aus bma 04/04

von Klaus Herder

Buell XB 12 RBitte stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie besuchen die Pressekonferenz eines japanischen Konzerns und begegnen nach der Veranstaltung auf dem Weg zum Klo zufällig dem Honda-Boss (Kawasaki-, Suzuki-,Yamaha- oder BMW-Boss geht auch). Ihnen fällt ein, dass Sie eigentlich noch ein paar aktuelle Fotos dieses Herrn brauchen und bitten ihn darum, mal eben kurz mit vor die Tür zu kommen. Dort steht zufällig ein Kinderkarussell, und es wäre doch ganz nett, wenn ebendieser Boss kurz aufs Karussell steigen und dazu vielleicht ein paar Grimassen ziehen könnte. Was glauben Sie, wie der Mann reagieren würde? Eben. Und genau deshalb gibt es auch keine Karussell-Fotos mit japanischen Bossen. Aber genau deshalb gibt es eine Honda Deauville.
Jetzt streichen Sie beim geschilderte Szenario bitte den japanischen Konzern, ersetzten ihn durch Harley-Davidson, machen aus dem Honda-Boss einen Erik Buell und raten, was dabei herauskommt. Brillante Fotos kommen dabei heraus. Aufgenommen beim 100-Jahre-Harley-Jubiläum 2003 im Hamburger Freihafen. Und das alles ohne wochenlang zuvor gemachten Termin, ohne Pressereferenten und ohne große Fragerei. Der Typ ist schließlich US-Amerikaner. Ich mag japanische Perfektion, aber ich liebe die abgedrehten und so wunderbar einfachen Amis. Okay, sie haben einen nicht gewählten Ex-Alki und schießwütigen Legastheniker als Präsidenten, aber sie haben auch Erik Buell. Das versöhnt.

 

Eriks jüngstes Machwerk ist die Buell XB12R. Jede japanische 600er fährt Kreise um den US-Hobel. Die Qualität der Erstbereifung des Ami-Eisens wurde in der Geschichte des Motorrads nur ein einziges Mal unterboten: 1974 durch Pneumant bei der Markteinführung der MZ TS 250. Die im offiziellen Buell-Sprachgebrauch „Translucent Amber” genannte Lackierung der Räder läuft umgangssprachlich unter „Schwuchtelgold” und bildet zusammen mit dem grellen „Racing Red” der Kunststoffteile eine nur schwer zu ertragende Farbkombination. Aber: In Verbindung mit der Wunschlackierung „Midnight Black” sieht „Durchscheinender Bernstein” schon deutlich gefälliger aus. Die Sache mit dem berüchtigten Dunlop D 207 lässt sich auch ganz einfach aus der Welt schaffen: Dunlop D 208 montieren, schon ist die extreme Aufstellneigung beim Bremsen in Schräglage verschwunden, und das Einlenken klappt spürbar leichter.
Buell XB 12 RDoch soweit sind wir eigentlich noch gar nicht. Wer über Buell schreibt, muss ein paar einleitende Worte zum aktuellen Geschehen in der Buell-Szene verlieren. Bitteschön: Seit dem Modelljahr 2002 gibt es zwei Buell-Welten, und die Buell-Zeitrechnung unterscheidet zwischen Vor-XB-Ära und Ab-XB-Ära. In der Buell-Steinzeit entstanden so wunderbare Dauer-Baustellen wie S1, M2, S3 und die schon etwas pflegeleichtere X1. Die Fahrer dieser unter dem Oberbegriff „Rohrrahmen-Modelle” laufenden Schätzchen bilden eine verschworene Leidensgemeinschaft, die im Internet als „Buell Owner & Repair Group” recht unterhaltsam Trauerarbeit leistet und auf Begriffe wie „Ölpumpenritzel” und „Recall” etwas gereizt reagiert. Die Rohrrahmen-Bueller sind die selbsternannte Buell-Elite, XB-Fahrer werden von ihnen nicht ganz ernst genommen.
Die schrauben nämlich weniger, fahren dafür aber mehr, weil ihre XB9R oder XB9S einfach so ab Werk funktionieren. Das macht die durchweg jüngeren XB-Fahrer in den Augen der Buell-Gralshüter natürlich schwer verdächtig. Unglücklicherweise bedienen sich die XB-Fahrer im Internet einer etwas – nun ja – infantilen Kommunikationsform (Smilies!), was sie für die intellektuelleren Alt-Bueller zu dankbaren Opfern macht. Doch die Fronten sind in Bewegung, es gab bereits vereinzelte Fälle von Rohrrahmen-Verrat und Wechseln ins XB-Lager. Und davon dürfte es in Zukunft noch mehr geben, denn mit der Einführung der XB12 ist Buell hubraummäßig wieder da, wo für deutschen Buell-Fans 1997 alles begann: bei den vollen und einzig wahren 1200 Kubik.
Eine simple Hub-Verlängerung machte es möglich. Während die XB9-Kolben noch einen Arbeitsweg von 79,4 mm zurücklegen, sind es bei der XB12 satte 96,8 mm. Bohrung (88,9 mm) und Verdichtung (10:1) blieben unverändert. Heraus kamen exakt 1203 ccm Hubraum und 101 PS, die bei 6600 U/min anliegen (XB9: 984 ccm und 84 PS bei 7400 U/min). Das bei 6000 U/min anstehende maximale Drehmoment ist mit 110 Nm nun auch dreistellig. Die 9er stemmte 86 Nm bei 5600 U/min.
Doch die Hubraumerweiterung allein war’s nicht, die den Sprung über die wichtigen 100-PS- und 100-Nm-Hürden ermöglichte. Viel Feinarbeit auf der Ansaug- und Abgasseite war erforderlich, um aus dem drehfreudigen Kurzhuber XB9 den bulligen Langhuber XB12 zu stricken. Für die Gemischaufbereitung des luftgekühlten V-Twins sorgt zwar auch in der XB12 eine elektronisch gesteuerte Kraftstoffeinspritzung, doch deren Drosselklappenkörper misst nun 49 statt 45 mm. Der Durchmesser der fetten Krümmer wuchs von 38,1 auf 44,5 mm. Stärkere Kupplungsfedern sichern den Kraftfluss, und eine längere Primärübersetzung wird der geänderten Motorcharakteristik gerecht. Das unterm Motor platzierte Auspuff-Ofenrohr ist bei der XB12 mit einer elektronisch gesteuerten Drosselklappe bestückt, die abhängig von Drehzahl und Gasgriffstellung den Abgasstrom im Schalldämpferinneren steuert. Bei niedrigen und hohen Drehzahlen gibt die clevere Auslasssteuerung den Weg relativ direkt frei, bei mittleren Drehzahlen geht’s fürs Abgas drehmomentsteigernd durch drei Kammern. Die Feinarbeit an Einlass- und Auslassseite glückte Buell dermaßen gut, dass die XB12 auch ohne Kat und/oder Sekundärluftsystem die Euro-2-Abgasgrenzwerte deutlich unterbietet.
CockpitBereits bei der XB9 schworen die Buell-Verantwortlichen, dass es sich beim Motor um eine völlige Neukonstruktion handeln würde. Die 45 Grad Zylinderwinkel, die vier untenliegenden Nockenwellen, die Stoßstangen, Kipphebel und je zwei Ventile pro Zylinder und natürlich auch die Hydrostößel entsprachen natürlich rein zufällig den entsprechenden Baugruppen einschlägiger Harley-Sportster-Motoren. So gesehen ist auch der XB12-Motor natürlich ein relativ moderner Motor, und dass man jetzt auch in Sachen Bohrung und Hub wieder dem alten Milwaukee-Twin nacheifert, ist natürlich ebenfalls purer Zufall. Das Fünfganggetriebe stammt allerdings wirklich noch aus alten Zeiten und tat bereits in der Vor-Vorgängerin der XB12 Dienst. Beim 2004er-Jahrgang erleichtert aber ein verlängerte Schalthebel-Ausleger die Fußarbeit. Konzentriertes und nachdrückliches Schalten ist aber immer noch gefragt, sonst landet man unweigerlich irgendwo zwischen den Gängen. Der Kupplungshebel ist natürlich immer noch nicht verstellbar. Wozu auch, zum Bedienen der Kupplung sind ohnehin kräftige XL-Pranken von Vorteil, und solche Hände haben nun mal keine Probleme mit weit abstehenden Hebeln.
Beim Fahrwerk verfolgte Buell aber immer schon sein ganz eigenes Ding. Der Aluguss-Brückenrahmen der XB9 war tatsächlich revolutionär und ist immer noch so modern, dass er auch für die XB12 taugt. Die 14 Liter Kraftstoffvorrat werden also auch bei der XB12 in den Rahmenprofilen links und rechts schräg unterhalb des Lenkkopfs gebunkert. Das senkt den Schwerpunkt, spart (Tank-) Material und Masse und schafft zudem Platz für die unter der Tankattrappe steckende Airbox. Die 3,8 Liter Schmierstoff der Trockensumpfschmierung sind wie bisher im linken Profil der Leichtmetallschwinge untergebracht. Und die ist wiederum direkt im Motorgehäuse gelagert. Rahmen und Schwinge werden für Buell übrigens in Italien gefertigt.
Die Federelemente hingegen sind feinste Fernost-Ware, die über einen sehr weiten Bereich voll einstellbaren Teile kommen von Showa. XB9 und XB12 haben völlig identische Fahrwerksdaten, also ultrakurze 1320 mm Radstand, ziemlich steile 69 Grad Lenkkopfwinkel und gerade mal 84 mm Nachlauf. Fahrfertig und vollgetankt wiegt die XB12R (also die halbverschalte XB; die nackte, technisch praktisch identische Ausführung heißt XB12S) 209 Kilogramm und damit rund drei Kilo mehr als die XB9R. Die etwas üppigeren Auspuff-Innereien, die geänderte Kurbelwelle und der etwas breitere Zahnriemen (14 statt 11 mm) sind unter anderem fürs Mehrgewicht verantwortlich.
Die Bremsanlagen der XB9 und XB12 sind baugleich. Über einen einstellbaren Handbremshebel lässt sich die Vorderradbremse sehr feinfühlig dosieren, ihre Wirkung ist hervorragend. Muss sie auch, denn mit 375 mm Durchmesser und gewaltigem Sechskolben-Bremssattel sieht der Vorderrad-Stopper auch ziemlich wichtig aus. Noch immer ist die XB das einzige Serienmotorrad mit einer schwimmend gelagerten Bremsscheibe, die direkt mit der Felge verbunden ist. Radnabe und Speichen müssen bei der XB keine Bremskräfte übertragen, können also entsprechend kleiner dimensioniert sein, was wiederum Gewicht spart.
Buell XB 12 RDie Sitzposition auf der XB12R ist sehr, sehr versammelt. Der Lenker liegt nicht zu tief und ist nicht allzu weit vom Fahrer entfernt. XB12R-Treiber sollten nicht mehr als 1,85 bis 1,90 m messen. Längere Buell-Fans sind mit der luftigeren XB12S etwas besser bedient. Die Spiegel-Ausleger des 2004er-Jahrgangs sind deutlich praxisgerechter als zuvor geformt. Sehr nett ist übrigens, dass Buell im Rahmen der Modellpflege allen XB-Modellen auch einen neuen, bedienungssicheren Seitenständer und tiefer angebrachte Beifahrerfußrasten spendierte. Die Sache mit den Rasten ist besonders amüsant, da sich an der grundsätzlichen Untauglichkeit des winzigen Soziusbrötchens gottlob nichts getan hat. Die XB ist und bleibt ein Gerät für Einzeltäter.
Und der muss sich zumindest motormäßig kräftig umgewöhnen, sollte er bereits die XB9 kennen. So ähnlich die beiden Maschinen technisch auch sein mögen, so grundverschieden sind ihre Charaktere. Die Gasannahme ist bei beiden XBs wunderbar direkt, doch wo bei der XB9 ein leicht hochdrehender, fast schon turbinenartig arbeitender Fast-Sportmotor am Werk ist, wird die XB12 von einem kernigen Bulldozer-Antrieb vorangetrieben. Die XB12 surft auf einer gewaltigen Drehmomentwelle, ab 2000 Touren geht’s bärig voran, und bereits bei 3000 U/min stehen 95 Nm zur Verfügung. Mit noch mehr Druck geht’s zügig weiter, doch schon knapp unterhalb von 7000 U/min setzt der Drehzahlbegrenzer dem Treiben ein jähes Ende. Das wirkt anfangs arg ungewohnt, denn ausgerechnet auf dem Leistungshöhepunkt wird der XB12 der Saft abgedreht. Etwas mehr Spielraum nach oben wäre nett gewesen, doch der 12er-Fahrer lernt sehr schnell, mehr vom Drehmoment und weniger von absoluter Spitzenleistung zu leben. Für den lustvollen Landstraßenbetrieb ist der 12er-Antrieb maßgeschneidert, dort kommt man erst gar nicht in die Verlegenheit, das kernig bollernde Urviech in den Begrenzer zu jagen. Beim Durchzug tütet die XB12 die kleine Schwester deutlich ein, bei den absoluten Fahrleistungen schenken sich 9er und 12er aber nur wenig. Beide sind in unter vier Sekunden aus dem Stand auf Tempo 100. Die XB9 macht bei rund 210 km/h Feierabend, die XB12 rennt 217 km/h. Recht sparsam mit dem Sprit gehen beide um. Wer auf 100 Kilometern mehr als sechs Liter abfackelt, macht etwas Grundlegendes falsch.
Für welche der beiden Schwestern soll sich der schwer infizierte Buell-Fan also entscheiden? Wer als Landstraßen-Kurvenräuber den brutalen Kick der frühen Buell-Tage sucht, braucht unbedingt die XB12R. Die 12er macht fahrspaßmäßig dort weiter, wo die selige S1 aufgehört hat. Wer sich aber ab und an bei Renntrainings herumtreibt, sollte vielleicht doch lieber zur 9er greifen. Die kostet immerhin 1060 Euro weniger als die 11.499 Euro teure XB12R. Das gesparte Geld lässt sich hervorragend in ein original Race-Kit investieren, mit dem die XB9 noch etwas freier bläst. Die XB9 hat den „moderneren” Motor, die XB12 besitzt den urigeren Antrieb. Buell hat jetzt beides im Programm: Country und Western.
Dass diese Motorräder von einem etwas verrückten, recht spontanen, ausgesprochen lebenslustigen und insgesamt sehr sympathischen Ami konstruiert wurden, merkt man ihnen glücklicherweise auf jedem Meter an.