Spontan verliebt in eine kleine Italienerin

aus Kradblatt 10/24 von Jürgen Theiner • www.motorprosa.de

Mitte der 1990er Jahre stellte ein italienischer Hersteller die Motorradwelt auf den Kopf. Die Armada der dickbäuchigen, hoch aufragenden und asymmetrisch auspuffenden Vierzylinder-Sportler aus Japan, die alle dem gleichen Baumuster folgten, wurde von einem schmalen, kleinen Motorrad aufgemischt.

Mit der Ducati 748s unterwegs im Vinschgau
Mit der Ducati 748s unterwegs im Vinschgau

In seiner Form war es radikal anders – und radikal zu Ende gedacht. Scheinwerfer mit Raubkatzenblick. Ein filigraner, aber bombenstabiler Stahlrohr-Rahmen umspannte einen schlanken, mittragenden Motor. Das Cockpit schmerzhaft eng um den Lenker gezeichnet, mit Klemmgarantie für dickere Finger. Ein Knieschluss aus dem Paradies mit der Tankrückseite als schmalste Stelle überhaupt. Sturzgeschützte Auspuffe im Heck. Eine einzige Botschaft: Wo ich bin, ist vorne. Schnellverschlüsse, Einarmschwinge, in wenigen Minuten komplett nackt. Alles für das Lächeln, den ganzen Weg bis zur schwarz-weiß karierten Flagge, gemacht. Als Erste natürlich.

Gianelli macht die Musik
Gianelli macht die Musik

Die Ducati 916. Ein Jahrhundertentwurf, gezeichnet für die Rennstrecke und in ihrer Konsequenz revolutionär. Die sensationelle Honda RC30 stand in Bologna zwar unzweifelhaft Modell für „la moto massimale“, die 916 vermischte allerdings fernöstliche Präzision mit italienischem Wahnsinn.

Der sorgte auch dafür, dass es die 916 lange Zeit nicht zu kaufen gab. Hunderte halbfertiger Maschinen standen auf Halde, weil Zulieferer wegen offener Rechnungen nicht mehr lieferten. Organisiertes Chaos und eine bisweilen sehr lässige Verarbeitungsqualität hielten viele 916er von der Straße fern. Abgesehen vom Preis.

Meinen ersten Kontakt mit der Göttin hatte ich im Sattel einer Yamaha FZR 1000 Exup – ein Schlachtschiff im Vergleich zur Roten aus Bologna. Ich folgte der Ducati durch den Vinsch­gau, sie füllte den Raum hinter sich mit harten Termignoni-Schlägen, erschreckendem Kupplungsrasseln und ihrem orgiastischen Heck. Nach wenigen Kilometern schlug die 916 zwar seitlich in ein Heck eines Vorfahrt nehmenden Autos ein, was dem Fahrer ein gebrochenes Handgelenk beibrachte. Die Ducati hingegen konnte dank clever platzierten Sollbruchstellen an Lenkerstummeln, Kupplungsgriff, Spiegel- und Verkleidungshaltern auf eigenen Rädern nach Hause rollen. Das gab es bis dahin noch nicht.

Klassische Rundinstrumente statt TFT-Bildschirme
Klassische Rundinstrumente statt TFT-Bildschirme

Die 916 war faszinierend, aber den Haben-Wollen-Effekt spürte ich lange nicht. Ihre radikale Optik sprach noch dagegen, ich war den Superbikes der 1990er verfallen: GSX-R, ZXR, der traumhaften OW-01. Außerdem bewegte sich ihre Nachfolgerin, die 996, selbst im Jahr 2000 preislich noch immer in Sphären, die ich nicht erreichen konnte. 

Ich verliebte mich jedoch spontan in eine 748, der ich quasi bei der Geburt zusehen konnte: Mein Händler öffnete just bei meinem Besuch eine Transportkiste aus Borgo Panigale und montierte die „Kleine“. 

Ein knappes halbes Jahr nach dieser Prägung wechselte der Schlüssel meiner Triumph Daytona den Besitzer, ich kletterte erstmals in den Sattel einer Ducati. Nachts fuhr ich damit von Bozen in den Vinschgau, eine Strecke von nur 80 km. Wegen der hohen Fußrasten erlitt ich schwerste Krämpfe in den Oberschenkeln, wegen der tiefen Lenkerstummel brannten meine Handgelenke, der humpelnde Motor warf mich mehrmals unerfreulich an den harten Tank. Familienplanung war zum Glück kein Thema. Das Ding rasselte, klapperte, brüllte laut und dumpf, kurz: Es war so geil!

Pragmatisch - ein Scottoiler erleichtertet die Kettenpflege
Pragmatisch – ein Scottoiler erleichtertet die Kettenpflege

Nach einem Tag der Eingewöhnung rasierte ich mit der 748 bereits die Kurven des Reschenpasses, konnte stolz die erstmals nicht mehr vorhandenen Angststreifen vor der Eisdiele zeigen. Damals war das noch was. Die ersten 1000 Einfahrkilometer lagen nach einer Woche hinter mir, die Inspektion erledigte der Schrauber in Imst (Tirol). Auf dem Rückweg wäre ich fast in einem Gewitter ertrunken – diesen Nässetest bestand meine 748 ohne zu murren, an der italienischen Elektrik zweifelte ich fortan nicht mehr. 

Mir war vollkommen egal, dass die 916 und ihre Schwestern für die Rennstrecke gebaut wurden – ich ging damit auf Reisen. Eine Tankhaube von Bagster mit gleich zwei Rucksäcken sowie eine große Hecktasche taten mir gute Dienste. Eine der ersten längeren Fahrten brachte mich in die Fränkische Schweiz – nach einem phänomenalen, mehrtägigem Kurvenfest schubste dort ein gut bepackter Familienkombi meine Ducati nach rechts in den groben Kies beim Kathibräu. Wieder bewährten sich die Sollbruchstellen.

Der nächste Fall folgte unweit davon – im Jahr darauf warf ich der deutschen Polizei die vollgepackte 748, mit der ich inkl. Sozia nach Dänemark unterwegs war, vor den Streifenwagen. Ich wollte die Maschine nach dem Tanken cool von der Zapfsäule wegschieben und stolperte uncool über den Seitenständer. Sie fiel wieder auf die rechte Seite, die Sollbruchstellen … ihr wisst schon. Dänemark haben wir trotzdem erreicht, und ich bin auch ohne Probleme wieder nach Hause gekommen.

Magura Brems- und Kupplungspumpen
Magura Brems- und Kupplungspumpen

Nach einem Jahr sprang der Kilometerstand auf 30.000. Ich fuhr den dritten Satz Bremsscheiben und den zweiten Satz Kipphebel. Die eigentlich renntauglichen Bremsscheiben verzogen sich permanent, die Kipphebel in den Ducati-Köpfen trennten sich gerne von ihrer Beschichtung. Wäre das alles nicht von der Garantie gedeckt gewesen, ich wäre heute noch mittellos. 

Ich drückte auf ihr meine Knieschleifer in den Asphalt des Anneau du Rhin und des Salzburgrings, fuhr in einem Rutsch an die ligurische Küste und nach zwischenmenschlichen Schwierigkeiten tags darauf wieder zurück. Regelmäßig machte ich der Fränkischen meine Aufwartung – ich liebe das Spiel in den Kurven zwischen Bayreuth und Bamberg noch heute.

Ich fuhr die Ducati das ganze Jahr über, durch Regen, Schnee und Salzwasser, pflegte sie manisch. Ein Esslöffel von Mamas bestem Waschpulver, mit heißem Wasser in einer Sprühflasche vermischt, hielt die 748 strahlend sauber und glänzend rein. Den zweiten Kettensatz bekam sie entsprechend erst bei 40.000 km, passend zur zweiten Kupplung. Gebraucht aus Ebay, denn originale Teile gab das Budget nicht her. Die Service-Kosten waren immer vierstellig. Und ich fuhr viel.

Brembo ankert
Brembo ankert

Erneut ging die 748 zu Boden – diesmal allerdings nach links, in der ersten Kehre des Stilfserjochs. Ich saß auf einer seltenen und unfassbar teuren 916 Senna und sah dem Drama von hinten zu. Für einmal war ein Motorradtausch eine ganz gute Idee, die Senna hätte nicht fallen dürfen … 

Stilfserjoch, genau. Die eigentliche Spielwiese meiner Ducati. Wie oft ich die 748 die 48 Kehren hoch und runter trieb, das kann ich nicht mehr beziffern, aber das geht in die Hunderte. Die Straßenlage, als wäre das Motorrad mit der Fahrbahn verschraubt, die absolute Zielgenauigkeit und die unerschütterliche Stabilität beim harten Anbremsen selbst auf derbem Asphalt, das macht mir unbändigen Spaß. Dass die Kleine aus ihren Ansaugnüstern brüllt wie eine ganz Große, ist ein Gänsehaut-Extra. Immer wieder.

Ab 2002 schwächte meine Liebe zur Ducati etwas ab. Ich hatte heiße Affären mit drei Supermotos und der dazugehörigen verrückten Szene. Die 748 wurde zum wenig beachteten Pendler-Motorrad, war nur zwischen Wohnung und Supermoto-Garage unterwegs. Sie ertrug das Kurzstrecken-Geschinde stoisch, jammerte nicht über die Vernachlässigung und den sparsamem Einsatz von Mamis Waschmittel, sie trug sogar die Spuren vom Parken im Freien – Stichwort Vogelkacke – mit Stolz.

Lack und Carbon sind nicht mehr ganz frisch
Lack und Carbon sind nicht mehr ganz frisch

Ab 2008 fuhr ich die Ducati kaum noch – Babypause. Die 748 verbrachte ein Jahr in einer modrigen Tiefgarage, dann ein weiteres unter dem zu kurzen Vordach eines Schweizer Einfamilienhauses. Sie wurde unter meterhohem Graubündner Schnee begraben und legte sich im Tauwetter des Frühlings in den Schlamm des Vorgartens. Ich versuchte, das mit einem Platz im Wohnzimmer gut zu machen, irgendwie … 

Und ich dachte an eine Trennung. Aber wer würde eine Ducati mit über 50.000 km kaufen wollen? Ich fand niemanden.

2016 zog ich sie auf einem Hänger ins Schweizerische Basel: Start zu einer sportlichen Reise durch das Vercors und in die Cevennen, im Schlepptau von RR-BMWs und 1290er KTMs. Die gnadenlos untermotorisierte Ducati schlug sich dabei tapfer, dröhnte schräger als erlaubt durch die Schluchten des Südens und zerrieb in dieser Woche einen kompletten Reifensatz auf dem französischen Asphalt. Meine alte Liebe zu ihr flammte wieder auf, auch wenn Schultern, Nacken und Handgelenke wochenlang schmerzten.

93.000 km standen Ende der Saison 2024 auf dem Tacho
93.000 km standen Ende der Saison 2024 auf dem Tacho

In meine Garage zogen immer modernere Motorräder ein, mit ABS, Internet und Raumfahrttechnik: KTM LC4 690 Duke III. KTM 1290 Superduke R. Zero SR/F. Sogar ein Road King von Harley, man stelle sich vor. Die Ducati aber behauptete ihren Stellplatz. Mit ihrer hemdsärmeligen, zeigerwackelnden Technik ist sie nun der maximale Gegenpol zur hypermodernen Zero. Sie trägt das Kleid der Einsitzer-Version, hat Upgrades an Bremse und Kupplung erhalten (Radialpumpen) und wird regelmäßig vom Mechaniker gewartet, der sie im fernen Frühjahr 2000 aus der Transportkiste geholt hat. Die originalen Auspuffe sind spruchstarken Carbon-Gianellis gewichen, als Reminiszenz an mein allererstes Mofa, das ich ebenfalls so aufgerüstet hatte. Und weil ich damit ja auf Reisen gehe, fährt sie auch einen Scottoiler spazieren.

Sie fährt sich selbstredend anspruchsvoll, verlangt für dynamisches Vorankommen den ganzen Körpereinsatz. Sie hat relativ wenig Leistung – verglichen mit aktuellen Literbikes im Grunde gar keine – und ihre jetzt messerscharfe Bremsanlage erlaubt keine Fehler.

Sie trägt die Spuren von 24 Jahren und 93.000 Kilometern stolzer denn je. Das viele Carbon mag inzwischen stumpf und verblichen sein, am Verkleidungskiel etwas Lack fehlen und die Felgen von vielen misslungenen Reifenwechseln erzählen. Die Zündschlüssel sind abgenutzt und verbogen und die Kurven meines Wohlstandskörpers passen nicht mehr wirklich elegant zwischen Tank und Sitzbank. 

Aber auch in ihrem 24. Jahr kam sie problemlos durch den TÜV, sprang immer auf den ersten Versuch an und ertrug das unendlich Stop ’n’ Go in den Serpentinen des Stilfser Jochs und den Hitzestau in den Dolomiten. 

Allerdings wird es Zeit für einen neuen Kettensatz und frische Reifen, außerdem fehlt am linken Stummel das Lenkerenden-Gewicht. Und die Befestigung des Monoposto-Hecks braucht ein wenig Zuwendung – aktuell wackelt die 748 etwas zu lasziv mit dem Hintern. Nach dieser kleinen Kosmetik-Behandlung kann 2025 kommen, und ich freue mich darauf. Wenn sie dann auf der Passhöhe des Stilfserjochs steht, zwischen ihren MotoGP-Nichten mit V4 und 200 PS, zwischen Boden-Boden-Raketen aus Bayern und Japan, die demnächst per Software-Updates alleine fahren können, dann zieht sie immer noch alle Blicke auf sich.