aus bma 04/07
von Konstantin Winkler
Im Jahre 1909 entstand in Milwaukee die erste Harley-Davidson mit dem bis heute typischen 45-Grad-V-Motor, in dem die beiden Kolben auf einem gemeinsamen Kurbelwellenzapfen auf- und abgehen. Zuerst hatte er 810, später 1.000 Kubikzentimeter Hubraum.
Nach dem Ersten Weltkrieg boomte der zivile Motorradmarkt wie nie zuvor. Eine Erinnerung an den gewonnenen Krieg war die Standardfarbe der Militärmaschinen, das olivgrüne „Army Green”. Die großen Zweizylinder-Modelle entsprachen genau den Anforderungen des amerikanischen Marktes an robuste und leistungsstarke Motorräder.
Ab dem Auslieferungsjahr 1916 wurden alle Modelle nach den Jahreszahlen benannt. Die Typenbezeichnung bedeutet also Baujahr 1921 und Magnet-zündung (F), im Gegensatz zum J-Modell, das mit einer elektrischen Anlage und einer bis heute verwendeten Batteriezündung ausgestattet war. Zur einfacheren Übermittlung bei einer Händlerbestellung über Telex gab es für bestimmte Maschinen Code-Namen. Die 21-F hieß „MOUND” auf deutsch „„Erdwall”. Das Code-Wort stand für „Magneto Ignition, standard motor und 61 cubic-inches (988 ccm)”.
Das Herzstück der Harley ist ein wechselgesteuerter V-Motor, bei dem das kopfgesteuerte Einlaßventil (mit freiliegender Stößelstange) in einem Kipphebelgehäuse direkt über dem seitengesteuerten Auslaßventil sitzt. Der Zylinder ist ein sogenannter Sackzylinder, hat also keinen abnehmbaren Zylinderkopf. Das war ein durchaus gängiges Prinzip im damaligen Motorenbau. Wegen der guten Wärmeleiteigenschaften und Verschleißresistenz wurden die Zylinder aus Gußeisen gefertigt. Kolben und Kurbelgehäuse bestehen aus Aluguß.
Die Zahnradkaskade zum Antrieb von Nocken, Ölpumpe und Zündmagnet war eine aufwendige und fortschrittliche Lösung. Das gewaltige Getriebegehäuse läßt ahnen, wie titanisch die Getriebewellen und Zahnräder sein müssen. Man denkt an Charlie Chaplin im Film „Moderne Zeiten”, wie er ächzend die Gänge einlegt. Zwischen dem Motor und dem von einer Kette angetriebenen separaten Dreigang-Getriebe sitzt eine Mehrscheiben-Trockenkupplung, die das satte Motordrehmoment überträgt.
Seit 1909 befeuern Schebler-Vergaser die alten Harleys. Selbiger, zentral zwischen den Zylindern befindlich, muß vor dem Kaltstart geflutet werden. Penibel genau sollte die Zündung justiert werden, sonst gibt es einen Schlag durch den Vergaser, als wollte er mit dem Sound des Auspuffs konkurrieren. Das würde aber nur ein paar Kurbelwellenumdrehungen gut gehen, denn der Motor hat etwas dagegen, andersherum zu laufen. Also mit dem linken drehbaren Lenkergriff die Zündung auf „spät” stellen und mit dem rechten etwas Gas geben. Statt Dekompressionshebel (nicht vorhanden!) braucht nur noch auf den Kickstarter getreten zu werden. Ein blauer Fleck an der Wade erinnert dann nach dem ersten harten Rückschlag ein paar Wochen lang daran, daß es doch nicht so einfach ist. Der Motor röhrt in der richtigen Tonlage, das Klangvolumen kann man als voll bezeichnen. Ein akustischer Hochgenuß ist der Sound, der hinten rauskommt. Schon das Leerlaufgeräusch läßt ein Loch im Auspuff vermuten. Fast ungedämpft gelangen die Abgase ins Freie. Deshalb spricht man auch von einem Auspuff, und nicht von einem Schalldämpfer! Der Boden zittert und der Hinterradständer gräbt sich wegen der nur kleinen Auflagefläche in den Asphalt.
Hat man auf dem bequemen Ledersattel Platz genommen, heißt es,
mit der linken Hand gefühlvoll den ersten Gang einzulegen, nachdem der linke Fuß die Kupplung betätigt hat. Der lange Schalthebel erinnert an einen alten Omnibus. Zudem zittert er bisweilen wie ein Einkaufswagen auf Pflastersteinen. Eine Schaltkulisse hilft dem Fahrer, die der jeweiligen Situation angemessene Fahrstufe zu wählen: Low, Neutral, Second und High steht da geschrieben.
Von den harmlosen Eckdaten der alten Harley darf man sich nicht täuschen lassen. Eintausend Kubik, 16 Pferdestärken und knapp 150 Kilo Leergewicht hören sich nach gutmütiger Anfängermaschine an. Doch das alte Eisen aus Milwaukee ist nicht einfach zu fahren und erfordert einige Übung und Erfahrung mit Oldtimern. Vollgas immerhin über 100 km/h ist kaum auszuhalten. Die Arme werden taub, und die Füße rütteln von den Trittbrettern. Auch alte Amalganplomben sind gefährdet. Dank des passend gebogenen Lenkers und großen Lenkausschlags läßt sich „MOUND” nicht nur bequem rangieren und wenden, sondern auch fahren. Draufsetzen und sich wohl fühlen lautet die Devise. Der Fahrer wird durch die Sitzposition perfekt ins Bike integriert. Eine Vorderradfederung war schon in den frühen 20er Jahren eine Selbstverständlichkeit. Hier sorgt eine geschobene Kurzschwinge für etwas Komfort. Aber alles, was den Steiß verwöhnt, ist ein highwayerprobter Ledersattel. Und der ist sehr bequem, der historische Sessel. Er befindet sich auf einer gefederten Sattelstütze, die Harley seinerzeit patentiert hatte. Die Füße ruhen auf Trittbrettern. Seit 1914 werden diese verbaut, denn zu dem Zeitpunkt war die Leistung der Motoren groß genug, um auf Pedalunterstützung während der Fahrt verzichten zu können. Recht hochbeinig wirkt das Motorrad. 28 Zoll im Durchmesser messen die schmalen Wulstreifen. Die damaligen Reifengrößen wurden von der Außenseite der Pneus gemessen, die tatsächliche Felgengröße beträgt 22 Zoll.
Eine Batterie hat der Oldie nicht und braucht er auch nicht. Denn der Bosch-Magnetzünder versorgt die beiden Zündkerzen zuverlässig und von einer Batterie unabhängig mit dem notwendigen Funken. Ganz ohne Strom funktionieren die Hupe, ein handbetriebenes Klaxon-Horn und die Beleuchtung. Eine nachfüllbare Gasflasche versorgt die Acetylen-Lampe mit dem notwendigen brennbaren Gas. Und ein kleines Manometer zeigt an, wann der Gasvorrat erschöpft ist, und das Licht ausgeht.
In Milwaukee wußte man immer den Wert eines großen Hubraums zu schätzen. Die wuchtigen V-Twins waren ideal, um einen Beiwagen zu ziehen. Die zeitgenössischen Seitenwagen waren noch vom Aufbau der Kutschen beeinflußt. Mit zwei Blattfedern war das Boot auf dem Rahmen montiert, so daß der Passagier vor den gröbsten Stößen einigermaßen geschützt war. Motorräder mit Beiwagen wurden in den 20er Jahren immer beliebter, zumal man auch die Familie mitnehmen konnte. Als Henry Ford sein T-Modell billiger anbot als ein Motorrad von Harley-Davidson, verkamen die Harley-Gespanne zu Fahrzeugen für eine Minderheit exzentrischer Enthusiasten (wie auch heute noch!).
Für die meisten Motorradfahrer ist „MOUND” nur ein altes Motorrad. Für Oldtimer-Enthusiasten aber, und besonders für Harley-Fahrer, so etwas wie der heilige Gral des Motorradbaus. Im stolzen Victory-V streckt das Bike seine beiden luftgekühlten Zylinder nach oben. Der V-Motor als Highlight damaliger Ingenieurs- und Handwerkskunst kann auch heute noch begeistern. Es geht weniger um Perfektion als um Charakter. Eine großvolumige Harley sollte immer eine gewisse Verwandtschaft zur Dampfmaschine aufweisen und muß sich nach schwerem Kaliber anfühlen. Dabei kann sie sich durchaus ein paar Unvollkommenheiten leisten, Hauptsache, sie passen ins Bild. Wer das versteht, wird auch den Mythos Harley-Davidson verstehen.
Diese und viele andere interessante Oldtimergeschichten findet ihr im neu erschienenen Buch „Faszination Motorrad”, es ist im Buchhandel (ISBN-13: 978-3-921595-43-5) erhältlich.
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