aus bma 11/00

Von Marcus Lacroix

Navigator heißt sie also, die Nachfolgerin der Gran Canyon. Ebenso hochbeinig, auch von einem V2-Herz angetrieben, wenn auch einem anderen und natürlich einer eleganten, typisch italienischen Lini- enführung. Sie tritt an, der etablierten Konkurrenz von BMW, Honda und Triumph zu zeigen, wo’s reiseenduromäßig langgehen soll.
Cagiva NavigatorInsidern ist bei diesen Worten klar: es geht um Cagivas neue Riesenenduro, die jetzt mit Suzukis potentem Brennerkraftwerk aus dem Sportler TL 1000 S ausgerüstet ist. Die eingangs erwähnte Vorgängerin musste sich noch mit einem deutlich schwächeren Antrieb aus Ducatis Ersatzteillager begnügen. Nun mag der eine oder andere Traditionalist die Motorwahl zwar bedauern – schließlich soll italienisch bleiben was italienisch ist – den meisten von uns wird eine solche Überlegung jedoch am Po vorbei gehen. Erlaubt ist schließlich, was Spaß macht. Im gleichen Atemzug sehen wir – Hondas Varadero noch im Hinterkopf – auch großzügig über die etwas seltsam anmutende Namensgebung hinweg, die in der Luft- und Seeschifffahrt ja ihre Berechtigung haben mag, dem gemeinen Biker als solchem jedoch wenig sagt.
Cagiva Navigator – das steht in erster Linie für die derzeit leistungsstärkste Reiseenduro. Knapp 100 Pferdestärken mobilisiert das überarbeitete, drehmomentoptimierte Suzuki Triebwerk, mehr als genug für atemberaubende Fahrleistungen auf der Straße. Wieso sie als „Enduro” die Fahrleistungen nicht auch im Gelände bringt, fragt ihr Euch? Vergesst die Assoziationen, die das Wort Enduro hervorruft. Die fetten Reiseteile von heute haben mit ihren Ahnen und deren Off- wie On- Road-Eignung quasi nichts mehr gemeinsam. Cagiva hat Gelände-Ambitionen deshalb durch die Reifen- und Felgenwahl von vorne herein einen Riegel vorgeschoben. Astreine Metzeler ME Z4-Straßengummis, vorne als 110/80 18-Zöller, hinten mit einem 150/70er und 17 Zoll Durchmesser, lassen die Navigator förmlich auf dem Asphalt kleben.

 

Cagiva NavigatorBei der uns zur Verfügung gestellten Probefahrtmaschine, plätteten wir nach nur 50 Kilometern mittels einer aufgesammelten Spax- schraube den Hinterradreifen – sorry!
Nach erfolgter Reparatur ging es dann aber richtig los. Zweimal den Motor abgewürgt, bis man sich an die geringe Schwungmasse und die nicht ganz einfach zu dosierende Kupplung gewöhnt hat, und dann macht die Navigator einem schnell deutlich, was sie nicht ist: ein Motorrad zum Bummeln. Wer vorwiegend mit 80-90 Sachen durch die Gegend schlenzt, sich am Grün der Wiesen und dem Zwitschern der Vögel erfreut, und wer mehr in der Gegend rumguckt, als die Straße und den Gasgriff im Auge zu behalten, braucht eigentlich gar nicht weiter zu lesen. Er würde sich nicht mit der Navigator anfreunden können. Wer sich allerdings eher als aktiven Fahrer sieht, dem bei einer sauber gefahrenen Linie in einer richtig schräge Kurve das Herz aufgeht, der sich aber nicht an die Sitzposition bei einem Sportler gewöhnen kann oder will, der könnte mit der Navigator richtig liegen.
Cagiva NavigatorCagivas Bolide besticht mit einem exzellenten Fahrwerk. Zusammen mit dem drehfreudigen 1000er-V2, der über eine Saugrohreinspritzung befeuert wird, be- kommt man den Stoff, aus dem lustvolle Kurvenhatzen gemacht werden. Das Vorderrad wird dabei von einer verwindungssteifen 45er- Telegabel geführt. Die gebotenen 150 Millimeter Federweg sind nur wenig mehr als sie ein „reines” Straßenmotorrad aufweist, von einer richtigen Enduro weit ent- fernt. Verstellmöglichkeiten sind an der Gabel keine vorhanden und wurden von uns dank der gelungenen Serienabstimmung auch nicht vermisst. Die Zweiarm-Alu- schwinge am Heck bietet mit 160 Millimetern Federweg da schon ein wenig mehr Hub. Das Federbein kann in Federbasis und Zugstufendämpfung justiert werden, wobei eine hydraulische Hilfe (oder ähnliches) für die Vorspannung leider fehlt. Der Serientrimm passt im Alltag allerdings auch hier sehr gut, und so wird das Fehlen nur vor einer längeren Reise zu zweit und mit Gepäck zum Ärgernis.
Als reinrassiges Fernreisemotorrad wollte Cagiva die Navigator aber offenbar eh nicht am Markt platzieren, denn dann hätte man sich auch bei anderen Ausstattungsdetails mehr Mühe gegeben. So wird zwar ein Koffer-/Topcase-System angeboten, doch wer versucht, eine Gepäckrolle auf dem Original-Träger festzuzurren, wird schnell Probleme bekommen, denn Spannriemen finden keinen richtigen Halt. Mecker muss sich Cagiva auch für den Seitenständer gefallen lassen, der sich nur umständlich ausklappen lässt. Im Cockpit vermisst man Zeit- und Tankuhr und durch die enge Abstufung, die kleinen Zahlen und die schlechte Entspiegelung lässt sich der Tacho nur schwer ablesen. Spätestens an der nächsten Zapfsäule nerven auch die beiden Tankverschlüsse, die aufgrund der zu eng bemessenen Verbindungsleitung zwischen den Tankhälften beide befüllt werden wollen. Andernfalls dauert das Spritfassen qualvoll lange. Das Fehlen des Hauptständers lässt das Ablesen des rechts unten am Motor platzierten Ölschauglases zum Balanceakt werden und die Sitzbank nimmt bei Regen Wasser auf, um es in Trockenzeiten durch die Nähte wieder abzugeben. Cagivas Navigator hat also mit Detailmängeln zu kämpfen, die man in der Presse zwar verschweigen könnte, doch dann würde sich das Werk sicher auf den Lorbeeren ausruhen, die der Rest der Maschine einheimst.
Cagiva NavigatorBei der fröhlichen Landstraßenblaserei treten die kleinen Unzulänglichkeiten schnell in den Hintergrund. Die äußerst bequeme Sitzposition ermüdet den Fahrer auch auf langen Strecken nicht und die rahmenfeste Verkleidung bietet einen bemerkenswert guten Windschutz bei erträglichen Turbulenzen. Autobahndauer- reisegeschwindigkeiten von 150 bis 170 km/h stellen kein Problem dar und wenn es sein muss, schiebt das Suzuki Triebwerk die Navigator auch deutlich über die 200 km/h-Markierung. Fahrer von Sportbikes sollten auf der Landstraße stets auf der Hut sein, denn taucht die schmale Silhouette der Navigator in den Rückspiegeln auf, könnte ein netter kleiner Fight anstehen. Fleißige Schaltarbeit im gut abgestuften Navigator-Getriebe ist dabei zwar nicht unbedingt notwendig, bringt aber mehr Adrenalin ins Blut, denn oberhalb von 5000 U/min verwöhnt einen die Cagiva mit brachialem Druck (ohne untenherum schlapp zu wirken). Lässt der Cagiva-Pilot seinen Twin ordentlich fliegen, wird er allerdings mit einem Problem konfrontiert, mit dem er sicherlich nicht gerechnet hat: die Fußrasten begrenzen die Schräglagenfreiheit. Ein wenig weiter hinten und ein klein wenig höher – die Bequemlichkeit würde kaum drunter leiden und die letzten drei Millimeter der Reifenlauffläche müßten auch noch dran glauben.
Wer viel heizt, der viel bremst. Kein Problem mit der Navigator. Vorne eine kräftige Doppelscheibe, hinten ein defensives Solo-Pendant, das Ganze passend zum Motor aus Nippon – damit lässt es sich leben. Den einstellbaren Bremshebel (ebenso den Kupplungshebel) schreiben wir Cagiva zusätzlich auf dem Pluspunktekonto gut. Dort verbuchen wir auch die Zweijahres-Garantie ohne Kilometerbegrenzung, den gelungenen Sound aus den beiden Endschalldämpfern und die passable Soziustauglichkeit.
Was bleibt unterm Strich? Für 18.785 DM hat Cagiva ein schnittiges Motorrad auf die Räder gestellt, das ausstattungsmäßig der etablierten Reiseenduro-Konkurrenz zwar ein wenig hinterherhinkt, fahrwerks- und motortechnisch jedoch absolut begeistert. BMW, Honda und Triumph haben einen ernstzunehmenden Mit- bewerber bekommen, den man wahlweise in blau oder (rost)rot ruhig mal zur Probe fahren sollte. Da stellt sich letztendlich natürlich die Frage, warum Suzuki so einen langbeinigen Kurvenräuber nicht in Eigenregie auf den Markt gebracht hat.