aus bma 11/05

von Klaus Herder

Ducati Multistrada 620Nein, keine Sorge – ich werde meine Lieblingsleser nicht wieder mit Anekdoten aus meiner Motorradjugend langweilen. Diesmal ausnahmsweise nicht. Nur soviel: Ich kann mich noch ziemlich gut an die Zeit erinnern, als die Yamaha SR 500 mein Traummotorrad war. Was für ein gewaltiger Hubraum! Beim Ankicken angeblich lebensgefährlich und nur etwas für echte Männer. Kurze Zeit später langte das Geld immerhin für eine gut abgehangene BMW R 50/5 aus fünfter Hand, natürlich offen mit brutalen 32 PS. Und schon wieder war da dieser immense Hubraum, der halbe Liter, gigantisch für jemanden, der seine Motorrad-Sozialisation auf einer MZ TS 150 erlebte.
Und heute? Yamahas kleinstes Straßenmotorrad hat 600 Kubik, bei BMW sind es mindestens 650; bei Honda, Kawasaki und Suzuki gibt’s noch den klassischen halben Liter – natürlich alles Einstiegsmodelle, doch darunter geht nichts, 125er mal ausgenommen. Von den Supersport-600ern abgesehen, gelten Straßenmotorräder unter 750 ccm heutzutage bestenfalls als tauglich für Einsteiger- und Wiedereinsteiger. Wo sind wir nur hingekommen? Aber ich will nicht jammern, ich werde nur bei dem Motorrad, das ich Ihnen hier vorstellen möchte, die Begriffe „klein”, „Baby-Duc”, „Einstieg” und „Frauen” so weit wie irgend möglich vermeiden, denn dieses Motorrad ist eine Maschine, die ich im öffentlichen Straßenverkehr nicht an ihre Grenzen bewegen kann. Und ich bin kein Anfänger oder Wiedereinsteiger. Ich fahre seit 25 Jahren Motorrad, davon 15 Jahre beruflich. Und ich finde, daß dieses Motorrad ein toller Anlaß ist, um mal wieder ein paar Relationen gerade zu rücken.
Doch zuvor gilt es, dieses Motorrad ein wenig zu verrücken, also zu rangieren. Das ist eine Tätigkeit, bei der man durchaus einen ersten Eindruck davon bekommen kann, ob’s anschließend zäh und anstrengend oder leicht und lustig wird. Das Rangieren der Ducati Multistrada 620 macht Spaß, denn der relativ hoch montierte Lenker läßt sich gut fassen, der Lenkeinschlag stimmt, die Taille ist schmal, und 207 Kilogramm Kampfgewicht sind noch locker zu schieben. Der sehr angenehme Erst-eindruck wird bei der Sitzprobe noch verstärkt: Der breite Rohrlenker liegt immer noch goldrichtig, die schmal beginnende und fix sehr viel breiter werdende, leicht ausgeformte Bank paßt wie angegossen. Die Alu-Fußrasten sitzen recht tief und nicht zu weit hinten, Cockpit und Spiegel bieten beste Auf- und Rückblicke. Die Sitzposition ist aufrecht und verhältnismäßig nah am Lenker, man sitzt mehr in als auf der Maschine und fühlt sich auf Anhieb ziemlich wohl.

 

Die Ducati-Konstrukteure hatten es in diesem Fall ja auch etwas leichter, denn es gab mit der Ende 2002 präsentierten Multistrada 1000 bereits eine Vorlage. Von ebendieser übernahm die 620er den Gitterrohrrahmen, den schmucken Doppelauspuff, die zweigeteilte Verkleidung mit dem lenkerfest montierten Oberteil sowie natürlich das grundsätzliche Layout. 20 Millimeter geringere Federwege (vorn 145, hinten 121 mm) führten zu 835 und damit 20 Millimetern weniger Sitzhöhe. Böse Zungen würden die 620er alsDucati Multistrada 620 Sparversion bezeichnen, wohlgesonnene Betrachter sehen in der Kunst des Weglassens echte Vorteile. Wer braucht wirklich einen Bordcomputer? Ist ein 160er-Hinterradreifen grundsätzlich schlechter als ein 180er? Müssen es bei einem Verbrauch von rund 6 Litern unbedingt 20 Liter Tankvolumen sein, oder tun es vielleicht auch leichtere 15? Natürlich sieht die Einarm-Aluschwinge der 1000er toll aus, praktischer ist im konkreten Fall aber die Zweiarmschwinge aus Stahl, die an der 620er montiert ist. An der sitzen nämlich Exzenter, mit denen das Kettespannen zum Kinderspiel wird. Handelsübliche Motorradheber passen übrigens auch viel besser an eine Zweiarmschwinge. Natürlich sind unzählige Einstellmöglichkeiten der Federelemente für Spielernaturen eine feine Sache. Wenn die Grundabstimmung aber gelungen ist, braucht sie bei einem Motorrad wie der Multi- strada eigentlich niemand. Die Marzocchi-Upside-down-Gabel der 620er läßt sich gar nicht, und das Sachs-Federbein nur in Federbasis und Zugstufendämpfung verstellen. Na und? Weniger ist hier eindeutig mehr. Weniger Masse sowieso, denn die 620er bringt satte 13 Kilo weniger auf die Waage als die 1000er. Man möge sich nur vergegenwärtigen, welcher Hype um gesparte drei Kilo bei Supersportlern gemacht wird.
Okay, das Abspecken ging nicht ganz ohne Schmerzen über die Bühne. So blieben zum Beispiel die einstellbaren Handhebel auf der Strecke, was umso ärgerlicher ist, da die 620er-Hebel relativ weit abstehen und zumindest die Brembo-Stopper der Vorderradbremse nach beherztem Zugriff verlangen – ansonsten aber einen tadellosen Job machen. Zum Trost gibt’s aber eine überarbeitete Ölbadkupplung, die dank Servowirkung die Handkräfte gewaltig minimiert und ganz nebenbei noch eine Art Anti-Hopping-Effekt hat, was beim hastigen Herunter-schalten und womöglich gleichzeitigen Bremsen das Stempeln des Hinterrads verhindert.
Und noch ein paar weitere Modellpflegemaßnahmen an der 1000er kamen auch der 620er zugute: Die beim Lenken mitschwenkende Verkleidungsscheibe ist jetzt stärker gewölbt und fünf Zentimeter höher. Die Spiegel mit den integrierten Blinkern sitzen jeweils vier Zentimeter weiter außen, und ein ebenfalls vier Zentimeter längerer Seitenständer bietet deutlich mehr Standsicherheit – die Multistrada fällt jetzt nur noch dann in Schräglage, wenn es vom Fahrer ausdrücklich gewünscht wird. Ein Hauptständer bleibt unverändert aufpreispflichtig, ist jetzt aber eigentlich auch entbehrlich. Die bereits erwähnte und wirklich sehr gute Sitzbank geriet noch kuscheliger, nämlich etwas weicher gepolstert und einen Tick breiter.
Ducati Multistrada 620Den Motor-Job erledigt der aus der Monster 620 bekannte Zweiventil-Zweizylinder mit exakt 618 ccm. Der luftgekühlte 90-Grad-V-Motor – Ducati nennt ihn ganz wichtig „L-Twin” – wird von einer Einspritzanlage versorgt und leistet 63 PS bei 9500 U/min. Das maximale Drehmoment von 56 Nm liegt bei 6750 U/min an. Einen Chokehebel gibt’s trotz Einspritztechnik immer noch, die Neuzeit ist allerdings beim Starten eingekehrt. Ein ganz kurzer Druck aufs Knöpfchen genügt vollauf, den Rest erledigt der Anlasser vollautomatisch und zwar so lange, bis der Twin tatsächlich herzhaft losbollert. Wer bisher noch nicht wußte, was eine Ducati denn nun so einzigartig macht, bekommt spätestens jetzt Klarheit. Dieser Sound ist einfach genial und macht süchtig, und das bereits im völlig serienmäßigen und absolut legalen Zustand. Die extrem leichtgängige Kupplung hatten wir schon, die Arbeit im Sechsganggetriebe noch nicht. Bitteschön: Keine Klagen, der eng anliegende Schalthebel möchte schon deutlich bewegt werden, aber von Hakigkeit oder unpräziser Rastung keine Spur. Einfach genial ist die Gasannahme. Ganz weich und dabei unglaublich direkt setzt der 620er-Motor jeden Befehl der Gashand in Vortrieb um. Bereits ab 2000 U/min gibt’s kein Ruckeln oder Zuckeln. Zwischen 3000 und 4000 Touren kommen ein paar kernige Vibrationen durch, darüber geht’s wieder wunderbar geschmeidig zur Sache. Neben den 63 offiziellen PS hat der Twin womöglich noch ein paar Reserve-Pferdchen versteckt, denn bis zum Eingreifen des Drehzahlbegrenzers bei 10000 U/min zieht die Multistrada herrlich bärig durch. Wer es wissen will, erreicht aus dem Stand nach 4,4 Sekunden das Landstraßenlimit. Einsteigermotorrad? Erzählen Sie das mal ihrem Porsche fahrenden Nachbarn. Ducati nennt 185 km/h als Höchstgeschwindigkeit, die Digitalanzeige zeigt schon mal 200, irgendwo dazwischen dürfte der echte Wert liegen. Womit wir bei der wirklich einzigen Situation wären, in der die Multistrada an ihre Grenzen stößt: Auf der Autobahn an einem Sonntagmorgen zwischen 4.30 und 6 Uhr. Damit läßt sich aber durchaus leben, denn ihr eigentliches Revier liegt natürlich fernab der BAB, obwohl der Windschutz selbst bei über 160 km/h noch recht passabel ausfällt.
Ducati Multistrada 620 Der Ducati kann es gar nicht kurvig und eng genug sein. Die Qualität des Asphaltbelags spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, denn die -für Ducati-Verhältnisse – erstaunlich komfortabel abgestimmten Federelemente machen es dem Fahrer leicht, auch auf Landstraßen dritter Ordnung eine ziemlich forsche Fahrweise anzulegen. Der aufrecht sitzende Fahrer hat viel mehr Vertrauen zu seinem Gerät als es ein fahrerisch durchschnittlich begabter Gebückter je haben kann. Warum wohl werden Supersportler so gern auf Superbikelenker umgebaut? Eben. Doch die superhandliche Multistrada kann auch anders, nämlich ganz gemütlich bummeln. Ist man auf anderen Ducs permanent mit dem Messer zwischen den Zähnen unterwegs, mag diese Maschine einfach auch alle anderen Gangarten. Vom Rentner-Cruising bis zur supersportlichen Vollstrecker-Heizen macht die Multistrada 620 einfach alles mit. Regenwetter und/oder Pfützen sollten allerdings lieber vermieden werden, denn das Zentralfederbein liegt völlig ungeschützt, und auch das Vorderradschutzblech kümmert sich nicht wirklich um die dahinter liegenden Motorenteile. Anders gesagt: Dieses Motorrad saut unglaublich schnell zu.
Doch auch das kann von Vorteil sein, denn so entdeckt der mit Putzen beschäftigte Fahrer womöglich die durchweg gute, teilweise sogar liebevolle Verarbeitung seines Schätzchens. Und spätestens dann weiß er, daß er eine verdammt gute Wahl getroffen hat. Die in Rot, Rotorange, Gelb und Schwarz lieferbare Multi-strada 620 kostet inklusive Nebenkosten 8645 Euro und damit satte 2900 Euro weniger als die 1000er. Wer mit Mattschwarz und nur einer (dafür größeren) Bremsscheibe im Vorderrad leben kann, spart mit der Multistrada 620 Dark weitere 600 Euro. Als Gegenwert gibt’s ein faszinierendes Motorrad, das herrlich klingt, mit einem traumhaften Motor bestückt ist, sich superhandlich und gut berechenbar über alles treiben läßt, was nach befestigtem Untergrund aussieht und dabei noch die unterschiedlichsten Fahrerlaunen klaglos mitmacht. Nichts zu meckern? Doch: ABS ist nicht lieferbar, und das Licht ist nicht so prall. Ansonsten gilt: Weniger ist hier eindeutig mehr. Und diese Ducati geht jedenfalls bei mir eindeutig als Traummotorrad durch – und das Teil hat sogar über 500 Kubik!