aus bma 11/05

von Konstantin Winkler

D-Rad R 0/5In der Motorradwelt der 20er Jahre spielten seitengesteuerte Einzylinder die dominierende Rolle als robuste Gebrauchsmaschinen für den Alltag. Die riesigen Blockmotoren von NSU und auch vielen anderen Herstellern haben gezeigt, wie ein anspruchloses Motorrad aussehen muß, wenn es kein Zweitakter mit 200 ccm sein soll.
Auch das D-Rad 0/5 war nicht für die sportbegeisterten Enthusiasten, sondern für die gutbürgerlichen Gebrauchsfahrer gedacht. Schon der breite Lenker in U-Form und die riesigen Trittbretter zeigten deutlich, wo die Konstrukteure Prioritäten setzten, nämlich auf konfortables Reisen und nicht auf Hochgeschwindigkeitsfahrten. Letzteres kann man von den acht PS auch nicht erwarten, die enstehen, wenn der riesige, langhubige Graugußkolben mit 82 mm Bohrung und 94 mm Hub auf- und abgeht und dabei 500 ccm verdrängt.
Der Motor ist ein alter Bekannter aus dem Vorgängermodell R 0/4. Der Sackzylinder (Zylinder und Zylinderkopf sind eins) ist mit zwei Klappschrauben am Kurbelgehäuse befestigt. Das Gehäuse ist ein aufwendiges, einteiliges Leichtmetall-Gußstück. Die über zehn Kilo schwere Kurbelwelle aus zwei geschmiedeten Hubscheiben ist dreifach gelagert. Hinter dem Zylinder sitzt der Bosch-Magnetzünder. Das Einlass-Nockenzahnrad treibt ihn über ein Zwischenrad an. Das funktioniert zuverlässig, denn es gibt keine Kette, die klemmen, und keinen Riemen der reißen kann. Batterieunabhängig verrichtet der Magnet seinen Dienst und versorgt die Zündkerze stets mit einem kräftigen Funken.

 

Links am Motor ist eine Handölpumpe angebracht. Mit dieser kann zusätzlich Motoröl (auch während der Fahrt, sofern man gelenkig genug ist) in die Zylinderlaufbahn gespritzt werden. Das war zwar seit 1927 nicht mehr modern, dafür aber sehr wirkungsvoll. Einer guten Schmierung steht dann eine gewaltige Rauchentwicklung gegenüber. Auch sonst schont der Motor nicht gerade die fossilen Kraftstoffressourcen. Ende der 20er Jahre hatten viele Motorradhersteller ihren Ventiltrieb schon gekapselt. Die deutschen Industriewerke jedoch nicht. So konnte es vorkommen, daß das D-Rad dem stolzen Besitzer während der Fahrt eine ungewollte Imprägnierung seiner Beinkleider mit Öl verpaßte.
Gegenüber der 0/4 technisch nahezu unverändert hat die R 0/5 ihre Oberbekleidung neu in Form gebracht. Die beiden Kotflügel waren weiter heruntergezogen, die Werkzeugkästen saßen jeweils rechts und links am Gepäckträger, und der Tank wurde neu konstruiert. Er hatte eine Einbuchtung für die Zündkerze und einen stark verippten Kühlturm, der zusätzlich Wärme abführen sollte. Der Rahmen besteht aus nahtlos gezogenen Stahlrohren, die in ihren Verbindungsmuffen hart eingelötet sind. Das Vorderrad wurde mittels einer Blattfeder mehr oder weniger gut gefedert. Indian führte diese Konstruktion ein, die in den 20er Jahren dann auch von BMW und den deutschen Industriewerken übernommen wurde.
D-Rad R 0/5 Oft und gerne wurden die D-Räder als Seitenwagenmaschinen verwendet, weil die Straßenlage als Solomaschine nicht gerade die Beste war. Vor allem die störrische und zum Durchschlagen neigende Blattfedergabel brachte der Marke den Spitznamen „Spandauer Springbock” ein. Der original D-Rad Beiwagen hat die Ausmaße eines Kinderzimmers im sozialen Wohnungsbau. Über zwei Meter lang ist er, und aus Stahlblech gefertigt. Zwei jeweils 1,1 Meter lange Blattfedern sorgen für Komfort (und Seekrankheit, da der Beiwagen sehr hoch angebracht ist). Das Untergestell besteht aus einem kräftigen Rohrahmen, der, ebenso wie die Verstrebungen, aus nahtlosem Stahlrohr hergestellt wurde. Am Motorradrahmen ist der Seitenwagen mit vier leicht lösbaren Steckbolzen befestigt. Hinter der Rückenlehne des Bootes befindet sich ein Gepäckraum, und für größere Gegenstände gibt es einen Gepäckträger am Beiwagen.
Bevor es auf große Tour geht, muß der Motor erstmal in Gang gebracht werden. Das geschieht (mit ein wenig Übung) auf den ersten Kick: Benzinhahn auf, Schwimmerkammer fluten, Zündung auf „Spät”, mit Hilfe von Kickstarter und Dekompressionshebel den Kolben auf den oberen Totpunkt befördern und mit etwas Gas ankicken. Problematischer ist da schon das Startverhalten bei Kälte. Dann reicht das Überlaufen des Vergasers unter Umständen nicht aus. Früher half man sich mit etwas Äther oder Leichtbenzin, welches entweder in den Ansaugtrichter des Vergasers oder in die Zündkerzenöffnung gespritzt wurde. Wenn das alles nicht half, wurden die Elektroden der Zündkerze vorgewärmt. Einen Luftfilter, den man bei niedrigen Temperaturen schließen kann, gibt es nicht. Der offene Vergaser saugt zwar auch mal Motten, Spinnen, Staub und manchmal kleine Steine an, aber er erlaubt dem Motor tief und leicht zu atmen. Eine Fehlzündung kann eine spektakuläre Stichflamme zur Folge haben, aber glücklicherweise vom Fahrer weggerichtet (unglücklich aber für eventuelle Zuschauer).
Während andere Hersteller schon ein Zündschloß im Tacho hatten, mußten die D-Räder noch wie zur Jahrhundertwende ausgemacht werden: Durch ziehen des Dekompressionshebels.
Der Auspuff hat kein Loch, es hört sich nur so an… Fast ungedämpft gelangen die Abgase ins Freie, deshalb spricht man von einem Auspuff, und nicht von einem Schalldämpfer.
D-Rad R 0/5 Den Gasschieber betätigt man mit einem Daumenhebel statt des heutzutage üblichen Gasgriffes. Der D-Rad Fahrer kann agieren wie ein modernes Motormanagement. Nicht nur die Zusammensetzung des Benzin-Luft-Gemisches im Vergaser, sonder auch der Zündzeitpunkt kann mittels eines kleinen Hebels am Lenker nach Gutdünken eingestellt werden.
Hektik ist für das D-Rad ein Fremdwort. Selbst wenn der Gashebel auf „voll” steht, rotiert die Kurbelwelle mit gemütlichen 3800 U/min. Nur der Geräuschpegel nimmt zu, bis er das Niveau eines Kampfpanzers erreicht. Die 5/8 x 3/8 Zoll große Kette transportiert dann rund acht PS ans Hinterrad.
Das Getriebe ist in dem Motorblock integriert und macht aus dem Schalten eine Herausforderung. Drei Stufen kann der Pilot mit dem fast einen halben Meter langen Schalthebel wählen. Zunächst werden Gas und Zündung zurückgenommen, bevor der rechte Fuß das Kupplungspedal tritt. Jetzt dürfen die drei Gänge mit der rechten Hand sortiert werden, um dann sachte eingelegt zu werden. Die Mehrscheiben-Stahllamellen-Kupplung (im Ölbad! Sehr innovativ für die 20er Jahre) schnappt herzhaft zu, und die wilde Fahrt kann beginnen. Wenn die Kupplung greift, setzt sich das Gespann mit einem Satz in Bewegung, wobei das ganze Gespann gleich zu wippen anfängt.
Ab Tempo 45 zeigt die Lenkung dem Fahrer, wer hier das Sagen hat, und daß mit ihr nicht zu spaßen ist. Ein Lenkungsdämpfer (oder auch Steuerungsdämpfer, wie man ihn früher nannte) ist unbedingt erforderlich. Jede Kurve bedeutet aber nicht nur viel Arbeit, sondern auch ebensoviel Spaß. Doch wehe das D-Rad wird von einem Schlagloch überrascht, dann erzittert es in einem Konzert gequälter Blattfedern und Zahnräder. Die Blattfedern an der Vorderradgabel sind sich nämlich zu schade, um auf jede Bodenunebenheit zu reagieren. Das Gespann eilt immerhin mit einer Spitzengeschwindigkeit von 75 km/h über die Straßen, was zu den damals noch sehr häufig anzutreffenden Pferdefuhrwerken eine deutliche Steigerung war. Beim Fahren liegen Vergnügen und Entsetzen dicht bei einander. Die Begeisterung über den Tempozuwachs schlägt schnell in panische Angst um, wenn plötzlich ein Hindernis auftaucht. Dann sollte man nach dem Weg des geringsten Wiederstandes Ausschau halten, denn die gut 400 Kilo (mit besetztem Boot) stürmen, trotz redlicher Bemühungen der beiden Bremsen (der Beiwagen ist natürlich ungebremst) nahezu unbeirrt weiter.
D-Rad R 0/5 1927 lenkten noch keine Instrumente von der Straße ab. Es gab nur ein Einziges, und das nur gegen Aufpreis: Einen Tacho im Art-Deco-Stil. Er sitzt auf dem Tank und ist am oberen Rahmenrohr, das vom Sattel zum Lenkkopf führt, befestigt. Die Tachowelle, mit einer Hülle aus Metall, führt zur Antriebskette, wo sich ein kleines Ritzel befindet, das sie antreibt. Der unruhige Motor schüttelt aber so heftig, daß die Tachonadel permanent um das wahre Tempo herumzittert.
Doch nicht nur der Tachometer war aufpreispflichtig, auch andere, heute selbstverständliche Dinge wie Soziussitz nebst Fußrasten und Hupe (wahlweise elektrisches Horn oder Ballhupe) kosteten extra. Wer auf Weitblick Wert legte und auf eine Lampe nicht verzichten wollte, mußte ebenfalls zuzahlen.
Das Fahrerhandbuch (früher auch Betriebsanweisung) ist 114 Seiten stark und beinhaltet neben der allgemein üblichen Fahrzeugbeschreibung und Wartungshinweisen auch das Zerlegen des Motors und Fahrtips wie: „An unübersichtlichen Stellen und beim Überholen anderer Fahrzeuge kurz Signal geben” oder „Das Einlenken in die Kurve durch Bewegung des Armes kennzeichnen”. Vor einem dreiviertel Jahrhundert waren die Straßen ein wenig freier, und Fußgänger, Radfahrer, Rind- und Viehherden machten einem hupenden Fahrzeug sogleich verschreckt Platz.
Sogar mit Beiwagen konnten die D-Räder Rennerfolge verbuchen. Im Hauptrennen „Rund um die Solitude” gab es am 22. Mai 1927 in der Seitenwagenklasse bis 600 ccm einen ersten und einen zweiten Platz. Auch bei der 1.700 km langen „Deutschen Sechs-Tage-Fahrt” gab es für die zwei- und dreirädrigen Spandauer Springböcke insgesamt eine goldene, zwei silberne und drei bronzene Plaketten. Geschwindigkeitsrekorde sind heute mit dem D-Rad Gespann nicht zu schaffen, wohl aber Menschenaufläufe, und das nicht zu knapp.