aus Kradblatt 8/14
von Klaus Herder

 

BMW S 1000 R: Vom Vorteil des Alterns

BMW-S1000R-FrontZu den ganz wenigen Vorteilen des Älter-, um nicht zu sagen Altwerdens gehört die Erkenntnis, dass einem die Meinung anderer eigentlich herzlich egal sein kann und dass man niemandem mehr etwas beweisen muss. Dinge, die einem früher megapeinlich gewesen wären, erscheinen plötzlich als durchaus machbar. Allerdings gibt es auch für den eindeutig in der zweiten Lebenshälfte stehenden Menschen Sachen, die gar nicht gehen. Für mich ist das (noch?) der Fernsehsessel. Und das, obwohl ich im Rahmen eines Dänemark-Ferienhausaufenthaltes die Segnungen einer solchen Sitzgelegenheit voll auskosten durfte: Man kann noch bequemer als auf dem Sofa herumlümmeln, und man schläft beim Fernsehen noch schneller ein. Herrlich! Aber trotzdem: Ein eigener Fernsehsessel ist für mich ein No-Go.

Ähnlich verhielt es sich für einige unter uns bislang mit dem Thema „Naked Bike“, also mit Motorrädern, die wir Älteren früher „Unverkleidete“ genannt haben. Zumindest dann, wenn die eigene Motorrad-Sozialisation dazu führte, dass man irgendwann einmal auf einem CBR-/GSX-R- oder ZX-R-Rennerle gesessen hat. Der Umstieg auf eine Nackte – womöglich sogar auf eine nackte BMW – ging gar nicht. Schlimmer wäre eigentlich nur noch der Wechsel zum Chopper/Cruiser gewesen, für Racer die zweiradgewordene Vorhölle und Vorstufe zum Großroller, dem bekanntlich vorletzten Fahrzeug, mit dem ein Mensch unterwegs sein kann. Danach kommt nur noch der große schwarze Kombi mit den Gardinen.

BMW-S1000RDie Abneigung der Heizer-Fraktion gegenüber typischen Naked Bikes hatte durchaus gute Gründe, denn ein solcher Umstieg wäre in der Vergangenheit fast immer ein (technischer) Abstieg gewesen. Zumindest gefühlt, denn gut abgehangene Uralt-Motoren in mit Billig-Federelementen bestückten Einfachst-Stahlrahmen waren nun wirklich nicht das, was der nun zwar schon etwas ältere, technisch aber immer noch anspruchsvolle Biker haben wollte. Doch irgendwann einmal ereilt auch den dynamischsten Gebückten das bittere Los des körperlichen Verfalls – Stichwort „Rücken“. Was oft dazu führte, dass GSX-R & Co immer öfter in der Garage stehen blieben und die liebgewordene Wochenendtour mit den Uralt-Kumpels aus fadenscheinigen Gründen („Dem Hund geht’s momentan nicht so gut, ich bleibe lieber zuhause…“) abgeblasen wurde.

Doch diese traurigen Zeiten haben nun ein Ende, denn BMW (ausgerechnet!) präsentierte mit der S 1000 R ein dermaßen scharfes Nackt-Eisen, dass es selbst den heißesten unter den noch etwas älter gewordenen Alt-Heizern nicht mehr peinlich sein muss, den Schritt von der gebückten zur aufrechten Fahrerhaltung zu wagen. Die S 1000 R ist nämlich weitaus mehr als nur eine S 1000 RR ohne Verkleidung. Sie ist ein Feuerzeug, das unter einem geübten Fahrer so ziemlich allen verschalten Sportgeräten das Leben mächtig schwer machen kann. Zumindest auf allen Strecken, die mit Nachnamen nicht „Ring“ oder mit Vornamen „Circuit“ heißen. Mit der S 1000 R hat BMW ein Motorrad auf die Räder gestellt, dass mit 12800 Euro Einstandspreis zwar satte 4150 Euro billiger ist als die vollverkleidete Schwester, aber eben nicht billig gemacht. Ganz im Gegenteil.

BMW S1000R CockpitDer äußerst attraktive Einstandspreis hat ganz sicher nichts mit einer plötzlich ausgebrochenen Menschenfreundlichkeit der Münchener Kaufleute zu tun, sondern dürfte dem Wettbewerbs-Umfeld geschuldet sein – als nackte Vierzylindermaschine hat man es überwiegend mit japanischen Wettbewerbern in ebendieser Preisklasse zu tun – doch dem S 1000 R-Käufer wird’s egal sein, warum er für deutlich weniger Geld praktisch alle wesentlichen Features des Supersportler-Platzhirsches Doppel-R bekommt. Motor, Fahrwerk, Bremsen – das ist auch bei der Einfach-R feinste Ware. Mit dem Runterreißen des Kunststoff-Leibchens und der Montage eines breiten Lenkers war es bei der Entwicklung der S 1000 R allerdings nicht getan. Hätte man so verfahren, wäre vermutlich ein unfahrbares Sensibelchen herausgekommen, bei dem radikal veränderte Aerodynamik und Radlastverteilung nicht wirklich zum digitalen Ansprechverhalten des auf Höchstleistung getrimmten Reihenvierers gepasst hätten.

BMW S1000R ABS ModulatorAlso widmeten sich die BMW-Techniker erst einmal der Fahrwerks-Geometrie. Zwar nicht dramatisch – der 11,98 Kilogramm leichte Alu-Brückenrahmen der RR blieb auf den ersten und auch zweiten Blick praktisch unverändert – und nur im Millimeterbereich, aber überaus wirksam: 120 mm Federweg an der Hinterhand sind 10 mm weniger als am Federbein der RR. Die Schwingenachse sitzt nun 3 mm niedriger im Rahmen, und die Hinterradachse wanderte im Zusammenspiel mit einer längeren Kette im Langloch des Kettenspanners etwas nach hinten. Diese überschaubaren, aber ziemlich cleveren Modifikationen bescherten der R einen um 0,8 Grad flacheren Lenkkopfwinkel, einen 5 mm längeren Nachlauf und einen um 22 mm längeren Radstand. Was wunderbar zu einer alten Segler-Weisheit passt: Länge läuft. So ganz nebenbei bekam die Hinterradfederung eine progressiver wirkende Hebelei verpasst, was der Einfach-R eine höhere Zuladung bescherte – sie darf immerhin 200 kg (statt 186 kg bei der RR) aufsatteln.

Beim Motor blieb ebenfalls alles etwas anders. „Drehmomentoptimierung“ lautete das Zauberwort. Basis ist natürlich der aktuelle (!) Reihenvierer der Doppel RR, der im straßenzugelassenen Trainingsanzug muntere 193 PS bei 13000/min leistet und maximal 112 Nm bei ­97­50­/min­ stemmt, als waffenscheinpflichtiger Wettbewerbsmotor aber auch für über 200 PS gut ist. Diese famose Verbrennungsmaschine bekam für den Einsatz in der S 1000 R einen neuen Zylinderkopf mit engeren Kanälen verpasst. Neue Nockenprofile mit steileren Ventilerhebungskurven sorgen dafür, dass die Brennräume bei niedrigen Drehzahlen besonders gut gefüllt werden. Unterm Strich kamen 160 PS bei nur noch 11000/min heraus, das maximale Drehmoment blieb unverändert, liegt nun aber schon 500 Umdrehungen früher an. Was aber fürs wirkliche Leben noch viel wichtiger ist: Bis 10000/min stemmt die R immer mehr Drehmoment als ihre Sport-Schwester, meist so um die 10 Nm mehr, in der Spitze bis zu 18 Nm. Anders gesagt: Auf dem Papier und kurz vorm roten Bereich des Drehzahlmessers ist die S 1000 RR das heißere Eisen; auf dem Platz ist die S 1000 R fast immer das schärfere Gerät, das so ganz nebenbei auch noch über die „modernere“ Gasgriffbetätigung verfügt. Während in der Doppel-R das Potenziometer des Drosselklappen-Stellmotors nämlich noch über Bowdenzüge angesteuert wird, kommt bei der Einfach-R eine neue Motorsteuerung zum Einsatz, die komplett elektronisch arbeitet und eine vollständige E-Gas-Funktion („Ride-by-Wire“) ermöglicht.

BMW S1000R SchwingeIm Grundpreis von besagten 12800 Euro sind bereits alle überlebenswichtigen Ausstattungsdetails enthalten: teilintegrales Race-ABS, die Stabilitätskontrolle ASC („Automatic Stability Control“) und zwei vom Fahrer auch während der Fahrt per Knopfdruck wählbare Fahrmodi „Road“ und „Rain“ (maximal 136 PS und 104 Nm sowie etwas verhaltenere Gasannahme) sowie ein Lenkungsdämpfer. Soweit die Theorie. In der Praxis neigt der typische BMW-Käufer (aus leidiger Erfahrung vergangener Zeiten…) ja gern zum Ausreizen der Aufpreisliste. Es wird also auch von der S 1000 R kaum eine Maschine im serienmäßigen Basis-Zustand geben – wobei sie vermutlich die erste BMW ist, bei der man sich tatsächlich ruhigen Gewissens auf die Grundausstattung beschränken könnte.

BMW S1000R linksWie auch immer, zwei Ausstattungspakete (deren Komponenten auch einzeln zu bekommen sind) gehören zum Must-have der BMW-Jünger: Das aus dynamischer Traktionskontrolle DTC (die im Unterschied zum ASC auch Schräglagen berücksichtigt), zwei zusätzlichen Fahrmodi („Dynamic“ und „Dynamic Pro“), HP-Schaltassistent (Hochschalten ohne Gaswegnehmen und Betätigen der Kupplung) sowie Tempomat bestehende „Sport-Paket“ für 790 Euro. Und das „Dynamic-Paket“, bei dem es für 910 Euro das elektronisch geregelte Fahrwerk DDC („Dynamic Damping Control“), Heizgriffe sowie Motorspoiler und weiße LED-Blinkleuchten gibt. Was an einem Tempomaten besonders sportlich und an Heizgriffen so sehr dynamisch sein soll, wird wohl immer das Geheimnis der BMW-Marketingschwätzer bleiben, aber zumindest das DDC-Fahrwerk ist tatsächlich eine Kaufentscheidung wert. Das System passt während der Fahrt innerhalb von Millisekunden die Dämpfung an die jeweilige Fahrsituation an. Der Fahrer gibt vor, ob er es gern „soft“, „normal“ oder „hard“ haben möchte und ob er im Solo- oder Soziusbetrieb unterwegs ist. Den Rest erledigt das System und macht aus einem ohnehin schon sehr guten Fahrwerk ein überragendes.

BMW S1000R rechtsDoch auch die Leckerlis des Sport-Pakets sind nicht zu verachten, wenn es einen ab und an auf abgesperrtes Terrain verschlägt. Wer allerdings das nur über einen gesonderten Codierstecker unterm Sitz zu aktivierende „Dynamic Pro“-Programm wählt, sollte schon sehr genau wissen, was er tut. Ohne Wheelie-Kontrolle und Hinterrad-ABS dürften Könner mit der S 1000 R damit noch etwas mehr Spaß haben, für Otto Normalheizer wird die Angelegen aber womöglich sehr schnell etwas brenzlig – gerade weil ihm die gnadenlos vernetzte Elektronik in allen anderen Einstellungen eine Menge Regelarbeit abnimmt. 12800 Euro plus zwei Pakete für zusammen 1700 Euro – das macht unterm Strich 14500 Euro und immer noch deutlich weniger, als für eine S 1000 RR zu zahlen sind. Und übrigens auch knapp 1000 Euro weniger, als eine (wahrlich auch nicht zu verachtende) KTM 1290 Super Duke R kostet.

Die BMW S 1000 R ist also praktisch ein Discount-Schnäppchen (na ja…) mit toller Technik – wie fährt sich der Stuhl denn nun? Versuchen wir mal, die Fahreindrücke etwas zurückhaltend zu formulieren: ATEMBERAUBEND! GENIAL! SENSATIONELL! NAHEZU PERFEKT! Der geneigte Leser ahnt nun vermutlich, dass der Rezensent durchaus angetan ist, von dem, was die vollgetankt 207 Kilo leichte Nackte zu bieten hat. Das geht mit der bequemen, aber trotzdem nicht entkoppelten Sitzposition los (Fußrasten 23 mm tiefer und 14 mm weiter vorn als bei der RR), geht mit der perfekten Gasannahme weiter und hört mit der Leistungsabgabe des unter Last böse fauchenden und im Schiebebetrieb herrlich rotzig-sprotzig tönenden Motors noch nicht auf. Das tatsächlich nutzbare Leistungsband erstreckt sich von 2000 bis 120000/min. Durchzug gibt es immer und überall reichlich, die BMW lässt bei Zwischensprints den Wettbewerbern nicht den Hauch einer Chance. Wer die Trendsportart Drehmoment-Surfen immer schon mal ausprobieren wollte, bekommt mit der R das momentan vermutlich beste Spiel- und Spaßgerät.

Das eigentlich Faszinierende am maximal 259 km/h schnellen Gesamtkunstwerk S 1000 R ist die Tatsache, dass die Maschine alles, aber auch wirklich alles mit einer unglaublichen Lässigkeit erledigt. Dezent durch den Berufsverkehr gleiten funktioniert mit ihr genauso gut, wie auf abgesperrter Strecke die Wildsau zu spielen. Und alles dazwischen natürlich auch. Die Ansprüche, die die R dabei an ihren Fahrer stellt, sind völlig normal. Natürlich nehmen die ganzen elektronischen Hel­ferlein schon eine ganze Menge Druck aus der Sache, aber auch die Grundabstimmung von Motor, Fahrwerk und Bremsen verlangt nicht unbedingt nach dem großen Zauberer am Gasgriff und Bremshebel. Mit der herrlich handlichen, wunderbar berechenbaren, nie zickig werdenden S 1000 R kommen auch Normalfahrer auf Anhieb klar – und sind dabei ziemlich zügig unterwegs. Wer den direkten Vergleich mit der Sport-Schwester hat, fragt sich unwillkürlich, warum überhaupt noch jemand zur RR greifen soll, der nicht gerade vorhat, regelmäßig auf der Rennstrecke zu vollstrecken. Die S 1000 R kann im Alltagsbetrieb, auch und gerade im sehr dynamischen Alltagsbetrieb, einfach alles besser. Alles!

Und das ist womöglich eine Erkenntnis, die das Älter-/Altwerden gar nicht mehr so gruselig erscheinen lässt. Scheiß was auf die Zeiten als Gebückter. In Zukunft geht’s aufrecht zur Sache. Und bis zum Fernsehsessel oder gar Großroller bleibt noch lang genug Zeit!