aus Kradblatt 2/23 von Michael Praschak, www.asphalt-süchtig.de

BMW S 1000 RR
BMW S 1000 RR, Modelljahr 2023

Wer hätte das erwartet: seit der Einführung der ersten S 1000 RR im Jahr 2009 hat BMW die Produktpalette konsequent in Richtung Sport und für eine jüngere Zielgruppe entwickelt, die 2020 vorgestellte Neuauflage der S 1000 R ließ aber die letzte Konsequenz vermissen und wirkte eher wie ein Schritt zurück in alte Zeiten. Mit „nur“ 165 PS machte die nackte S im Vergleich zu den Ü-200-PS Power Nakeds wie einer Ducati Streetfighter oder Aprilia Tuono einen fast zahmen Eindruck. Auch optisch hätten sich sicher viele Fans der ersten S-R-Generation mehr Mut erhofft. Für die Saison 2023 erweitern die Münchner nun ihre Modellpalette und schieben neben der überarbeiteten S 1000 RR mit der brandneuen M 1000 R auch das stärkste Serien-Naked Bike der Welt an den Start.

BMW M 1000 R, Modell 2023
BMW M 1000 R, Modell 2023

Doch fangen wir vorne an. Wie schon die S 1000 R Modelle baut auch die neue M 1000 R auf der Doppel-R auf, ist dabei aber so nah am Superbike, wie keiner der bayrischen Roadster zuvor. Das Beste an der Sache: egal, ob Motor und Getriebe, Bremse oder Elektronik – die M-R entspricht über weite Teile fast eins zu eins der vollverkleideten Basis. Aber was ist neu am 2023er Supersportler?

BMW verleiht Flügel, mehr Leistung und eine bessere Elektronik.

Das an der M-Variante angelehnte Aerodynamikpaket mit den mächtigen Flügeln links und rechts an der Verkleidung der überarbeiteten S 1000 RR ist sicher der offensichtlichste Unterschied zum Vorgängermodell. Das Winglet verläuft bei der neuen S aber auch unterhalb der Lampenmaske über die ganze Breite der Front und soll laut BMW für bis zu 10 Kilogramm mehr Anpressdruck sorgen. Zusätzlich erhielt der Supersportler eine höhere Scheibe sowie eine neu designte Heckpartie.

BMW M 1000 R auf der Landstraße Motorseitig fallen die Änderungen überschaubar aus. Der Zylinderkopf verfügt jetzt über eine neue Einlasskanalgeometrie, die vom M 1000 RR Triebwerk abgeleitet wurde. Auch die neue Airbox sowie die nun kürzeren Ansaugtrichter stammen direkt aus dem Topmodell. In Kombination mit der bewährten ShiftCam-Technologie liefert das Aggregat jetzt 210 PS. Bei der Doppel-R fällt das Leistungsplus mit drei PS also gering aus. 

Ganz anders beim Naked Bike, das nun exakt die gleichen Leistungswerte hat wie der Supersportler. Das maximale Drehmoment steht bei der M 1000 R jetzt zwar erst bei 11.000 Touren an und fällt mit 113 Newtonmeter minimal geringer aus als bei der S 1000 R (114 Nm bei 9.250 U/min), bei der Spitzenleistung legt sie im Vergleich zur S-R aber um mächtige 45 PS zu. Um die zusätzlichen Pferde im Zaum und das Vorderrad auf Kurs zu halten, bekam auch die M-R zwei ausladende Flügel verliehen.

Winglets an der M 1000 R
Winglets an der M 1000 R

Mindestens genauso bemerkenswert wie die Leistung des Naked Bikes, das von BMW fast untertreibend „Dynamic Roadster“ genannt wird, ist das Elektronikpaket der neuen Modelle. Hier teilen sich M 1000 R und S 1000 RR die dynamische Traktionskontrolle DTC, die Wheelie-Control, die Launch-Control, das Kurven-ABS, die Dynamic Brake Control und den Berg-Anfahr-Assistent. 

So weit, so bekannt aus der „alten“ S 1000 RR. Bei beiden neu an Bord ist jetzt ein Brake Slide Assist, der mit Hilfe der neuen Motorschleppmoment‑
regelung (MSR) nun perfekte Anbremsdrifts erlaubt. Hierfür nutzen beide Modelle die Kombination von MSR und ABS und regeln in Abhängigkeit von der Schräglage den Bremsdruck am Hinterrad sowie das schräglagenabhängige Schlupffenster des ABS, um so für das Hinterrad begrenzt den Weg zur Seite freizugeben.

Nur der neuen Doppel-R vorbehalten sind die neue Slide Control und der Slick-Modus sowie ein Stoppie-Feature für das ABS Pro. Damit die Slide Control ihren spektakulären Dienst verrichten kann, verfügt die Doppel-R ab 2023 über ein neues Bauteil mit dem eher langweiligen Namen „Lenkwinkelsensor“. 

Neu: der Lenkwinkelsensor an der S 1000 RR
Neu: der Lenkwinkelsensor an der S 1000 RR

Mit der damit ermittelten Information über den Lenkwinkel, der gefahrenen Geschwindigkeit und weiteren Parametern aus der Sensorbox kann so für das Hinterrad der Schräglaufwinkel errechnet werden. Arbeitet das System in den Straßenmodi RAIN, ROAD, DYNAMIC unbemerkt im Hintergrund, erlaubt es laut BMW im RACE Mode und bei kundiger Gashand tatsächlich perfekte Beschleunigungsdrifts sowie das Lenken über das Heck und soll auch noch bei schwindendem Grip die maximale Performance aus den Reifen herausholen können.

Für diejenigen, die mit Slicks auf der Rennstrecke unterwegs sind, wurde das ABS Pro um einen Slick-Modus erweitert. Dieser soll dem hohen Grip-Niveau aktueller Rennreifen gerecht werden und den Spagat zwischen maximaler Verzögerung bis zum Kurvenscheitel und gleichzeitig reduziertem Sturzrisiko ermöglichen. Dabei haben die BMW-Ingenieure sogar an den spektakulären Auftritt in der Boxengasse gedacht. So soll das System auf der Strecke zwar ein zu starkes Abheben des Hinterrades verhindern, bremst man jedoch bei Geschwindigkeiten unter 50 km/h, erlaubt es aber Stoppies und greift erst dann ein, wenn ein Überschlag nach vorne droht. 

Also Rennstrecke für Jedermann? Das klingt so, als könnte mit der neuen S 1000 RR wirklich jeder spektakulär schnell fahren. Mitnichten! Um in den Genuss der Unterstützung der Regelsysteme zu kommen, muss man das Motorrad selbst in den Grenzbereich bringen – und zwar kontrolliert! Das ist aber alles andere als einfach, da das Zusammenspiel aus Motorrad, Reifen und Regelsystemen heute so gut funktioniert, dass auch zügige Hobbyfahrer kaum in die Nähe des Grenzbereichs kommen. Und wenn, dann nur noch auf der Rennstrecke.

Bremsanlage der M 1000 R
Bremsanlage der M 1000 R

Passenderweise fand die Präsentation der überarbeiteten S 1000 RR und der neuen M 1000 R an der Rennstrecke im südspanischen Almeria statt. Während die M 1000 R vorrangig auf den kurvigen Landstraßen und nur einen Turn auf dem anspruchsvollen Kurs gefahren wurde, war mit der S 1000 RR ausschließlich „Slicks and Sunglasses“ angesagt. Neben Sonne satt und „winterlichen“ Temperaturen um die 20 Grad gab es am Doppel-RR-Tag klebrige Slicks von Bridgestone für die Motorräder und Profi-Racer als Instruktoren für die angereisten Journalisten. Aber die besten Bedingungen helfen wenig, wenn – wie bei mir – nach einem Sturz beim letzten Rennstreckeneinsatz noch das Vertrauen fehlt. Aber hierfür gibt es ja die RR …

 BMW typisch ist auch am Modelljahr 2023 alles da, wo es hingehört. Hände und Füße finden wie von alleine ihren Platz, alles passt wie angegossen. Eigentlich muss man nur den Bremshebel einstellen und schon kann es losgehen. Aber halt! Auch das Schaltschema lässt sich dank einer Zusatzaufnahme am Schalthebel blitzschnell umkehren und damit rennstreckentauglicher machen. Also erster Gang nach oben und ab auf die Strecke. 

Die Doppel-R macht einem das Leben auf der Rennstrecke wie immer einfach, doch nach nur wenigen Kurven gibt es beim ersten Anbremsen die erste Überraschung. Durch den Zug am Bremshebel wird mehr Verzögerung generiert als das schlichte, mattschwarze Serienteil erwarten lässt. Die Erklärung findet sich in Form der nun serienmäßigen M-Bremssättel am unteren Ende der schwarzen Marzocchi Gabel. 

 Für Bremsmanöver benötigt man zwar etwas mehr Handkraft als bei einem echten Race Bike ohne ABS und mit direkter Verbindung zwischen Bremspumpe und Bremssattel, zwei Finger sind aber mehr als genug, um massive Verzögerung abzurufen. In Almeria ist das besonders auf der Geraden vor der letzten Schikane auffällig. Auch als normaler Fahrer erreicht man hier mit über 270 km/h und mehr den Bremspunkt, um das Bike dann für die letzte Rechts vor Start/Ziel auf um die 80 km/h abzubremsen. Eine Übung, die die Doppel-RR jedes Mal aufs Neue souverän meistert und so viel Vertrauen schafft.

TFT Display mit umfangreichen Funktionen
TFT Display mit umfangreichen Funktionen

Aber das ist nicht die einzige Paradedisziplin des Superbikes. Auch im kurvigen Mittelteil der Strecke weiß die BMW zu überzeugen und glänzt hier nicht nur mit Neutralität in jeder Schräglage. Hier fallen vor allem die Agilität und die Zielgenauigkeit auf, mit der sie sich von Radius zu Radius zirkeln lässt. Ob die Fahreigenschaften auf den überarbeiteten Rahmen zurückzuführen sind, der jetzt über zusätzliche Durchbrüche und dadurch höhere Flexibilität verfügt, ob es an der angepassten Fahrwerksgeometrie liegt – der Radstand wuchs auf 1.457 mm an, das Offset der Gabelbrücken wurde um 3 mm verringert und der Lenkkopf steht jetzt mit 66,4° ein halbes Grad flacher – oder ob es an den optional erhältlichen, leichten Carbonfelgen liegt, mit denen die S 1000 RR bei der Präsentation ausgestattet war, ließ sich nicht abschließend sagen. 

Was sich aber mit Sicherheit sagen lässt, ist, dass die M 1000 R auf der Rennstrecke nicht weniger begeistert als auf der Landstraße und fast noch mehr beeindruckt als die neue S 1000 RR. 

Halterung für GoPro & Co. ab Werk
Halterung für GoPro & Co. ab Werk

Während die Vorstellung der S 1000 RR ausschließlich auf der Rennstrecke stattfand, wurde die M 1000 R vorrangig auf der Landstraße bewegt. Dabei zeigt sich das aktuell stärkste Serien-Naked-Bike auf den ersten Kilometern so handzahm, dass man fast geneigt ist, dieses 210-PS Monster auch Führscheinneulingen ohne Angst anzuvertrauen. 

Was aufgrund des sehr zurückhaltenden Charakters im Fahrmodus ROAD und durch die ausgeklügelte Elektronik tatsächlich problemlos möglich wäre, wird durch das sensible Fahrverhalten dann doch relativiert. Die Kombination aus der nun sportlicheren Sitzposition mit dem breiteren, weiter nach vorne gewanderten Lenker und der extremen Handlichkeit der M 1000 R sorgt dafür, dass jede Bewegung auf dem Motorrad als Impuls aufgenommen und in eine spürbare Reaktion umgesetzt wird. Woran man sich als Routinier schnell gewöhnt und dann sogar als positive Eigenschaft wahrnimmt, kann bei unerfahreneren Piloten zu Unsicherheit führen. 

Volle Kontrolle über das Stellrad
Volle Kontrolle über das Stellrad

Hat man sich auf die M-R eingeschossen, beginnt man schnell, sich durch die Fahrmodi zu arbeiten und die beste Konfiguration zu suchen und kommt spätestens nach dem ersten Test des RACE-Modus auf der Rennstrecke zu Schluss, dass dieser bei optimalen Bedingungen die emotionalste Option ist. In dieser Einstellung fallen nicht nur alle Leistungsbegrenzungen, auch das Fahrwerk ist dann noch mal deutlich sportlicher und auch der dann rotzigere Sound aus dem schicken Akrapovič Titanendtopf lässt einem warm ums Herz werden. 

Richtig Feuer in der Hütte gibt es aber tatsächlich nur auf der Rennstrecke. Nur hier lässt sich das Gesamtpaket aus Fahrwerk, Elektronik und Motor voll auskosten. Gut, man kann die 282 km/h (!) Höchstgeschwindigkeit
 der M 1000 R auch auf der Autobahn ausfahren. Aber das wäre dem Motorrad irgendwie unwürdig. Maximalen Fahrspaß hat man auf der Nackten sicher dann, wenn man Superbike Fahrer ärgern kann. Vielleicht sogar einen Doppel-RR-Fahrer auf der Rennstrecke. 

Die überarbeite S 1000 RR und die neue M 1000 R sind nicht nur extrem leistungsstarke, sondern vor allem elektronisch sehr weit entwickelte High-End Motorräder, die – jede auf ihre Weise – absolute Fahrspaßmaschinen sind. Trotz des fehlenden Lenkwinkelsensors ist die M 1000 R dabei sicher das faszinierendere Bike, das auf der Landstraße und überraschenderweise auch auf der Rennstrecke voll zu überzeugen weiß. 

Beide Motorräder sind so ausgereift, dass auf der einen Seite unerfahrenere Motorradfans sicher damit fahren und Spaß haben, auf der anderen Seite aber auch erfahrene Rennstreckenpiloten auf ihnen ihre eigenen Grenzen noch verschieben können.

Preislich fängt die BMW S 1000 RR bei 20.420 € an, die nackte M 1000 R bei 22.600 €. Mit edlen Extras lassen sich beide Modelle im BMW-Konfigurator über die 30.000 € Grenze hieven. 

Drei Farben für die BMW S 1000 RR Jahrgang 2023
Drei Farben für die BMW S 1000 RR Jahrgang 2023