aus bma 09/98

von Klaus Herder

Mein Verhältnis zu italienischen Produkten und italienischer Lebensart ist etwas gespalten. Eine kleinere Anekdote verdeutlicht das vielleicht: Eine Dienstreise führte micht jüngst nach Riva am Gardasee. Der Initiator dieser Aktion hatte für mich ein Zimmer im besten Haus am Platz reserviert. Vier-Sterne-Hotel,Cagiva Gran Canyon 900 Luxusklasse – alles vom Feinsten. Das Zimmer war ein Traum: jede Menge Platz, tiefe Teppiche, beste Materialien, geschmackvoll abgestimmte Farben. Das Badezimmer paßte dazu: ein Tanzsaal aus Marmor, rechts die Riesen-Dusche. In der Mitte ein Bidet, links der großzügige Waschtisch. Doch fehlte da nicht noch was? Richtig. Keine Panik, es gab eine Toilette, doch die muß im letzten Moment ganz hinten links im Eck montiert worden sein. Auf dem Teil ließ sich nur schräg Platz nehmen und selbst dann mußte man die Beine umständlich unterm Waschtisch einfädeln. Tja, so isser, der Italiener. Genie und Wahnsinn – immer eng beieinander. Oder vielleicht doch nicht? Schließlich gibt’s auch in Deutschland Pfusch am Bau.
Oder, um endlich aufs Motorrad zu kommen: Auch teutonische Vernunftbikes halten nicht immer das, was ihr Kruppstahl-Image verspricht. Doch bei italienischen Motorrädern war in der Vergangenheit die Wahrscheinlichkeit immer ungleich höher, sich bereits kurz nach dem Erwerb einer sensiblen Schönheit über irgendwelche schlecht gemachten Details ärgern zu müssen. Ein Teil der Kundschaft log sich dann quasi als Eigenschutz jahrelang selbst in die Tasche und akzeptierte offensichtliche Schlampigkeit als vermeintliche Lebensart. Der Rest kaufte dann doch schweren Herzens ein japanisches Produkt oder mußte BMW fahren.
Doch mit dem „Ist-ja-schließlich-eine-Italienerin”-Geschwafel kann es bald ein Ende haben. Dafür sorgt ausgerechnet der noch vor knapp zwei Jahren imagemäßig und finanziell schwer angeschlagene Cagiva-Konzern. Das Unternehmen aus dem nordwestlich von Mailand gelegenen Varese stellte mit der Gran Canyon 900 eine Reisemaschine auf die Räder, die sich hinter italienischen und deutschen Urlaubspartnern nicht verstecken braucht.

 

Cagiva Gran Canyon 900Der Reihe nach: Der Motor ist ein reinrassiger Ducati-Twin. Der luft-/ölgekühlte V-Zweizylinder wird vom ehemaligen Tochter-Unternehmen in der neuen 900 SS verbaut. Bevor er die Gran Canyon in Wallung bringen durfte, mußte der von einer elektronisch gesteuerten Weber-Saugrohreinspritzung (warum ohne Katalysator?) befeuerte 900ccm-Viertakter allerdings etwas Federn lassen. Zumindest leistungsmäßig, denn aus den 80 PS im Ducati-Trim wurden 68 PS im Cagiva-Outfit. Diese Pferdestärken galoppieren bereits bei 7000 U/min, die Duc braucht 500 Touren mehr. Eigentlicher Grund für die Leistungsbeschränkung ist aber eine im Gegenzug deutlich fülliger gestaltete Drehmomentkurve. Im Vergleich: Die Ducati stemmt 79 Nm bei heftigen 7000 U/min, die Cagiva benötigt nur 5000 U/min, um 73 Nm auf die Kurbelwelle zu wuchten. Was das in der Praxis bedeutet? Durchzug ohne Ende. Die Elastizität der Gran Canyon ist hervorragend. Zwischenspurts erledigt der vollgetankt immerhin 232 Kilogramm schwere Brocken äußerst souverän und ledert leistungsmäßig überlegene Wettbewerber vom Schlage einer TDM 850 gnadenlos ab.
Bevor durchgezogen werden darf, muß das Ding allerdings erstmal laufen. Kein Problem, das Startverhalten ist tadellos. Der Arbeitsplatz ist es auch. Handbrems- und Kupplungshebel lassen sich unterschiedlichen Fingerlängen anpassen, der Lenker ist angenehm breit und goldrichtig gekröpft, und im kompletten Cockpit verrät eine Analoguhr, was die Zeit geschlagen hat. Sonne im Rücken läßt die Instrumente allerdings stark spiegeln, die kleinen Kontrollampen sind dann kaum mehr zu erkennen.
Leicht vornübergebeugt dreht der Fahrer am Hahn und muß recht kräftig zulangen, um die Trockenkupplung auszurücken. Los geht’s. Die Gasannahme ist perfekt. Spontan und willig reagiert der Twin auf Befehle der rechten Hand. Kein Ruckeln, kein Klappern, der 900er Motor ist ein Musterknabe in Sachen Ansprechverhalten und Laufruhe. Ab 2000 U/min züngeln die ersten Flammen, oberhalb von 5000 U/min flackert’s schon richtig heftig, kurz vor der 8000er Marke brennt alles lichterloh. In km/h bedeutet das: bis 170 im Schnelldurchlauf, ab 180 zäh, bei Tacho 190 ist Feierabend.
Cagiva Gran Canyon 900Auf der Autobahn sind die sehr lang übersetzten Gangstufen fünf und sechs nerven- und gehörschonend. Auf der Landstraße ist der vierte Gang für fast alle Situationen goldrichtig. Das Getriebe läßt sich leicht und exakt schalten. Egal, in welchem Gang – der Ducati-Motor läuft äußerst kultiviert, aber er ist nie langweilig. Daß ein kerniger V-Zwei im Rahmen hängt, bleibt jederzeit angenehm spürbar. Stichwort Rahmen: Die Brücken-Konstruktion aus rechteckigen Stahl- und Aluprofilen ist im Grundaufbau von der Elefant bekannt. Kürzere Federwege (170 Millimeter vorn und hinten) und geringere Werte für Radstand und Nachlauf sind die wesentlichen Unterschiede. Vorn arbeitet eine feinfühlig ansprechende 45er Marzocchi-Gabel, an der Aluschwinge sitzt ein über ein Hebelsystem angelenktes Zentralfederbein von Sachs-Boge. Das komfortabel abgestimmte Teil läßt sich in der Federbasis und Zugstufendämpfung verstellen.
Die spielerische Handlichkeit und der hohe Komfort der Gran Canyon machen flotte Landstraßenprügelei zum Kinderspiel. Mit der von Nissin-Bremssätteln äußerst kräftig in die Zange genommenen Doppelscheibenbremse läßt sich sehr spät in die Kurve hineinbremsen, dank der spontanen Gasannahme und des bulligen Durchzugs geht es dann ziemlich zügig aus der Kurve hinaus. Die Gran Canyon ist ein extrem fahraktives Gerät. Big-Bikes-Jagen wird mit ihr zur Lieblingsbeschäftigung. Die in der Erstausrüstung montierten Pirelli MT 80 RS sind für die Landstraßenbolzerei hervorragend, stoßen im Gelände aber recht frühzeitig an ihre Grenzen.
Cagiva Gran Canyon 900Die Gran Canyon ist das ideale Gerät für die Wir-fahren-mal-kurz-in-die-Alpen-Tour. Der Ausgangsort für solche Unternehmungen darf dann auch ruhig im nördlichsten Norddeutschland liegen, denn die Gran Canyon macht auch stundenlange Autobahnetappen klaglos mit. Der Soziuskomfort ist gut, der Windschutz eher mäßig aber verwirbelungsfrei und der Geradeauslauf tadellos. 218 Kilogramm erlaubte Zuladung reichen völlig aus.
Der Verbrauch ist mit knapp sechs Litern Superbenzin bei Autobahnrichtgeschwindigkeit gerade noch akzeptabel. Die Reichweite fällt dank 20-Liter-Tank recht ordentlich aus. Weniger gut ist allerdings, daß die sechs Liter Restmenge nicht über einen Benzinhahn aktiviert werden, sondern nur eine Warnleuchte deren Einsatz verrät. Die zwei Tankverschlüsse sind ein netter Gag und stören nicht großartig.
Was allerdings stört, ist der einigermaßen heftige Kaufpreis von 18495 Mark – eine Africa Twin oder die TDM sind über 2000 Mark günstiger. Wir trösten uns damit, daß wenigstens die BMW R 1100 GS noch über einen großen braunen Schein mehr kostet und nicht so gut aussieht. Die Gran Canyon ist eben in einigen Punkten noch typisch italienisch.