aus bma 08/03

von Jens Riedel

Ducati Multistrada DS 1000Beim ersten Blickkontakt im Herbst auf der Intermot in München hat Dich ihr Anblick umgehauen und ist Dir seitdem im Kopf herumgeschwirrt. Du hast immer wieder an sie denken müssen. Da triffst Du die feurige Italienerin nun endlich zum Rendezvous in natura im hohen Norden und sie wirkt plötzlich nicht mehr ganz so aufregend. Je näher Du sie betrachtest, desto verwirrter bist Du zu allem Überfluss auch noch. Was kann sie nur von Dir wollen? Will sie mit Dir schnell zum Eiscafé um die Ecke, am liebsten sofort in den Urlaub fahren oder Dich einfach zum Bummel einladen? Vorne trägt sie dick auf, hinten ist Schmalhans Küchenmeister. Und ihr Mittelpunkt wirft noch mehr Fragen auf. Kurzum: Die Ducati Multistrada 1000 DS irritiert zunächst ungemein.
Das einzige, was Dir schon seit Deiner Jugend vertraut ist, ist das Triebwerk. So sieht eben nur eine Ducati aus. Aber selbst da musst Du umdenken. Aus dem 90-Grad-V2 haben die Werbestrategen einen „Zweizylinder in L-Form” gemacht. Eine klare Abkehr vom klassischen Denken. Ducati hat nicht nur hier eine neue Formensprache gefunden. Vorne macht die Multistrada auf schmal bauende Enduro, in der Mitte trägt sie den nackten Gitterrohrrahmen à la Monster zur Schau und hinten reckt sie das Heck wie ein etwas zu hoch geratener Supersportler über den Asphalt. Eine klare Abkehr vom klassischen Design. Was kann sie nur von Dir wollen?
Noch verwirrender wirkt der Sitz im Zentrum des Ganzen. Ist das Polster nicht ein bisschen lang geraten? Vorne ist es schmal, hinten breit und dazwischen ist zu allem Überfluss (denkste!) noch eine kleine Stufe. Wie soll man da vernünftig Platz nehmen? Um es schon einmal vorweg zu nehmen: Die ungewöhnliche Sitzbank der Multistrada ist eines ihrer Geheimnisse für den faszinierenden Fahrspaß. Doch dazu später.

 

Ducati Multistrada DS 1000Genug philosophiert, jetzt wird ausprobiert. Unser Testexemplar stellte uns Voigt & Stever in Ebstorf zur Verfügung. Also, aufgestiegen und angelassen. Du tippst nur kurz auf den Startknopf und die Maschine übernimmt den Rest. Sie dreht den Anlasser von ganz alleine so lange weiter, bis das Gemisch Feuer fängt. Servoanlasser nennt sich das und irritiert ebenfalls beim ersten Mal.
In der unnachahmlichen Ducati-Akustik nimmt das 992-Kubikzentimeter-DS-Triebwerk mit der Doppelzündung (DS = Dual Spark) und der bekannten desmodromischen Ventilsteuerung die Arbeit auf. Das V2-, pardon, das L-förmige Aggregat liegt mit Einspritzung und Kat auf der Höhe der Zeit, bleibt aber weiterhin luftgekühlt, denn unnötiger Ballast war noch nie Ducatis Sache. Der neue Ein-Liter-Motor kommt auch in den aktuellen 1000er Monster- und Supersport-Modellen zum Einsatz, dort allerdings mit deutlich mehr PS. Statt mit 136 muss sich die Multistrada mit der Kraft von „nur” 84 Pferden begnügen. Doch auch die reichen, Dich ab 150 Stundenkilometern aus dem Sattel schmeißen zu wollen. Nein, nein, die Multistrada bockt nicht wie ein ungezähmtes Wildpferd, aber galoppiert so schnell los wie eine Herde wild gewordener Mustangs.
Die schmale Verkleidung macht sich gar nicht erst groß die Mühe, Dir unbedingt mehr als BAB-Richtgeschwindigkeit aufnötigen zu wollen. Jedenfalls nicht, so lange Du aus dem gerade gezogenen Lenker automatisch eine aufrechte Sitzhaltung ableitest und noch nicht weißt, dass es neben passenden Reisekoffern auch eine höhere Tourenscheibe beim Händler gibt.
Der 20-Liter-Tank und das verwirrend vielfältige Multifunkitionsdisplay im Cockpit sprechen durchaus für den langen Ritt zum Gardasee. Das einzige, was das „Mäusekino” nicht kann, ist die Drehzahl messen. Das macht weiterhin ein klassisches Rundinstrument. Der Rest ist allein Sache des Digitalinstruments. Geschwindigkeit, Uhrzeit, Tageskilometerzähler, Durchschnitts- und Momentanverbrauch, pro Liter gefahrene Kilometer und die Durchschnittsgeschwindigkeit lassen sich ebenso ablesen wie die Antwort auf die Frage, wann die nächste Inspektion fällig ist oder wieviele Kilometer mit der verbliebenen Tankfüllung noch zu schaffen sind. Eben einfach „multi”. Optional bietet Ducati dann noch ein GPS-Navigationssystem an, damit wirklich keine Frage mehr offen bleibt.
Ducati Multistrada DS 1000Zurück zum Alltag. Die Federung ist zwar straff, aber dennoch komfortabel. Etwas härter gibt sich der Sitz. Doch das muss so sein, denn sonst funktioniert das Geheimnis der Multistrada nicht. Und das enthüllt sich Dir mit einem Mal urplötzlich. Du reißt am Gas und merkst, wie Dein Hintern ganz von alleine nach hinten auf den breiteren Teil des Kunstleders rutscht und Du Dich automatisch lang machst. Huch, die Ducati mutiert plötzlich ganz von selbst zum Supersportler. Genauso schnell verwandelt sie sich aber auch in eine Supermoto: Ein kurzer Befehl an die Bremsen und dein Hintern schiebt Dich wie von Geisterhand nach vorne an den Tank. Du nimmst automatisch wieder eine aufrechte Position ein. So neu positioniert zirkelst Du die Ducati mit einem kurzen Druck der Knie kinderleicht überall hin. Bis Du erneut Gas gibst und Dich ganz von selbst wieder lang machst. Die Multistrada macht Dir unmissverständlich klar, wohin sie Dich gerade haben will.
Auf der Landstraße funktioniert das so perfekt, dass Du es kaum noch wahrnimmst. Gas runter und der Körper schiebt aufrecht nach vorne; Gashahn auf und der Körper duckt sich lang nach hinten. Zu diesem lässigen Spiel mit der Sitzposition passt der Motor hervorragend. Die 1000 DS quält sich nicht. Sie schüttelt sich zwar unterhalb von 3500 Umdrehungen, entfaltet dafür aber zwischen 4000 und 6000 Umdrehungen dermaßen gleichmäßig und mit souveräner Leichtigkeit ihre Kraft, dass Du im fünften und sechsten Gang Mühe hast, Dich nicht allzu schnell und zu weit vom gebotenen Tempolimit auf deutschen Landstraßen zu entfernen. Nur selten ist man darauf angewiesen, diesen Drehzahlbereich zu verlassen. Das maximale Drehmoment von 84 Nm liegt bereits bei 5000 Umdrehungen an, die sich im fünften Gang als ideal für Landstraßentempo herauskristallisieren. Zugegeben, der zweite Schub ab 6500 Umdrehungen schreit fast nach Sicherheitsgurten, aber bei 8000 ist das Leistungsmaximum von 84 PS auch schon erreicht.
Kupplung und Schalthebel verlangen etwas Kraft, arbeiten aber klaglos kurz, knapp und präzise. Nur eines mag der Twin ganz und gar nicht: die City ist nicht das Revier der Multistrada. Mit den drei ersten kurz übersetzten Gängen rührst Du im Großstadtdschungel ständig im Getriebe.
Die beiden vorderen Vierzangen-Stopper von Brembo arbeiten ohne Fehl und Tadel. Die hintere Scheibe dient in der Regel nur dazu, das Heck beim Bremsen unten zu halten.
Auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht, eine Enduro ist die Multistrada nicht. Sie meistert mit 165 Millimetern vorne und 141 mm Federweg hinten zwar klaglos auch einen Feldweg, aber das „Multi” bezieht sich eher auf die Asphaltqualität. Der Ducati ist der Belag nämlich völlig egal. Und sei der Teer noch so alt, die Straße noch so holprig oder die Spurrinnen noch so lang, die Multistrada lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen.
Ducati Multistrada DS 1000Zu dem superben Fahrverhalten tragen neben den fein ansprechenden und verstellbaren Showa-Federelementen auch die serienmäßigen Pirelli-Scorpion-Sync-Puschen auf den 17-Zoll-Felgen bei. Vorne wird das Rad in einer Upside-Down-Gabel gehalten, hinten übernimmt eine der schlichtweg schönsten Einarmschwingen der Welt diese Aufgabe.
Ästhetik wird bei der Ducati ohnehin groß geschrieben. Sie ist eine Design-Skulptur. Der mittig verlegte Auspuff, die harmonische Rückansicht, die ungewöhnlich gestylten Seitenspiegel mit den integrierten Blinkern und der wohlgeformte Frontscheinwerfer, der über eine elektrische Höhenverstellung für den Zweipersonenbetrieb verfügt, geben der Multistrada ein unverwechselbares Erscheinungsbild. Der Tank zieht sich so gut wie über das ganze Motorrad und erlaubt trotz 20 Liter Fassungsvermögen eine unheimlich schmal bauende Maschine. Er verhindert allerdings auch Ablagemöglichkeiten unter den Sitzpolstern. Lediglich eine kleine Seitenklappe an der rechten Vorderseite nimmt im Zweifelsfall Zahnbürste und Scheckkarte auf. Ungewöhnlich fällt auch die übrige Frontverkleidung aus. Der untere Teil ist rahmenfest montiert, die Scheibe jedoch am Lenker verschraubt.
Zu all diesen Eigenständigkeiten passt das Konzept der 1000 DS. Die 10.800 Euro teure Maschine entzieht sich jeder gängigen Einordnung. Sie ist eben doch irgendwie „Multi”. Nennen wir sie einfach ein exzellentes Sportmotorrad, das die Philosophie der reinen Fahrmaschine mit unglaublicher Leichtigkeit und Faszination verkörpert. Sie schreit förmlich nach einem Sprint um den Gardasee, nimmt Dein Herz mit Sicherheit aber auch im Weserbergland oder im Harz gefangen. Ganz so wie damals auf der Intermot – nur dass Du damals nicht im entferntesten geahnt hast, was für eine temperamentvolle Italienerin in diesem atemberaubenden Kleid steckt.