Edersee Stausee 2Das Rotkäppchenland im Herzen Deutschland ist von Norddeutschland aus schnell zu erreichen und bietet neben tollen Motorradstrecken auch viel Geschichte, Landschaften und Kulinarisches …

aus Kradblatt 8/15
von Frank Sachau

 

Motorradtour ins Rotkäppchenland

Rotkaeppchen und der WolfZiemlich genervt bogen wir gestern von der A 7 ab, der übliche Mix aus Baustellen, Staus und LKW-Kolonnen lag hinter uns, als wir vor der Touristinfo in Remsfeld die Zündschlüssel zogen. Nach einem freundlichen Empfang hielten wir die kostenlose Motorrad-Tourenkarte in den Händen, unsere schlechte Laune war wie weggeblasen. Die vor dem Haus aufgestellte Skulptur „Rotkäppchen und der Wolf“ bereitete uns darauf vor, dass man Märchen nicht nur in dicken, verstaubten Wälzern findet, sondern auch im Herzen Deutschlands.

Das Landhotel Zinn, im nur wenige Kilometer entfernten Wallenstein, sollte unser Basislager für ausgedehnte Touren in das Rotkäppchenland werden. Wir hatten nicht nur die Zimmer, sondern auch ein besonderes Menü vorbestellt. Petra Zinn, Wirtin, Küchenmeisterin und ausgewiesene Märchenköchin begrüßte uns mit einem Glas Apfelchampagner, dann folgte marinierter Blattsalat mit karamellisierten Walnüssen und Wolfszähnen aus Blätterteig, Kürbissuppe, serviert in einem ganzen Kürbis, Ragout von der Hirschkeule mit Bandnudeln und jungem Gemüse. Ein leckeres Dessert rundete die sagenhafte Speisefolge ab. Zu fortgeschrittener Stunde gesellte sich Udo Zinn, seines Zeichens Wirt und begeisterter GS-Treiber zu uns, um einige seiner Lieblingsstrecken zu empfehlen.

Am KnuellturmNach einem üppigen Frühstück machen wir uns auf, um in aller Herrgottsfrühe durch den einsamen Knüllwald zu streifen. Nichts stellt sich uns in den Weg, als wir auf kehren- und kurvenreicher Bergstrecke am Geiskopf (497 m) vorbei nach Rotenburg an der Fulda eilen. Parallel zur B 27 schlängelt sich ein attraktives Asphaltband über Berg und Tal nach Rockensüß und von dort an nicht minder reizvoll bis nach Waldkappel. Aus dem Wehretal beginnen wir mit dem Anstieg zum König der nordhessischen Berge, dem Hohen Meißner. Wir brummen durch verschlafene Dörfer, hüpfen auf verwinkelten Landstraßen über bewaldete Kuppen, erkunden das dunkle Höllental und kehren dann neugierig in der Jausenstation Großalmerode-Weißenbach ein, wo es wortwörtlich um die Wurst geht: Wir lassen uns eine nordhessische Spezialität, die Ahle Wurscht schmecken. Gut gestärkt gelangen wir wenig später auf das weitläufige Hochplateau, das von der Kasseler Kuppe mit 754 Höhenmetern gekrönt wird.

Aussicht vom KnuellturmDie Bergregion ist nicht nur für seine beeindruckenden Panoramen bekannt, sondern gilt auch als Heimat des weltbekannten Märchens Frau Holle. Die waschechten Hessen Jacob und Wilhelm Grimm verewigten die Erzählung in ihren vor 200 Jahren erstmals veröffentlichten „Kinder- und Hausmärchen“. Lange vorher wurde am Meißner Bergbau betrieben, das am Hang klebende Gasthaus Schwalbenthal ist das letzte von einst zehn Häusern der damaligen Bergarbeitersiedlung. Vom hiesigen Aussichtspunkt lassen wir unsere Blicke über das Werratal in Richtung Thüringen wandern

Wie beim Riesenslalom schwingen wir anschließend hinunter nach Hessisch Lichtenau und stoßen auf dem Weg zur Fachwerkstadt Melsungen wieder einmal auf eine fahrerisch anspruchsvolle Alternative zur Bundesstraße. Dass es dem hessischen Landadel früher an nichts fehlte, wird deutlich, als wir das hoch über dem Ort thronende Schloss Spangenberg entdecken. In Morschen wechseln wir über die träge dahinfließende Fulda, die sich im nicht allzu fernen Hannoversch Münden mit der Werra zur Weser vereinigen wird. Als es Zeit für eine Kaffeepause und einen kleinen Stadtbummel wird, kommt Homberg mit seinem historischen Ortskern gerade recht. Hinter der dicken Festungsmauer verbergen sich malerische Gassen und kunstvolles Fachwerk ohne Ende. Am großzügigen Marktplatz zu Füßen der evangelischen Stadtkirche St. Marien angekommen, schauen wir zur Skulptur „Brüderchen und Schwesterchen“ auf, deren fabelhafte Geschichte ebenfalls Einzug in die berühmte Sammlung der Gebrüder Grimm fand.

Eder Fluss BrueckeMit der Romantik ist es vorbei, als wir vor dem Show-Room des weltberühmten Harley-Davidson Veredelers Fred Kodlin von unseren verschmutzen Maschinen steigen und neugierig dieses besondere Studio für Lack, Leder und Gummi betreten, in dem ganz spezielle Wünsche erfüllt werden. Ausgefallene Lackierungen, glänzender Chrom und überbreite Reifen stechen ins Auge – alles Unikate. Zahlreiche Größen der Unterhaltungsbranche ließen sich hier ihr Traummotorrad bauen.

Edersee Stausee 2Zurück in der rauen Wirklichkeit, erreichen wir wenig später die Dom- und Kaiserstadt Fritzlar. Glaubt man den Überlieferungen, rückten im 8. Jahrhundert bewaffnete Christen aus, um die von heidnischen Stämmen angebetete Donar­eiche im benachbarten Geismar zu fällen. Brutal von der Ohnmacht der nordischen Gottheiten überzeugt, wechselten viele Germanen den Glauben. Auf Schusters Rappen schlendern wir zum Marktplatz, der von malerischen Fachwerkhäusern umrahmt wird. Seit 450 Jahren plätschert hier der beeindruckende Rolandbrunnen, einst über hölzerne Rohrleitungen mit dem Wasser der Eder gespeist. Im Edertal angekommen, folgen wir dem Flusslauf und besuchen den zwischen Afolderner See und Ederstausee gelegenen Bikertreff Café Zündstoff. Nach einem heißen Kaffee machen wir uns auf zum gigantischen Wasserreservoir, das von einer 48 Meter hohen Staumauer gebändigt wird. Die schmale Uferstraße schmiegt sich windungsreich an das glänzende Nass, auf dem See zieht ein Fahrgastschiff ruhig dahin und hoch über uns thront Schloss Waldeck.

Edersee StauseeTrotz aller Naturschönheiten sollte man den Tacho nicht aus den Augen lassen, denn die bei Kurvenkratzern beliebte und mit Tempolimit belegte Route wird häufig von mobilen Blitzern überwacht. Nach so viel Beherrschung kommen die Serpentinen hinauf nach Vöhl gerade recht – endlich darf die Drehzahl aus dem Keller. Die nahe Bundesstraße verschmähen wir, es lockt die fahrerisch reizvolle Alternative über Sachsenberg nach Frankenberg. Das Städtchen an der Eder wurde durch sein historisches Rathaus bekannt, das mit allerlei Besonderheiten aufwarten kann: Zu ebener Erde schreiten wir durch eine weiträumige Markthalle, die vor Wettereinflüssen schützt; aus dem oberen Stockwerk schauen die um 1500 von einem talentierten Sohn dieser Stadt geschaffenen originellen Holzfiguren auf uns herab und das graue Schieferdach trägt zehn Türmchen, die auf die einstigen Zünfte Frankenbergs hinweisen. Nach mehreren Dutzend Schräglagenwechseln entdecken wir in einer der vielen Ederschleifen unser nächstes Ziel: Den einladenden Biergarten des Bikertreffs Arnold im bergigen Dodenau. Das letzte aromatische Heißgetränk auf unserer Tour genießen wir ein paar Schaltvorgänge später am Aussichtspunkt Sackpfeife am östlichen Rand des Rothaargebirges. Mit „nur“ 674 Metern ist es nicht der höchste Berg, aber der mit dem schönsten Pa­norama. Und die biegungsreiche Auffahrt ist auch nicht von schlechten Eltern.

Fritzlar RolandbrunnenAuf der Rückreise meiden wir weitestgehend die Hauptstraßen und tasten uns auf lohnenswerten Kreisstraßen über Wetter bis an den Rand von Kirchhain entlang. Nachdem wir den Staatsforst Trevsa durcheilt haben, taucht vor unseren Lenkern Schwalmstadt-Ziegenhain auf. Der Wasserlauf Schwalm prägt den Namen dieser Region und speist nebenbei den Burggraben der barocken Wasserfestung. Während des Dreißigjährigen Krieges wehrte sie zahlreiche Belagerungen ab, doch als wir hineinrollen, schlägt uns keinerlei Widerstand entgegen. Vor mehr als hundert Jahren trugen Frauen, Männer und Kinder alltags bodenständige, an Sonn- und Feiertagen reich verzierte Gewänder, die nicht nur strengen Regeln unterlagen, sondern auch Auskunft über Familienstand, Herkunft und Vermögen gaben: Die Schwälmer Tracht. Die Jugend wurde durch die Farbe Rot signalisiert, während die letzte Lebens­etappe mit der Farbe Schwarz einherging. Mit wachsendem Alter wechselte beim Herrn die Farbe der Weste und bei der Dame die Farbe der Haube, dem sogenannten Betzel, das den auf dem Kopf gebundenen Haarknoten bedeckt. Vielleicht ließen sich die Gebrüder Grimm von der Schwälmer Tracht inspirieren, als sie die Fabel vom Rotkäppchen und dem Wolf niederschrieben und in Nordhessen ansiedelten.

Homberg Markt KircheWie passend, dass uns die flüssig zu fahrende Deutsche Märchenstraße (B 454) auf der Suche nach dem Rotkäppchen mit nach Südosten nimmt, wollen wir doch das Knüllgebirge entdecken, das auch Wölfe beheimaten soll. Den Einstieg in das wald- und wasserreiche Mittelgebirge finden wir in Neukirchen. Die dann folgende Etappe um das Lager Schwarzenborn entpuppt sich als geniale Schräglagenstrecke und bietet echte Aufstiegsmöglichkeiten: Den August-Franke-Turm auf dem erloschenen Vulkan Knüllköpfchen (634 m) mit seinem traumhaften Rundblick in alle Richtungen und den nach einem Forstmeister benannten Borgmannturm auf dem benachbarten, nur zwei Meter höheren Eisenberg, dem Gipfel des Knüllgebirges. Die Sonne steht knapp über dem Horizont, als wir den Heimweg antreten. Wölfe haben wir heute nur im nahen Wildpark gesehen, doch glaubt man den Medien, ist mit der Rückkehr des Isegrims auch in den Knüllwald zu rechnen – gibt es dann Rotkäppchen und der Wolf reloaded?

Reisetipps:
Unterkunft Landhotel Zinn, Wallenstein, Burgstraße 6, 34593 Knüll­wald, www.landhotel-zinn.de, Telefon 05686/395. GS-Pilot Udo Zinn, Wirt des bodenständigen Gasthauses, kennt nicht nur das Rotkäppchenland wie seine Westentasche, sondern auch weiter entfernte Ziele wie den Vogelsberg, die Rhön und den Thüringer Wald. Und Märchenköchin Petra Zinn sorgt mit kulinarischen Genüssen für den gelungenen Ausklang einer Tagestour. Das Doppelzimmer mit Frühstück ab 65 Euro.

Literatur, Karten & Infos:
Motorrad Mitteldeutschland, Denzel-Verlag, Innsbruck. 76 ausgewählte Rundfahrten, 272 Seiten mit Kartenskizzen und zahlreichen Fotos. Handliches Format 12 x 18 cm. ISBN 3-85047-756-8. 9,90 Euro.

Der Tourismusservice Rotkäppchenland bietet eine kostenlose Motorradtourenkarte mit vier gut ausgearbeiteten, abwechslungsreichen Strecken, sowie zahlreichen Übernachtungstipps an. GPS-Daten sind online erhältlich. Tourismusservice Rotkäppchenland e.V., Hauptstraße 2 a, 36275 Kirchheim, www.rotkaeppchenland.de, Telefon 06625/919597.