aus Kradblatt 5/14
von Konstantin Winkler

 

Alpen-Rundfahrt mit einer BMW R 20 von 1937

BMW R 20 AlpentourEs sorgt immer wieder für Aufsehen, wenn sich Menschen für eine Weile aus der hochtechnisierten Zivilisation verabschieden, um wie ihre Vorfahren zu leben. Freiwillig eine Zeitlang dem gewohnten Komfort entsagen, um nicht nur neue Erfahrungen zu machen, sondern auch die Erinnerung an alte, längst vergessene Zeiten aufzufrischen – das hatte ich mir Vorgenommen. Ich wollte jedoch nicht mit Sackleinen als Bekleidung in einer laubbedeckten Hütte hausen, sondern mir eine Woche lang im Sattel eines vorsintflutlichen Motorrades Bergluft um die Nase wehen lassen. Und dieses prähistorische Fahrzeug ist eine BMW R 20 von 1937.Nur zwei Jahre lang – bis 1938 – lief dieses seinerzeit steuer- und führerscheinfreie Leichtkraftrad von den Münchner Fließbändern.

BMW R 20 AlpentourDie Voraussetzungen für eine Fahrt über die Alpen und quer durch Italien sind im Herbst optimal: Wenig Ferienverkehr und Sonne satt. Wenn die Dolomiten im Herbstlicht glimmen und die Blätter der Bäume vor dem Fall noch einmal Multicolorfestspiele aufführen, ist die schönste Reisezeit. Hier im Norden Italiens paart sich alpenländische Gemütlichkeit mit italienischer Fröhlichkeit. Auch auf den Straßen hat Genuss Vorfahrt vor Geschwindigkeitsrausch. Die rund 3.000 Meter hohen Zacken und Felstürme der Dolomiten erheben sich majestätisch wie glitzernde Juwelen über tiefblaue Bergseen. Man fühlt sich wie in einem überdimensionalen 3-D-Kino. Und wenn diese Wunderwerke aus Stein und Fels am späten Nachmittag zu leuchten beginnen, weiß man, dass das Alpenglühen keine Erfindung des Musikantenstadels ist.

Das Reisen mit alten Motorrädern hat einen ganz besonderen Reiz: Schon der Weg ist das Ziel und man genießt die schönen Landschaften viel gelassener. Die Zeit spielt eine untergeordnete Rolle. Man ist nicht nur unterwegs, um irgendwo anzukommen. Selbst mit bescheidenen acht Pferdestärken lassen sich über 2.000 Meter hohe Pässe erklimmen, sofern ein engagierter Alpinist am Lenker sitzt.

Letzte Vorbereitungen für die Tour: Ölstände in Motor, Getriebe und Kardan kontrollieren, die Kupplung ein wenig nachstellen, Luftdruck prüfen und volltanken. Dann gebe ich nicht nur mir, sondern auch der alten BMW den Kick (auf den Kickstarter). Vorher muss jedoch der von einem AMAL-Einschieber-Vergaser befeuerte Einzylinder-Viertakter auf altertümliche Art und Weise vorbereitet werden, sprich Vergaser fluten und die Zündung auf „spät“ stellen. Wenn der Motor dann läuft, heißt es auf dem gut gefederten Sattel Platz zu nehmen. Der Allerwerteste ruht nicht weit vom Asphalt entfernt – gern geduldete Erniedrigung. Den Gasdrehgriff betätigen – und analog zur Motordrehzahl (wenn es sein muss 5.400 Upm) schlägt auch der Puls schneller. Von wegen alt und lahm. Drehmoment und Kraft von unten paaren sich mit kontinuierlicher Leistungsentfaltung. 94 Millimeter Hub legen die 82er Kolben zurück. Hämmern dabei vehement auf die Kurbelwelle. Vier Takte für ein Halleluja.

Gut vorbereitet und voller Tatendrang stellen wir uns der ersten Herausforderung: dem 2.105 Meter hohen Passo Falzarego. Gleich hinter Cortina d’Ampezzo beginnt die Auffahrt. Verkehrsarme Straßen wie diese bieten ideale Voraussetzungen für Motorräder, die zu einer Zeit gebaut wurden, als die Geschwindigkeit noch hauptsächlich durch Gaswegnehmen vermindert wurde und die dürftigen Halbnaben-Bremsen wenig Mühe hatten, das bisschen Rest an kinetischer Energie in Wärme umzuwandeln. Auf den engen Serpentinen ist die R 20 in ihrem Element. Der bescheidene Hubraum (200 ccm) und das geringe Gewicht (150 Kilo) reichen sogar zum Überholen. Nicht nur von Traktoren, sondern von richtigen Autos. Allerdings nur bis etwa 1.800 Meter Höhe, dann wird die Luft für den Oldie spürbar dünner. Nicht nur die Straße, auch der Kurvenradius wird enger. Jetzt kann man sogar mit einem Vorkriegsmotorrad Schräglagen fahren.

BMW R 20 AlpentourAuf der Passhöhe angekommen, brauchen wir nur noch rechts abbiegen und ein paar Kilometer bergauf fahren. Schon ist die nächste Passhöhe erreicht. Hier am 2.192 Meter hohen Valparola-Pass sind die Spuren des Ersten Weltkrieges noch allgegenwärtig. Ein altes Sperrfort sowie Abbruchflächen und Steinlawinen am Lagazuci, der den Pass als schroffer Felsberg nordseitig überragt, erinnern daran, dass bei diesem Krieg halbe Berge in die Luft gejagt wurden, um feindliche Stellungen einzunehmen.

Mit der langsam untergehenden Sonne im Rückspiegel und dem Tackern der Ventile in den Ohren trete ich die Rückfahrt nach Cortina an. Hier in der 1.210 Meter hoch gelegenen „Hauptstadt der Dolomiten“ treffen die berühmten Dolomitenstraßen zusammen und in jeder Himmelsrichtung kann man einen Dreitausender der Ampezzer Berge sehen. Die Marmolada, gern „Königin der Dolomiten“ genannt, ist mit 3.342 Metern der höchste Berg. Majestätisch erhebt sie ihr eisgepanzertes Haupt über dem Gipfelmeer. Die alte BMW ist nur ein Farbtupfer in der Landschaft. Über ihr das Blau des Himmels, neben ihr das Grün der Wiesen, und vor ihr das Grau der Berge.

Als Wiederholungstäter hebe ich mir das Beste für den Schluss auf. Keine Frage, die Großglockner-Hochalpenstraße ist eine der eindrucksvollsten Straßen im gesamten Alpenraum. Aber muss man deshalb immer wieder dorthin fahren? Auf jeden Fall! Man sollte sich aber zu Herzen nehmen, was im Begleitheft zur offiziellen Eröffnung der Großglocknerstraße am 5. August 1935 empfohlen wurde; „Bergan fahre man am besten mit kleinem Gang und wenig Gas, weil viele Motoren zum Heißlaufen neigen.“ Nun gilt es also, lange und materialmordende Steigungen mit vielen Kurven und Serpentinen zu bewältigen. Denn die Passstraße kennt keine Gnade für schwach motorisierte Vorkriegsmotorräder. Bergauf sollte man auch nur bremsen, wenn es unbedingt sein muss. Und möglichst viel des Schwungs, der von den acht Pferdestärken mühsam aufgebaut wurde, in jede Serpentine mitnehmen. Das steigert nicht nur den Fahrspaß, sondern auch die Durchschnittsgeschwindigkeit.

BMW R 20 AlpentourÖlstand und Motordrehzahl liegen auf Normalniveau, aber mein Blutdruck pocht längst im roten Bereich. Wenn dann irgendwann dem Oldie am Berg die Puste ausgeht, weil das Motoröl mittlerweile eine dreistellige Betriebstemperatur erreicht hat, heißt es absitzen, Motor ausmachen und selbigen abkühlen lassen. Alle 500 Höhenmeter empfiehlt sich diese Prozedur. Meterhohe Schneereste in den Kehren, die so klangvolle Namen wie „Naßfeld“ oder „Hexenküche“ haben, kündigen die nur noch wenige Kilometer entfernte Passhöhe an. Am 2.407 Meter hohen „Fuscher Törl“ dann die größte Bewährungsprobe für Mensch und Maschine: Sieben enge Kehren und der Kopfsteinpflaster-Straßenbelag aus dem Erbauungsjahr 1935 führen zum höchsten Punkt der Großglockner-Hochalpenstraße, der 2.571 Meter hohen Edelweißspitze. Bei einer Steigung von 15 % ging es allerdings nur noch im ersten Gang voran.

Bei der anschließenden Passabfahrt geht es wesentlich zügiger voran, fast schon sportlich. Manche Kehren werden sogar funkensprühend genommen. Von Kurve zu Kurve werde ich nicht nur mutiger, sondern auch schneller. Die fehlenden Pferdestärken sind jetzt kein Thema mehr. Sogar der dritte und damit letzte Gang des erstmals fußgeschalteten BMW-Getriebes kommt endlich mal wieder zum Einsatz. Während der Motor nun geschont wird, müssen die Bremsen Schwerst­arbeit leisten.
Das Vorbeifahren an Felsen – und erst recht das Durchfahren von Tunnel – wird mit einem wenig schallgedämpften Oldtimer zum imposanten Klangerlebnis, selbst mit tausendundeinpaar Kurbelwellenumdrehungen. Zum Glück gibt es hier nicht allzu viele unbeleuchtete Tunnel. Denn die schwache 6-Volt-Beleuchtung wirft nur fahle Lichtbündel auf die Straße.

Problemlos absolviert die BMW R 20 die einwöchige Alpentour durch Österreich und Italien. Was bleibt, ist die Erkenntnis, wie wenig Motorrad man braucht, um im Urlaub Spaß zu haben. Kalkuliert man etwas mehr Zeit ein und wählt Straßen nach dem Motto „je kleiner und gelber auf der Landkarte, desto besser“ aus, kann auch mit einem Oldtimer fast jede Gegend erkundet werden.