aus Kradblatt 12/21, von Günter Stüsser, www.redaktionsbueroonlinemotor.de

1.600 Kilometer Kurven nach Schweizer Art

Die Schweiz bietet mit ihrer alpenländischen Topografie einen ganz besonderen Reiz für den Motorradfahrer. Vielfältige , abwechslungsreiche Landschaftsformen und die höchsten Alpenpässe versprechen Kurvenspaß, nicht nur in homöopathischen Dosen, sondern bis zum Delirium und auch ich bekenne mich zu diesem Suchtverhalten.

Grand Tour of Switzerland
Die Grand Tour of Switzerland – ein Motorrad-Traum

Der Tourismusverband der Schweiz hat sich vor einigen Jahren aufgemacht, die zahlreichen regionalen landschaftlichen und kulturellen Sehenswürdigkeiten im gesamten Land in nahezu allen Kantonen durch die „Grand Tour of Switzerland“ nicht nur virtuell zu beleben sondern auch erfahrbar zu machen. Auf über 1.600 Kilometern summieren sie die Streckenabschnitte, die virtuell animiert in ganz individueller Anpassung gestartet und unterbrochen werden können.

Meinen Teilabschnitt der Grand Tour of Switzerland starte ich im wunderschönen Graubünden und bewege mich hierbei den gewundenen Straßenabschnitten entlang bis an den Genfer See im Kanton Waadt. 

Dieser Bereich entlang des Alpenhauptkamms wird eingerahmt durch die höchsten Alpengipfel und verspricht Pässe und Kurven, namhafte und auch weniger populäre. 

Bereits bei der Anreise gönne ich mir deutlich über 250 Kilometer feinprofilierteste Kurven auf über 15.000 Höhenmeter. 

Grand Tour of SwitzerlandFrisch aufgetankt im zollfreien Samnauntal geht’s über die einsamere südliche Zufahrt mit ihren zwar relativ kurzen, dafür vollkommen unbeleuchteten Tunneln, bei denen selbst ein Moped im zum Glück relativ seltenen Begegnungsverkehr Platzprobleme bekommt.

Über Scuol, am Schloss Tarasp vorbei und Guarda, welches aus nur etwa 70 Häusern besteht und auf einer sonnigen, felsigen Terrasse auf der Nordseite des Inntals auf einer Höhe von 1.650 Metern liegt, erreiche ich mein Ziel in Zernez im Schweizerischen Nationalpark. Ich bewege mich auf dieser Anfahrt immer zwischen den Silvretta-Gipfeln und den „Engadiner Dolomiten“.

Mein Einstieg hätte nicht besser verlaufen können und klar ist, dass die ersten Eindrücke und die Flüssigkeitsverluste dank über 30 Grad Außentemperatur im gepflegten Biergarten neben dem plätschernden Brunnen des Traditionshauses Baer&Post ausgeglichen werden.

Am nächsten Morgen fahren wir der bereits aufgegangenen Sonne entgegen, dem schweizerischen Nationalpark folgend über den 2149 Meter hohen Ofenpass in Richtung Müstair. 

In Santa Maria, der südlichsten Gemeinde des Val Müstair entscheiden wir unserem Kurvenherz folgend für die Weiterfahrt über den Umbrailpass mit kurzem Abstecher auf die Passhöhe des Stelvio. 

Auffahrt zum St. Bernadino
Auffahrt zum St. Bernadino

Nach einer Tankpause in Livigno über den Berninapass (2.328 Meter) verlässt uns die Schönwetterfront und fordert mit Regen und Hagelkörnern, auf den höher gelegeneren Streckenabschnitten, ihren Tribut und unterstreicht damit die Bedeutung alpengerechter Motorradkleidung.

Wir fahren durch St. Moritz, berühmt nicht nur bei den „Schönen und Reichen“, ist dieses Dorf seit nahezu 160 Jahren der Inbegriff für den alpinen Wintertourismus und durch die eingerahmte Berglage besonders sonnenverwöhnt.

Anfahrt zum Nufenenpass
Anfahrt zum Nufenenpass

In Thusis, unserem heutigen Ziel biegen wir auf den Glaspass und kehren zu Fuße des Piz Beverin im gleichnamigen Berggasthof (1.880 Meter) von Sabine und Willi ein. Gerne hätten wir ein erstes „Stiefelbier“ auf der einladenden Sonnenterrasse zu uns genommen, stattdessen gab’s zumindest erst mal ein wärmendes Getränk nach der heißen Dusche. 

Der morgendliche Blick aus dem Fenster unseres gemütlichen Zimmers verbreitet gedämpfte Zuversicht in Tschappina, aber nach dem Frühstück keimt die Hoffnung in südlicher Richtung eine durchlässigere Wolkendecke und aufkeimende Sonnenstrahlen zu finden.

Wir durchfahren die, aufgrund ihrer steil aufragenden Felswände eindrucksvolle, Viamala Schlucht zwischen Thusis und Zilis. Diese Schlucht ist ein bereits aus dem Mittelalter bekannter Weg (aus dem römischen übersetzt: „schlechter Weg“) in Richtung Süden, der auch heute eine der spektakulärsten Fahrten ermöglicht. Wer die Zeit hat sollte unbedingt den Abstieg (über 350 Stufen) auf die Talsohle anstiefeln.

Grand Tour of Switzerland
Auf der Abfahrt in den südlichsten und italienischsten Teil der Schweiz klettern die Temperaturen wieder auf Ende 20 Grad und wir genießen zu Füßen der historischen Burgen in Bellinzona unser Eis.

Auf unserer Weiterfahrt erreichen wir mit der 2.066 Meter hohen Passhöhe des San Bernadino nicht nur die europäische Wassergrenze, nein auch die Sprachgrenze deutsch/italienisch und für uns in diesem Moment auch nicht ganz unwichtig, die Wettergrenze.

Auf der Abfahrt in den südlichsten und italienischsten Teil der Schweiz klettern die Temperaturen wieder auf Ende 20° C und wir genießen zu Füßen der historischen Burgen in Bellinzona unser Eis.

Die drei mittelalterlichen Burgen Castelgrande, Castello Montebello und der Burg Sasso boten in früheren Jahren einerseits Schutz und andererseits auch Abschreckung zugleich, lagen diese doch strategisch eingangs zweier Täler. Heute ziert sich Bellinzona mit diesen besterhaltenen mittelalterlichen Burgen der Schweiz, die zum UNESCO Weltkulturerben gehören.

Zwei kurze Abstecher weiter, der italienischen Grenze näherkommend, haben die beiden gepflegten und sehenswerten Promenaden von Lugano/Luganer See bzw. Locarno am Lago Maggiore verdient, bevor es für uns über den 2.478 Meter hohen Nufenenpass geht. Der Nufenen ist die höchste Passstraße, die vollkommen innerhalb der Schweizer Grenzen liegt und verbindet die Kantone Tessin und Wallis. 

Unser heutiges Etappenziel ist Les Alpes in Fiesch, was wir nach über 20.000 gefahrenen Höhenmetern erreichen. 

Der ViewPoint am großen Aletsch-Gletscher
Der ViewPoint am großen Aletsch-Gletscher

Nachdem wir am Vortag unseren tiefsten Punkt mit 193 Metern über dem Meeresspiegel am Ufer des Lago Maggiore erreicht haben, gönnen wir uns heute mit der Luftseilbahn Eggishorn den höchsten Punkt unserer Reise auf die 2.986 Meter liegende Bergstation. Hier am View­point der Grand Tour of Switzerland haben wir einen Blick auf den mit 800 Metern Dicke größten Alpengletscher, den Aletschgletscher.

Anschließend fahren wir von Fiesch der Rhône folgend auf ihrem Weg zum Genfer See bis Visp, wo wir in Richtung Zermatt abbiegen. Zermatt ist seit 90 Jahren quasi autofrei und so lassen wir uns ab Täsch mit der Bahn shutteln.

Auf der Rückfahrt in Richtung Rhône­tal achten wir in Stalden darauf, den Abzweig für die anstehenden 20 Kehren hinauf auf über 2.000 Meter nicht zu verpassen, um nach der Abfahrt in Leuk erneut in die Höhe in Richtung Leukerbad (bekannt für zahlreiche Thermalquellen) abzubiegen.
Leukerbad ist bereits aus der Römerzeit für seine wohltuenden Thermalquellen bekannt. Heute fließen täglich 3,9 Mio. Liter 51° C heißen Wassers aus 65 Thermalquellen.

Eine von zwei Zollbrücken in Saint-Maurice
Eine von zwei Zollbrücken in Saint-Maurice

Im Verlaufe unserer Weiterfahrt durch das Rhônetal eröffnen sich zunehmend landwirtschaftliche Anbaugebiete für Obst aber auch Weintrauben, die vielfach auf terrassierten Hanglagen bewirtschaftet werden. Die Weiterfahrt zu unserem Etappenziel in Saint-Maurice ist quasi wie ein Ausrollen im Rhônetal. Hier überqueren wir auch den Röstigraben.

Schloss Tarasp, Foto: Schweiz Tourismus
Schloss Tarasp, Foto: Schweiz Tourismus

Der Röstigraben, zurückzuführen auf das altdeutsche Rezept mit geriebenen Kartoffeln, ist die bildlich besprochene Sprachgrenze zwischen dem östlich gelegenen deutschsprachigem und dem westlich gelegen französisch sprechenden Teil der Schweiz. 

Saint-Maurice ist eine kleine Gemeinde mit weniger als 5.000 Einwohnern, aber mit langer historischer Bedeutung. Zum einen liegt dieser Ort strategisch günstig im Eingang des Rhônetals und war von daher schon zu Römerzeiten interessant. Nicht nur zahlreiche Ordensgemeinschaften waren und sind in Saint-Maurice ansässig, nein, Saint Maurice liegt auch auf der alten Pilgerroute von Canterbury nach Rom, der Via
Francigena.

Als Reisende in besonderer Mission nutzten wir zur Logis die Hôtellerie Franciscaine, diesem klösterlichen Gemäuer, das nicht nur Pilgern sondern auch der Allgemeinheit zur Übernachtung zur Verfügung steht. 

Eine Stippvisite in der Abtei und erst Recht ein Besuch der oberhalb Saint-Maurice liegenden „Feengrotte“ mit sehr seltenem Höhlenwasserfall ist allenthalben einen Besuch wert.

Mit dem Verlassen der Stadt Saint-Maurice überqueren wir auch die Kantonsgrenze vom Wallis ins Waadt. 

Ausklang unserer persönlichen Grand Tour of Switzerland ist die Stadt Lausanne am Nordufer des Genfer Sees.

ViewPoint Pay-d`Enhaut
Kleiner kurvenreicher Abstecher über Gstaad im Berner Oberland und die Tallandschaft Pay-d`Enhaut

Als Alternative für die wunderschöne Anfahrt am Ostufer des Genfer Sees bietet sich ein kleiner kurvenreicher Abstecher über Gstaad im Berner Oberland und die Tallandschaft Pays-d’Enhaut an. In sanften Kurven steigt die Landschaft wieder in den 4-stelligen Höhenbereich an. Neidvoll fällt unser Blick auf hölzerne Chalets, eines schöner als das andere, in grandioser Landschaft.

Der Genfer See ist der größte und wasserreichste Binnensee Mitteleuropas. Die Rhône als östlicher Zufluss, verlässt den See an dessen Südzipfel um später im Mittelmeer zu enden. Das Nordufer zwischen Lausanne und Montreux bezeichnet man auch als Côte d’Azur der Schweiz und das milde Klima vereint die Pflanzenpracht mit einem Blick auf die Savoyer Alpen im Süden. Lausanne liegt am Hang, so dass es die hohe Wahrscheinlichkeit gibt ein Hotelzimmer mit Seeblick zu buchen, was uns im Best Western plus auch perfekt gelungen ist.

Verständlicherweise wurde dieser Abschlussabend mit Verköstigung regionaler Traubenprodukte aufgrund der zahlreichen emotionalen Eindrücke und Erlebnisse etwas länger, was angesichts des milden Klimas im Hotelgarten einleuchtend ist.

Der Filisur-Bernina Express, Foto: Schweiz Tourismus
Der Filisur-Bernina Express, Foto: Schweiz Tourismus

+++ Reise-Infos +++

Sprache/Verständigung: Die Vielfältigkeit der Schweiz spiegelt sich auch in der gebräuchlichen Sprache wieder. Im östlichen Teil der Schweiz z.B. Graubünden ist die Amtssprache Deutsch, im südlichen Teil z.B. Tessin wird überwiegend italienisch gesprochen und im westlichen Teil jenseits des „Röstigrabens“ also Teile des Wallis und im Kanton Waadt ist die Amtssprache Französisch. Die offene und lebensbejahende Art lässt Verständigungsdefizite nicht ansatzweise aufkommen.

Klima/Reisezeit: Das Zeitfenster für eine Motorradreise in der Schweiz sind die Sommermonate. Ab Anfang Juni bis Ende September sollten die meisten Pässe geräumt bzw. schneefrei sein. Tiefer liegende Gegenden z. B. das Tessin, welches stärker unter mediterranem Einfluss liegt, sind natürlich in einem größeren Zeitfenster mit dem Töff zu bereisen.

An- und Abreise: Der Autor als Rheinländer aus der Region Köln parkt Pkw und Trailer im Süddeutschen an einem Punkt, der sowohl vom Start als auch Zielpunkt der Reise in einer Tagesetappe zu erreichen ist.

Geld/Währung: Da üblicherweise größere Rechnungsbeträge in „Plastik/Kreditkarte“ bezahlt werden entfällt jegliches Umrechnen zwischen dem EUR und dem CHF. Vielerorts, aber nicht überall, wird sogar das Wechselgeld entsprechend in Euro gezahlt. Falls nicht obligatorisch sollte beim Handyempfang darauf geachtet werden, dass man sich außerhalb der EU aufhält.

Unterkunft: Ganz bewusst habe ich mich für ganz unterschiedliche Unterkünfte entschieden. Neben dem Kloster in Saint Maurice, dem Alm/Berggasthof am Piz Severin gab es auch die beiden Inhaber geführten Häuser in Zernez und Tiesch und die internationale Kette in Lausanne, die damit die große Bandbreite der vorhandenen Möglichkeiten auf der Tour wiederspiegeln.

Infos zu Übernachtungsmöglichkeiten gibt es insbesondere auf: www.grandtour.myswitzerland.com; www.graubuenden.ch/de; www.ticino.ch/de/; www.valais.ch/de/ und www.region-du-leman.ch/de/.

Navigation: Die Grand Tour of Switzerland verzichtet nicht gänzlich auf Autobahnen und Schnellstraßen. Aus diesem Grund habe ich meine Streckenplanung mit kurviger.de vorgenommen und als gpx.Datei mit LocusMapPro für mein CiPad vorbereitet. Alternativ stand mir noch GoogleMaps zur Verfügung. Auf Autobahnen und mautpflichtige Strecken habe ich verzichtet.

HighLights: Unter den vielen landschaftlichen und kulturellen Höhepunkten ist es schwer dieses eine HighLight herauszuheben. Da der Aletschgletscher aber endlich ist und nach der aktuellen Klimaprognose zunehmend schmilzt, sollte dieser ViewPoint der Grand Tour of Switzerland ein unbedingtes Muss auf der Reise darstellen.

Schloss Tarasp: Das Schloss Tarasp über dem gleichnamigen Ort stammt aus dem 11. Jahrhundert und ist das imposanteste Schloss im Unterengadin/Graubünden. Info: www.tarasp.ch

Schweizerischer Nationalpark: Der Schweizerische Nationalpark (Gründung 1914), mit einer Fläche von 170 Quadratkilometern das größte Naturschutzgebiet der Schweiz, liegt im Engadin/Münstertal und umfasst alpines Gelände sowie Höhenlagen von 1400 bis 3200 m ü. M. Das Nationalparkzentrum informiert in Zernez unter www.nationalpark.ch

Tages- und Gesamtkilometer: Ohne individueller An- und Abreise kamen mit zu empfehlender Abstecher zwischen Graubünden und Genfer See innerhalb der 4 Tage 958 km zusammen.

Es versteht sich von selbst, dass eine voll beladene Reisemaschine mit zwei Personen hinsichtlich Bereifung und Bremsen allerhöchste Voraussetzungen bei der Beanspruchung einer solchen Reise erfüllen sollte.

Für die einzelnen Etappen der Grand Tour of Switzerland können hier die GPX-Daten geladen werden: