aus bma 10/03

von Konstantin Winkler

Anfang der siebziger Jahre: Opel baute den Manta, der noch weit davon entfernt war, als Deppenschleuder verspottet zu werden und Motorradfahrer waren noch wetterharte Windgesichter in Wachsjacke und mit Halbschalenhelm. Doch das Bild wandelte sich langsam. Das Motorrad wurde als Freizeitgerät entdeckt. Modische Optik und Motorleistung waren gefragt. Die Japaner hatten das begriffen und verkauften ihre „Big Bikes” prächtig. BMW hatte da wenig entgegen zu setzen.
Das änderte sich 1973 schlagartig. Der Designer Hans A. Muth legte Hand an und heraus kam der „Pop Art-Boxer” BMW R 90 S. Schwarz mit weißen Zierlinien? Die Zeiten waren nun vorbei. Zweifarben-Metallic-Lackierungen waren in. Erhältlich war das neue Boxermodell nur in „Daytona Orange” und in „Silberrauch”.
Auf der technischen Basis der anderen /6-Modelle (R 60/6, R 75/6 und R 90/6) sollte BMWs Topmodell neue Standards für Sportlichkeit und optische Attraktivität setzen. Doppelrohrrahmen, Telegabel, Hinterradschwinge mit Kardan und der Rumpfmotor samt Nebenaggregaten sowie das Fünfganggetriebe waren identisch mit den schwächeren Modellen. Optisches Erkennungszeichen der R 90 S war die lenkerfeste Halbschalenverkleidung aus GFK, kurz S-Cockpit genannt. Das darin befindliche Cockpit war für damalige Verhältnisse sehr reichhaltig ausgestattet und dazu noch alles serienmäßig: Tacho, Drehzahlmesser, Uhr, Voltmeter und Kontrollleuchten für Leerlauf, Öldruck, Batterie, Fernlicht, Blinker und Bremsflüssigkeit. Die Sitzbank bekam einen modischen Heckbürzel, in dem ein kleines Fach platziert war. Nach dem Hochklappen des Sitzteils war es zugänglich, aber viel mehr als eine Schachtel Zigaretten passte kaum rein.
Das umfangreiche Bordwerkzeug befand sich weiter vorne in einer eigenen Plastikwanne direkt über der Batterie. Selbige hatte fast Kleinwagenformat. 12 Volt und 26 Amperestunden benötigte auch der E-Starter. Der bis dato serienmäßige Kickstarter entfiel, stand jedoch für 49 DM auf der Aufpreisliste.

 

67 PS bei 7000 U/min leistete der Zweiventil-Boxer, das waren sieben PS mehr als bei der R 90/6. Der Hauptgrund dafür waren die beiden Vergaser. Bisher war die Firma Bing aus Nürnberg für die Gemischaufbereitung zuständig, doch an den Zylinderköpfen der R 90 S saßen – zum ersten und einzigen Mal übrigens – italienische Dell’Orto-Schiebervergaser. Sie waren aus dem Rennsport bestens bekannt und besaßen sogar eine Beschleunigerpumpe, die für ein spontanes Ansprechen auf Gasgriffbewegungen sorgte. Entsprechend beeindruckend war auch die Beschleunigung von 0 auf 100 in 4,8 Sekunden und die Höchstgeschwindigkeit von echten 196 km/h. Der damalige Verkaufsprospekt versprach vollmundig „mühelose 200 km/h”. Und da der Tacho von Moto Meter stets kundenfreundlich anzeigte, erschien das prestigeträchtige Tempo auch auf dem Rundinstrument. Man konnte zwar nicht mit der etwas schnelleren 900er Kawasaki Z 1 mithalten, hatte dafür aber den Trost, die schnellste serienmäßige Zweizylindermaschine zu besitzen.
Bemerkenswert ist, wie der Ölverbrauch bei hohen Drehzahlen ansteigt. Während sich der Verbrauch mit knapp einem viertel Liter bei zahmer Gangart noch in akzeptablen Grenzen bewegt, sind es bei forcierter Fahrweise und Autobahnhatz schon mal ein halber Liter oder mehr. Auch der Ölstand hat Einfluss auf den Verbrauch. Deshalb empfiehlt es sich, das Öl nicht bis „MAX” aufzufüllen, sondern nur bis zur Mitte zwischen den beiden Markierungen. Man darf nur nicht vergessen, öfter den Ölstand zu kontrollieren. Ein weiteres Ölproblem resultiert aus der Motorgehäuse-Entlüftung: Öldämpfe verschmutzen das Luftfilterelement, das häufig ersetzt werden muss.
Probleme gab es zu Beginn der Serie mit dem Getriebe. Das neu entwickelte Getriebe, nun mit fünf Gängen, musste oft getauscht werden. Vor allem im kalten Zustand ertönt ein grausames Krachen aus der Schaltbox und lässt BMW-Neulinge um ein nahes Ende der Getriebezahnräder bangen. Die Gänge rasten präzise ein. Zwar sind die Schaltwege recht lang, dafür ist der Leerlauf zwischen dem ersten und zweiten Gang jederzeit auffindbar. Wer von einem modernen Motorrad zügiges Herunterschalten gewöhnt ist, muss auf der R 90 S umdenken. Das mag sie nämlich überhaupt nicht. Solch einen Gewaltakt quittiert sie mit einer deutlich spürbaren unruhigen Hinterhand. Für ausgeprägte Lastwechselreaktionen sorgen die Kardanwelle und die langen Federwege. Beim Gas wegnehmen sackt das ganze Motorrad in die Federn, was ungeübten BMW-Fahrern in zu schnell angegangenen Kurven ganz überraschend die Bodenfreiheit kosten kann. Im schlimmsten Fall wird man dann ganz gnadenlos ausgehebelt. Deshalb sollten alle Brems- und Schaltvorgänge schon vor der Kurve abgeschlossen sein.
Mühelos, weil mit tiefem Schwerpunkt, rauscht das Gefährt durch die Kurven, egal ob weite Biegungen oder enge Serpentinen. Das schmal bereifte 19-zöllige Speichen-Vorderrad hält sauber die Spur.
Neu war auch der zweistufige hydraulische Lenkungsdämpfer, der sich sehr positiv auf die Fahreigenschaften auswirkt. Bei hoher Geschwindigkeit neigt die BMW R 90 S zum Pendeln, da die Lenkerverkleidung leichten Auftrieb gibt und das Vorderrad entlastet. Deshalb muss der Zustand sowohl von Reifen (Luftdruck und Profil) als auch vom Fahrwerk stets genau kontrolliert werden.
Relativ bescheiden ist die Schräglagenfreiheit. Hauptständer, Auspuff und Zylinderschutzbügel kommen schnell mit dem Asphalt in Berührung. Auch die Ventildeckel nähern sich bei zügiger Kurvenfahrt bedrohlich dem Erdboden. Der Windschutz der Lenkerverkleidung ist bescheiden, er hat eher das Niveau eines vollgepackten Tankrucksacks.
Während das Hinterrad ganz konservativ mittels einer gestängebetätigten Vollnaben-Simplex-Trommelbremse verzögert wurde, entwickelte BMW in Zusammenarbeit mit der Alfred Tewes GmbH, bestens bekannt als Bremsflüssigkeitshersteller ATE, eine Scheibenbremse fürs Vorderrad. Genau genommen deren zwei. Die R 90 S war die erste BMW mit einer doppelten Scheibenbremse. Im zweiten Produktionsjahr war sie sogar gelocht. Dadurch verbesserte sich das Ansprechverhalten bei Nässe deutlich. Einen ungewöhnlichen Platz hatte der Hauptbremszylinder: Er saß unter dem Tank. Vom Handhebel führte ein Bowdenzug dorthin. Dadurch wurde die Lenkung nicht durch einen einseitig am Lenker angebrachten Bremszylinder beeinflusst und er war zudem nicht sturzgefährdet.
Weil es sportlicher und moderner aussah, wurde die Teleskopgabel ihrer Faltenbälge beraubt. Viel- und Allwetterfahrer rüsteten diese jedoch nach, wenn sie es satt hatten, alle paar Jahre die Simmerringe auszuwechseln. Eine umständliche Arbeit, da nach jedem Vorderradausbau auch beide Schwenksättel der Bremse neu justiert werden müssen.
Auch eine R 90 S bleibt nicht von den üblichen kleinen Mängeln aller Boxer-BMWs verschont: Über schwitzende Zylinderfuß- und -kopfdichtungen sowie tropfende Benzinhähne nebst Vergaser ärgert sich kein Gummikuhfahrer. Auch nicht über das laute Ventilklappern, das zur normalen BMW-Akustik gehört. Als ebenso ärgerliches wie teures Übel erweist sich das Gewinde für die Auspuff-Überwurfmutter am Zylinderkopf. Wird die riesige Sternmutter mit dem noch riesigeren Spezialschlüssel ohne Graphit-Fett festgedreht, so ist ein Fressen der Gewinde vorprogrammiert. Ein weiteres auffälliges Bauteil am Motor ist der hintere Kurbelwellendichtring, dessen Austausch sehr arbeitsintensiv ist, da Getriebe und Kupplung ausgebaut werden müssen.
Auch für die Elektrik, die im Vergleich zur europäischen und fernöstlichen Konkurrenz vorbildlich verlegt ist, weist ab und an ein paar Mängel auf: Die Uhr nimmt es bisweilen mit der Zeit nicht allzu genau und der elektronische Drehzahlmesser neigt zur Nervosität. Bei 4000 U/min beispielsweise pendelt die Nadel zwischen 2000 und 6000 hin und her. Nicht immer, aber immer öfter. Und beim Rangieren mit aufgeschnalltem Tankrucksack werden abwechselnd Starter und Hupe unbeabsichtigt betätigt, da der Lenker kurz ist und die Anlasswiederholsperre erst bei höheren Drehzahlen reagiert.
Der Motor kann, wie bei allen BMWs, als unkaputtbar gelten, regelmäßige Wartung und gefühlvolles Warmfahren vorausgesetzt. Langlebig sind auch die Bowdenzüge. Mit den Jahren werden sie zwar schwergängiger, reißen aber äußerst selten. Ölen hilft nicht, die teflonähnliche Innenbeschichtung quillt dadurch nur noch mehr auf. Trotzdem schadet es nicht, einen Satz Bowdenzüge zum Bordwerkzeug zu legen. Und eine Reservefeder für den Hauptständer, denn die /6er-BMWs verlieren ab und zu mal eine. Oft wird das erst dann bemerkt, wenn die zweite verloren geht und der Ständer während der Fahrt auf die Straße fällt. Auch die Halteschrauben des Hauptständers machen sich gerne selbständig und sollten regelmäßig kontrolliert und nachgezogen werden.
Bis zu ihrer Ablösung durch die R 100 S Ende 1976 blieb die R 90 S ein äußerst beliebtes Motorrad. 17.500 Exemplare wurden an den Mann gebracht (ein paar davon wohl auch an die Frau). Ungebrochen ist der Reiz, den dieses Motorrad bis heute ausstrahlt. Gepflegte Exemplare übertreffen heute den Preis, den man vor 25 Jahren für ein Neufahrzeug beim BMW-Händler locker machen musste, nämlich 8150 Mark.
Obwohl die ersten Modelle der R 90 S schon über ein viertel Jahrhundert alt sind, braucht man kein erklärter Oldie-Fan zu sein, um an diesem Motorrad Gefallen zu finden. Im Reigen der klassischen BMW-Modelle kommt diesem Bike eine ganz besondere Bedeutung zu.
Manche Motorräder sind unsterblich. Nicht einmal der technische Fortschritt kann an ihrem Reiz kratzen. Das gilt nicht nur für Oldtimer, sondern auch für Youngtimer. Selbst die R 90 S ist mittlerweile ein echter Meilenstein der Motorradgeschichte, den man sonst nur im Museum bestaunen darf.