aus Kradblatt 3/14
von Felix Hasselbrink, www.motalia.de

 

Cagiva River 6001994 stellte Cagiva auf der Intermot die River 600 vor. Mit dem Motorrad verfolgte die Marke ein bestimmtes Konzept und bot ein Motorrad mit hohem Nutzwert für den täglichen Gebrauch an.
Damals gehörten Cagiva, Ducati, Hus­qvarna und Moto Morini zu einem Konzern. Die Marke Morini war aber kurz davor, eingestellt zu werden. Das Geld verdiente der Konzern mit Ducati, dort konnten mit Monster, Supersport und Superbike einige Marktsegmente beschickt werden. Hus­qvarna bediente die echten Geländefahrer. Für Enduro-Fans bot Cagiva neben den großen Elefant-Modellen (750 und 900) noch die kleineren Enduros W8 (125), W 12 (350) und W 16 (600) an. Dazu gab es für den Nachwuchs die 125er Super City und Mito. Aber Cagiva wollte expandieren. So erhielt die Mito für 1995 das Styling der erfolgreichen Ducati 916, und völlige Neukonstruktionen waren die Roadster 200 sowie die River 600, um die es in diesem Artikel geht.
Im ganzen Konzern gab es kein Touring- oder Alltagsbike. Diese Lücke sollte nun die River mit einer interessanten Ausstattung füllen. Den Motor übernahmen die Entwickler von der W 16. Bei dem luftgekühlten Single handelt es sich entgegen weit verbreitetem Glauben um eine Eigenkonstruktion von Cagiva. Der Viertakter ist konventionell aufgebaut mit einer obenliegenden, kettengetriebenen Nockenwelle und vier Ventilen, welche mittels Kipphebeln geöffnet werden. Das Ventilspiel lässt sich einfach über Einstellschrauben korrigieren.

Für die Entflammung des Gemisches sorgt eine wartungsfreie CDI-Zündanlage ohne Kontakte. Auf der Einlassseite ist ein japanischer Gleichdruck-Vergaser zu erwähnen, auf der Auslassseite sorgt eine 2-in-1-Anlage mit Krümmern aus Edelstahl für die Schalldämpfung. Im Auspufftopf im Superbike-Design befindet sich ein ungeregelter Katalysator, was damals recht fortschrittlich war.

Cagiva River 600 CockpitIm Gegensatz zur Enduro bekam die River einen zusätzlichen Ölkühler als Hitzeschutz spendiert.
Komplett neu war der Brückenrahmen aus Stahlprofilen. Diese fielen recht breit aus und verdecken einiges von Zylinder und Kopf – ein Punkt, der beim Styling immer wieder bemängelt wird. Auch die Stahlschwinge der River mit einfachem Kettenspannmechanismus war eine Neuentwicklung. Aber bei Gabel, Bremsen und Rädern griff man auf Vorhandenes zurück: Hier diente die Mito als Spender.

In der River bietet die Marzocchi-Up­side-Down-Gabel 125 Millimeter Federweg. Die Bremsanlage mit einer 320er-Scheibe und Brembo-Vierkolbensattel sollte für ausreichende Verzögerung reichen, sie tat damals ja auch in der Ducati 750 SS ihren Dienst. Die Dreispeichenräder entsprachen dem Zeitgeist und waren im Styling an die sportlichen Diven aus Bologna angelehnt.

Bei den Reifenbreiten dachten die Ingenieure wohl mehr an Handlichkeit als an den Auftritt vor der Eisdiele. Vorne reicht ein 110er, und hinten gibt man sich mit einem 140er zufrieden, aber ein 150er ist als zusätzliche Option in den Papieren vermerkt.

Die Hinterradfederung übernimmt ein Zentralfederbein von Boge. Während die Gabel über keine Verstellmöglichkeiten verfügt, kann man hier wenigstens die Federvorspannung dem Beladungszustand anpassen. Für die Progression sorgt ein Hebelsystem, welches Cagiva „Soft Damp System“ nennt. Diese Hebel sind genauso aus Aluminium gefertigt wie Schalthebel, Bremshebel, Fußrastenhalter vorne und hinten, Cockpitplatte, Lampenhalter und einiges mehr.

Die Auslegung der Maschine zielt ganz klar auf den Alltagsnutzen. So bietet die große Sitzbank viel Platz für zwei ausgewachsene Personen. Die bequeme Sitzposition erlaubt lange Strecken, zudem bietet das kleine Windschild ordentlichen Schutz. Bei Bedarf kann es mit zwei Schrauben schnell entfernt werden. Stauraum beinhalten zwei Koffer, die sich sehr eng an das Motorrad schmiegen. Die Deckel sind in Fahrzeugfarbe lackiert, damals keine Selbstverständlichkeit. Zur Serienausstattung gehören zwei Innentaschen, die auch als Rucksäcke verwendet werden können, das ist schon durchdacht. Ein weiteres Staufach befindet sich im Tank. Praktisch für Kleinigkeiten oder die Autobahn-Maut. Nur sollte man darin nicht das Portemonnaie vergessen, weil dieses Fach nicht abschließbar ist.

1994 bestanden Cockpits in der Regel aus Tacho, Drehzahlmesser und ein paar Kontrollleuchten. Bei Cagiva entschied man sich, auf den Drehzahlmesser zu verzichten. Statt dessen installierte man eine Tankanzeige sowie eine Uhr. Darin sah man für dieses Fahrzeug einen höheren Nutzwert. Wann man bei so einem Einzylinder-Motor schalten muss, merkt man schon von alleine.
Komplettiert wird die Ausstattung durch eine Gepäckbrücke sowie einen Hauptständer. Ohne den ist das Ketteschmieren doch recht umständlich.

Eigentlich ein durchdachtes Konzept, aber in Deutschland fand die River nur wenige Käufer, hier werden Motorräder meist als Hobby benutzt und nicht als Alltagsfahrzeug, wie das teilweise in südlichen Ländern üblich ist.

Cagiva River 600 Tankfach1999 kauften wir uns eine gebrauchte River 600, unter anderem wegen der Ausstattung und des geringen Gewichts. Vollgetankt bringt die Maschine trotz der serienmäßigen Extras nur 175 Kilogramm auf die Waage. Eine Weile verrichtete die Cagiva treu ihre Dienste, dann verweigerte der Anlasserfreilauf die Arbeit. Ein anscheinend nicht unbekanntes Problem. Unter anderem soll das an der unterdimensionierten Batterie liegen, sagte mir mal ein Händler. Cagiva konnte damals keine Ersatzteile liefern, so wurde die Maschine erst mal abgestellt und geriet etwas in Vergessenheit. Dabei ist dieser Freilauf auch in Motorrädern anderer Marken zu finden.

Nach ein paar Jahren Dornröschenschlaf wurde die River vor zwei Jahren wiederbelebt. Anlasserfreilauf und ein passender Abzieher für das Polrad hatten längst den Weg zu mir gefunden. Die Reparatur ging einfach und schnell vonstatten. Die Wiederbelebung der kompletten Maschine dauerte erwartungsgemäß etwas länger – sozusagen eine ganz große, besonders gründliche Inspektion mit ein paar Extras, wie sich das nach einer so langen Standzeit gehört.

Die alten Reifen hatte ich zuerst noch draufgelassen, weil sie vom Profil her fast neu waren. Dann habe ich sie aber doch gewechselt. Wäre doch zu ärgerlich, einen Unfall zu haben, nur weil man an den Gummis gespart hat. Die eingetragenen Metzeler Z2 und Pirelli MT 75 werden schon lange nicht mehr produziert. Und in den aktuellen Freigabelisten der meisten Reifenhersteller ist die River gar nicht erst gelistet. Ein Problem, welches bei Exotenmotorrädern und Oldtimern häufiger mal vorkommen kann. Schließlich bin ich bei Bridgestone BT 45 gelandet.

Bei der ersten Ausfahrt habe ich mich dann gefragt, wieso ich die Maschine so lange vernachlässigt habe. Mit Saisonkennzeichen von April bis Oktober betragen die Fixkosten bei entsprechenden Prozenten für Versicherung und Steuern zusammen keine 60 Euro pro Jahr. Das kann man sich doch ruhig zusätzlich gönnen.

Der Motor startet zuverlässig, solange die Maschine nicht ein paar Wochen gestanden hat. Ein Problem, welches man mit dem heutigen Sprit ja von einigen Motorrädern kennt. Aber im Normalfall, Choke am linken Lenkerende betätigen, Knopf drücken und schon brummt der Single. Schnell nimmt er sauber Gas an, und es kann losgehen. Die mechanisch betätigte Ölbadkupplung und das Getriebe arbeiten unauffällig. Die River muss noch mit fünf Gängen auskommen, während heutzutage ja eher sechs Schaltstufen zum Standard gehören. Die Sitzposition ist wirklich bequem, und bei einer Höhe von 81 Zentimetern kommen auch kleinere Menschen gut auf dem Boden an.

Bei unserem Motorrad hat der Vorbesitzer zusätzliche Handschützer und Spiegelverlängerungen montiert. Beides nicht wirklich schön aber nützlich. Außerdem hatte der Verkäufer Moosgummigriffe verbaut, vermutlich wollte er damit die Vibrationen an den Händen reduzieren.

Cagiva River 600Der Motor läuft mangels Ausgleichswelle etwas rau, er ist ein gemütlicher Geselle, was schon ein Blick auf die technischen Daten verrät. Der Kolbendurchmesser beträgt 102 Millimeter, für den Hub sind 73,6 Millimeter vermerkt. Das ergibt exakt 601,4 Kubikzentimeter. Die Verdichtung ist mit 7,8:1 recht moderat ausgefallen. In der offenen Version leistet der Viertakter 38 PS. Aber in den Verkauf kam die 34 PS-Variante, passend für den damaligen Stufenführerschein. Die Drossel befindet sich zwischen Vergaser und Zylinderkopf und kann leicht entfernt werden. Die 34 PS stehen laut Werksangaben bereits bei 5.000 U/min zur Verfügung, das maximale Drehmoment von 50 Nm ist bei 4.500 ­­­U/­min erreicht. Es ist also nicht notwendig, den Motor hochzujubeln, um die Leistung abzurufen.

Unsere Maschine hatten wir vor ein paar Jahren bei einem Kilometerstand von 26.000 mal auf dem Prüfstand, da waren es 39 PS bei 6.200 U/min und 49 Nm bei 5.100 U/min – also im Rahmen der Messtoleranzen. Die Leistungsentwicklung ist dementsprechend – sagen wir mal so: kein heißblütiger Hengst aber auch kein müder Ackergaul. Gleichmäßig liefert der Motor seine Power auch schon bei niedrigen Drehzahlen ab, da wirkt er kräftiger, als man vermuten mag. Im höheren Drehzahlbereich wird der Single aber eher etwas träger. Der Tacho zeigt eine Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h an. Laut Navi bleiben davon noch 153 km/h übrig. Der letzte Gang scheint etwas lang ausgelegt zu sein. Mit einer kürzeren Endübersetzung wäre die Maschine vielleicht etwas schneller?

Cagiva River 600 KettenspannerDer Spritverbrauch liegt über den Daumen bei 5 Litern auf 100 Kilometer bei normaler Fahrweise. Mit dem 18 Liter fassenden Kunststofftank kommt man also über 300 Kilometer weit. Wer aber den Motor stets unnötig ausdreht, treibt den Konsum deutlich nach oben. Wenn die Tanknadel den roten Bereich erreicht, sollen sich noch fünf Liter an Bord befinden.

Das Fahrwerk ist mit der Motorleistung unterfordert. Diese Kon­struktion würde sicherlich ein paar Pferdchen mehr vertragen können. Auch bei höheren Geschwindigkeiten hält die River stabil den Kurs, wobei die Grundauslegung eher in Richtung Komfort als Sportlichkeit geht. Trotz kurzen Radstands und nur 90 Millimetern Nachlauf ist der Geradeauslauf tadellos. Im Stadtverkehr ist sie handlich, besticht mit einem kleinen Wendekreis, lässt sich gut rangieren und trotz der Koffer kann man sich gut durch den Großstadtverkehr schlängeln. Das Heck ist nicht breiter als der Lenker. Die fest montierten Koffer bieten die Möglichkeit den kleinen Einkauf zu transportieren. Einen Helm oder einen Aktenordner fassen sie aber nicht.

Der halbhohe Lenker sorgt für eine aufrechte Sitzposition, und der Kunststofftank bietet einen guten Knieschluss. Gute Voraussetzungen für gemütliches Motorradfahren, stressfreies Genießen des Hobbys auf zwei Rädern. Sportlich ambitionierte Fahrer sollten sich aber nach einer anderen Maschine umsehen.
Als die Cagiva River 600 auf den Markt kam, kostete die Maschine 10.200 DM. Das waren ungefähr 3.000 DM weniger als die Ducati Monster 600, die aber deutlich mehr Prestige und auch mehr Power (53 PS) bot. Vielleicht war das einer der Knackpunkte: Cagiva kannte damals wie heute in Deutschland kaum jemand. Ich weiß noch, als ich bei Hein Gericke nach einer Zündkerze für eine „Cagiva River 600″ fragte, und die Verkäuferin wissen wollte, welche Marke das denn wäre: „Ist die von Honda oder von Yamaha?“
2005, als die River 600 schon längst nicht mehr produziert wurde, tauchte plötzlich die River 500 in den Geschäften auf. Der Kolbendurchmesser war von 102 auf 92,8 Millimeter verkleinert worden. So betrug das Zylindervolumen nun 498 Kubikzentimeter. Die Motorleistung blieb mit 34 PS unverändert.

Neben der Hubraumreduzierung mussten Käufer jetzt auf die Koffer verzichten. Dafür boten die Händler die Maschinen zum Kampfpreis von 4.144 Euro an. Aber auch das bescherte dem Modell keinen großen Verkaufserfolg.

modifizierte-BremseZur Zeit, als die River auf den Markt kam, war die Bremse zeitgemäß und wurde in den Fahrberichten stets gelobt. Heute ist man mittlerweile etwas besseres gewohnt. Es hätte vermutlich ausgereicht, die alte Gummileitung gegen eine Stahlflexleitung auszutauschen, um einen besseren Druckpunkt zu erzielen. Aber aus einer anderen Umbaugeschichte lag noch ein Vierkolbensattel einer Ducati 999 im Regal. Dieser verfügt bekanntlich über vier einzelne Beläge und andere Kolbendurchmesser. Mittels Adapter passt die Bremszange auch an die Cagiva. Früher hatten die Brembo-Zangen einen Verschraubungsabstand von 40 Millimetern, später betrug dieser 65 Millimeter, was halt den erwähnten Zwischenhalter nötig macht. Zusammen mit einer neuen Bremsleitung hat die River jetzt einen knackigen Druckpunkt und verzögert so gut wie noch nie.

Nicht so ganz durchdacht sind die Ständer der River. Die Seitenstütze steht recht steil und klappt federbelastet selbstständig ein. Das kann leicht zu einem Umfaller führen, lässt sich aber relativ einfach ändern, indem man den Anschlag etwas abfeilt, dann steht die Maschine sicherer. Das Aufbocken auf den Zentralständer ohne Ausleger erfordert etwas viel Kraft, das könnte ruhig einfacher gehen, hier wäre ein kleiner Handhebel zum besseren Anfassen hilfreich. Auf der rechten Seite gibt es eine Anschlagschraube zur Feineinstellung. Diese ist aber nicht mittig platziert, so dass sie auf Dauer verbiegt. Na ja, alle paar Jahre die Schraube austauschen, ist auch nicht so schwer.

Gespart hat Cagiva leider beim Scheinwerfer, die Biluxlampe bietet nicht die beste Ausleuchtung der Fahrbahn. Hier wäre ein ordentlicher Halogenscheinwerfer wünschenswert.
Wartungsarbeiten sind einfach zu erledigen. Dank Hauptständer sind Ketteschmieren und Ölstandskontrolle mittels Schauglas schnell erledigt. Der Ölfilter befindet sich auf der rechten Motorseite hinter einem kleinen Deckel mit drei Schrauben.

Für die Tankdemontage muss nur die Sitzbank abgenommen werden. Dann sind Luftfilterkasten und die kleinen Wartungsdeckel zum Ventileeinstellen zugänglich. Auch an die Zündkerze kommt man jetzt gut ran. Alle 6.000 Kilometer ist der größere Service fällig.