunigen rüttelt der Motor wie ein Seismograph bei der Verschiebung des Sankt-Andreas-Grabens. Und keine Ausgleichswelle dämpft das Beben.

Harley-Davidson C32Viele Konstrukteure strebten hohe Fahrleistungen an, ohne sich darum zu kümmern, ob die einzelnen Bauteile den auf sie wirkenden Kräften und Vibrationen überhaupt gewachsen waren. So waren dann auch Brüche und andere Schäden an allen möglichen Teilen an der Tagesordnung. Nicht bei Harley-Davidson. Alles ist robust gebaut und üppig dimensioniert. Ein hochvergüteter, nahtloser Stahlrohr-Rahmen, eine Springer-Gabel und die riesigen Ballonreifen der Größe 4.50-18 sorgten schon damals für höchste Fahrbequemlichkeit. Der Fahrer sitzt auf einem großen und bequemen – natürlich mit Leder bezogenen – Mesinger Pfannensattel. Selbiger ruht auf dem patentierten Harley-Davidson Feder-Sitzpfosten, dessen Spiralfeder durch das ganze hintere Rahmenrohr bis zu dessen unterem Ende geht. Die Federung lässt sich sogar dem Gewicht des Fahrers entsprechend verstellen. Die Füße ruhen – wie sollte es auch anders sein – auf Trittbrettern.

Harley-Davidson C32Stilecht geht es auch unter dem 14,5 Liter Benzin und 4 Liter Öl fassenden tropfenförmigen Benzindoppeltank zu. Hier arbeitet der seitengesteuerte Einzylinder, dessen Ausdünstungen wie ein Hauch der guten, alten Zeit über die Straßen wabern und dessen wenig gedämpftes Auspuffgeräusch wie Musik in den Ohren klingt. Die Motorschmierung ist gaszuggesteuert. Damit wird dem Motor in allen Lebenslagen genug 50er Einbereichsöl zugeführt und macht die Handölpumpe auf dem Tank fast überflüssig. Was zuviel an Öl im Motor ist, dient zur Schmierung des Primärantriebes – Verlustschmierung sei Dank.

Wer so eine alte Harley fahren will, kann zunächst einmal alles vergessen, was er in der Fahrschule gelernt hat. Kupplung ziehen und mit der linken Fußspitze den ersten Gang einlegen? Vergessen wir es! Richtige Männer treten die Kupplung mit dem Fuß und sortieren die Gänge mit der Hand. Die Kraft, die aus dem Drehzahlkeller kommt, ist allgegenwärtig. Einmal im dritten und damit letzten Gang angekommen, reicht dieser für die meisten Lebens- und Straßenlagen aus. Egal ob bei langsamer oder forcierter Fahrt, die C 32 vermittelt ihrem Fahrer ein naturgetreues Bild von der Unvollkommenheit des jeweiligen Straßenbelages, wenn auch nicht so eindringlich wie bei anderen europäischen Motorrädern der Epoche. Als Reisegeschwindigkeit empfiehlt sich der Bereich zwischen 60 und

Harley-Davidson C3275 km/h. Da fühlt sich der wegen seines flachen Zylinderkopfes auch »Flathead« genannte Motor am wohlsten. Ab und an sollte man während der Fahrt einen Blick auf das Amperemeter werfen, das im Bedienpanel am Steuerkopf sitzt. Es wird von einer kleinen geschützten Lampe beleuchtet, die gleichzeitig als von vorne und hinten sichtbares Parklicht dient. Links und rechts vom Amperemeter, das die Ladestärke der elektrischen, kombinierten Zünd-Licht-Anlage anzeigt, sitzen die Schalter für die Zündung und fürs Licht.

1928 führte Harley-Davidson eine nur mit viel Skepsis aufgenommene Neuerung ein, die heute selbstverständlich ist: die Vorderradbremse. Aufgrund vieler Unfälle auf den schlechten und oft rutschigen Straßen hielt man sie für zu gefährlich. Die vordere »Dosendeckelbremse« ist aber mehr Schein als Sein. Etwas beherzter packt da schon die hintere Außenbandbremse zu.

Es ist immer wieder einzigartig, welche Faszination von einer alten Harley ausgeht. Überall, wo man anhält, drehen sich die Passanten nach ihr um. Zusammen mit der Großseriengesellschaft aus Fernost wirkt sie wie ein Holzfäller auf einer Cocktailparty. Eingefleischte Harley-Fahrer sind der festen Überzeugung, dass der liebe Gott am 7. Tage die Harley erschuf. Und Spötter meinen, dass er da wohl nicht seinen besten Tag erwischt hatte. Aber egal, ob man nun Fan oder Gegner dieser Urgewalten aus Milwaukee ist, die mächtigen amerikanischen Triebwerke mit ihrer Schiffsdiesel-Charakteristik vermögen auch eingefleischte Joghurtbecherfahrer zu begeistern. Nicht immer, aber immer öfter.