aus Kradblatt 10/21, von Clemens Gleich, mojomag.de

Oder: Wie ich wieder Zeit zum Motorradfahren fand…

Wie viel Zeit man für Dinge hat, ist hauptsächlich eine Frage der Prioritäten. Ist Motorradfahren wichtiger, als Stunden auf Facebook zu verbummeln?

Hauskauf. Umzug. Renovierung. Das Alter. Familie. Hausarbeit. Benzinpreis. Es fehlt mir nun wahrlich nicht an Ausreden, kein Motorrad zu fahren. Wahrscheinlich geht es vielen hier ähnlich. Irgendwie ist es schon wieder Abend und fast nichts ist passiert. Warum zerrinnen die Tage nur so?

Ich kann da natürlich nicht für vorangegangene Generationen sprechen, deren Tage bei Feldarbeit, gewohnheitsmäßigem Alkoholüberkonsum oder Rundfunk zerflossen. Unsere heutigen Tage zerfasern jedoch sehr eindeutig unter dominierendem Einfluss der asozialen Medien. Da fließt erschreckend viel Zeit in den Abfluss, und am Ende hat man davon nicht viel mehr als den Stress eines Streits, den es ohne Facebook nicht gegeben hätte.

Wie viel Zeit der Einzelne verbaselt, misst zum Beispiel der Blockierdienst „Freedom“, den rund eine Million Menschen benutzen, damit sie am Tag noch mehr gebacken kriegen als einen sinnlosen Streit und ein Dutzend „Like!“-Klicks. Im Durchschnitt gewinnen Freedom-Nutzer pro Tag zweieinhalb Stunden Zeit. Über diese Zeit hinaus gewinnen sie jedoch auch mehr Ruhe und die Zufriedenheit, am Ende eines Arbeitstags tatsächlich das gearbeitet zu haben, wofür die Firma bezahlt, statt nur Metaarbeiten wie E-Mails oder Kommentarantworten erledigt zu haben. Und Nutzer solcher Dienste sind ja bereits Menschen, die sich über ihre Prioritäten Gedanken machen. Der Gedankenlose dürfte mehr Zeit verlieren als zweieinhalb Stunden am Tag.

Digitale Freiheit beim Motorradfahren
„Ha! Toller Witz! Gut, dass ich dafür angehalten habe! Fettes Like! Danke, Facebook, für die zügige Benachrichtigung! Kaum auszudenken, wenn ich das erst morgen gelesen hätte!“

Die Jungen Leute (tm)

Jede Generation hat ihre eigenen Probleme. Ab etwa 1995 Geborene sozialisierten sich in der Zeit, als Sozialmedien und Smartphones Traktion fanden. Die ihnen folgende Generation wird nichts Anderes mehr kennen. Nun war natürlich auch vor dem Fernseher versumpfen ein gigantischer Timekiller, aber der Rundfunk verfügte noch nicht über die mächtigste Waffe der Massenablenkung: Benachrichtigungen. Jede noch so dämliche App hat welche, um dich ständig dazu zu bringen, ihr Aufmerksamkeit zu schenken, aus der sie Werbeeinnahmen generieren kann. Bing! Irgendjemand Egales hat irgendetwas Egales getan! Schnell hingucken!

Das kleine Handgerät erzieht den Menschen zur reflexartigen Werbungguckerei und fügt ihm dabei messbaren psychischen Schaden zu. Dr. Jean Twenge von der Universität San Diego stellte um 2012 herum so steile Verhaltensänderungskurven unter Studenten fest wie nie zuvor in ihrer 25-jährigen Karriere. Depressionsstörungen und „Anxiety“ (US-Wort für Stressstörungen) schossen in den Himmel. Die Kurven fielen passgenau mit der Massenadoption von Smartphones zusammen.

Nun sind Korrelationen keine Kausalzusammenhänge, aber die Forschung geht anhand des Timings stark davon aus, dass Smart­phones zu den Hauptursachen gehören. Kein Gerät sonst schafft es, dass du ansatzlos eine Stunde verlierst, weil du auf die Uhr schauen wolltest, dann stand da eine Benachrichtigung, dann kamst du auf Twitter, wo jemand FALSCH lag, was du unbedingt korrigieren musstest und … was wollte ich eigentlich gerade tun? Und wie viel Uhr ist es eigentlich?

Digitale Freiheit beim Motorradfahren
Ich hatte noch nie was für Cruiser übrig. Aber eins ist mal sicher: So einen Klumpen fahren macht am Ende des Tages glücklicher, als sich in der Zeit von Twitter im Strahl von Snark und Wichtigtuerei ankotzen zu lassen. (Bild: BMW)

Ok, Boomer

Man würde davon ausgehen, dass Teenager diese Schlussfolgerung rundheraus ablehnen: „Pft, du bist so ALT, du verstehst das nicht.“ Stattdessen stimmen viele chronisch latent gestresste Anxiety-Teenager dem zu. Die ganze Sache ist auch nicht besonders verwunderlich, weil Milliarden von Dollar dafür ausgegeben wurden, die Technik so suchterzeugend wie möglich zu gestalten. 

Auch Instagram kann warten - Digitale Freiheit beim Motorradfahren
Auch Instagram kann warten

Wir Ältere können uns das kaum vorstellen. Ja, dieses Dings, wiehießesnoch, Finstergramm, das nervt manchmal, aber außer vertrödelter Zeit macht mir das jetzt keinen Puls. Doch eine Studie aus 2015 maß bei Teenagern im Durchschnitt eine tägliche Mediennutzung von 9 Stunden! Neun Stunden! Das ist jetzt 6 Jahre her, heute haben schon Babys ihre eigenen Tablets. Natürlich wird man von solchen Überdosen irgendwann kirre. 

Für uns Silberrücken bedeutet „bei denen ist es RICHTIG arg“ dennoch keine Entwarnung: Soziale Medien machen uns einsamer und unglücklicher, wenn wir den meisten Studien zum Thema glauben wollen. Wenn wir dagegen Facebooks eigenen Studien glauben wollen, ist es nur eine Frage, WIE man den Service nutzt, um sogar glücklicher zu werden. Monsanto hat ja auch immer wieder herausgefunden, wie unbedenklich Roundup ist. Jetzt wird’s irgendwie trotzdem verboten für Privatanwender.

Ein Antidot

Deshalb ist es auch so absurd, wenn die Motorradhersteller immer behaupten, dass Motorräder besonders vernetzt sein müssten. Ja, ganz schön, dass es eine App für Navigation auf dem Tacho gibt (z. B. BMW oder KTM). Aber dass jeder Tacho eine Bluetooth-Einheit hat, damit man damit telefonieren kann, das halte ich für ein Artefakt aus billigen Bluetooth-Chips: „Siehe!“, ruft der Zulieferer dem Hersteller zu, „was du hier für ein Feature anbieten kannst, kosta quasi gar nichts!“ Und richtig „connected“ wäre es ja erst, wenn wie im Auto die Benachrichtigungen reinbimmeln. Bing! Jemand hat einen 50 Jahre alten Witz in die WhatsApp-Elterngruppe flatuliert! Dafür übersehe ich doch gern den abbiegenden Querverkehr!

Nein, das Motorradfahren ist für die wenigen Jungen, die zu ihm finden, nicht wegen Firlefanz interessant, den sie seit zehn Jahren in jeder anderen Branche besser haben können. Stattdessen ist das Motorrad interessant, weil es eine herbe Physik- und Motorikerfahrung bietet, die TikTok eben nicht bieten kann. Es kann sie maximal zeigen. Ich kann dir auch ein paar nackte Menschen zeigen, mit Edding auf einem Bierdeckel oder mit Youporn auf einem Jeejah. Davon weißt du noch nicht, wie sich sowas anfühlt.

Digitale Freiheit beim Motorradfahren
Aktueller Plan: Eine KTM Freeride E suchen, damit ich mit den anderen alten Herren die Sonntags-Endurorunden rund um den Ort fahren kann. Alternative: auf der Couch einsumpfen und das Silicon Valley reicher klicken. (Bild: KTM)

Heaven and Hell is other People

Der Mensch braucht andere Menschen fürs Wohlbefinden. Tausend Dosen Menschlichkeit light können leider doch nicht echten, innigen Kontakt mit einigen wenigen Anderen ersetzen, vermutet die Forschung mittlerweile. Es ist nur auf den ersten Klick bequemer. Die Ausfahrt mit dem Kumpel, die du seit Monaten vertagst, sticht in jedem Fall die 1000 Facebook-Pseudofreunde. Probier es aus: Poste 30 Tage nichts, schau, wer dich vermisst. Es wird nicht einmal jemand bemerken. Der Algorithmus ersetzt dich sofort nahtlos.

Ruf lieber diesen Kumpel an. Der Mensch braucht jedoch auch Episoden, in denen kein anderes Gehirn Input gibt. Wir brauchen Zeit für eigene Gedanken. Wir brauchen physische Erlebnisse, denn der Mensch denkt auch mit der Hand. Wir denken alle gerade, wie gut die letzten Sätze zum Motorrad passen.

Ich habe alle meine Artikel auf dem Motorrad, im Auto, beim draußen herumstreifen oder alleine auf dem Balkon erdacht. Die Schreibtätigkeit ist lediglich eine des Aufschreibens. Das Smartphone ist eine Maschine, die dabei sehr effizient jeden eigenen, einsamen, wachen Gedanken verhindert. Du musst nichts mehr ohne Ablenkung tun: Podcast im Fitnessstudio, Spotify beim Fahrradfahren, Twitter in der U-Bahn. Du KANNST aber auch nichts mehr ohne Ablenkung tun, weil du a) süchtig bist und b) das Smartphone deine Dosis automatisch optimiert.

Das Motorrad dagegen ist eine Maschine, die dich sehr effizient auf deine eigene Gedankenwelt zen­triert. Bremse, Einlenkpunkt, Stützgas, umlegen in die Wechselkurve, Ölspur, Korrektur, Beschleunigung und plötzlich die kalte Waldluft im Helm – herrlich! Wer in der Gruppe fährt, erlebt sogar das Wechselbad zusammen-alleine in Tank-getakteten Etappen, was ich ohne weitere Forschung einmal recht ideal nennen will, bis jemand etwas anderes belegt. Sonst wäre das Rudelfahren nicht so beliebt.

Digitale Freiheit beim Motorradfahren
Man muss da ja auch mal ökonomisch denken, die Kosten einer Maschine gegen ihre Nutzungszeit rechnen. Herumstehen kostet bares Geld! (Bild: Triumph)

Was nichts kostet …

Als ich diesen Sommer für mein Motorradfahren Zeit suchte, fand ich immer genug von den asozialen Medien abzuknapsen. Das zeigt schon deutlich, dass mein eigenes Verhalten wider besseres Wissen aus dem Silicon Valley fremdbestimmt wird. Ich rede mir ein, ich bräuchte dringend dreimal am Tag Facebook für meinen Job.

Ich muss doch erreichbar sein für die 50 Jahre alten Witze! Minimalist Cal Newport schlägt zur Einordnung vor: Man stelle sich vor, egal welcher Dienst berechnet dir Geld pro Minute Nutzung. Wie viel Facebook brauche ich dann noch? Plötzlich komme ich mit fünfzehn Minuten pro Woche dicke aus. Ebenso plötzlich habe ich viel Zeit, um auf der Duke das Hohenlohische Land zu erkunden.

Ich war immer pro Technik. Elek­tronik oder Fahrhilfen fand ich nie per se schlecht, ich hob nur mahnend den Finger ob der Komplexitätssteigerung, die immer zu einer analog dazu verlaufenden Fehlerinzidenzsteigerung führt. Meine Sympathie erstreckt sich jedoch nicht auf Techniken, die aktiv dazu entwickelt wurden, uns zum dämlichen Guck-und-Klick-Affen umzuschulen, damit die reichsten Psychopathen des Planeten pro User pro Tag ein paar Pennies daran verdienen.

Als Peter Fonda in Easy Rider seine Armbanduhr wegschmiss, resonierte das mit den Zuschauern, die darin eine bewusste Abkehr von der Leistungsgesellschaft der damaligen Zeit sahen. 

Das viel wichtigere Äquivalent heute: Schmeiß das Smartphone weg. Das würden natürlich nur Wenige tun.

Lass das Ding daheim

Deshalb empfehle ich meine Variante als wohlstandsverwahrloster Technoabhängiger: Lass das Ding daheim. Ich verspreche dir, du verpasst unterwegs gar nichts. Und wenn du nicht ohne Telefon fahren willst: Schalte alle Benachrichtigungen ab, für immer. Langfristiger Tipp: Einfache nur-telefonier-Telefone boomen wieder am Markt und kosten wenig. Wir sehen uns im Hohenlohischen.

Der Artikel erschien bereits online auf www.heise.de.
Dort findet man viele gute Storys, nicht nur zum Thema Motorrad. Klickt mal rein …