aus bma 10/05

von Klaus Herder

Lieber Leser, falls Sie nicht ohnehin von Haus aus eine Leserin sein sollten, versetzen Sie sich bitte mal für einen Moment in die Rolle einer Frau. Und nun entscheiden Sie bitte, mit wem Sie lieber das nächste Wochenende verbringen möchten: Mick Jagger oder Hansi Hinterseer? Musikalische Vorlieben bleiben dabei außen vor. Die Frage lautet: Der über 60-jährige, leicht verlebte britische Breitmaulfrosch oder der immer noch taufrische, erstaunlich faltenfreie Sunnyboy aus Österreich? Wenn Sie mit dieser Paarung grundsätzlich nichts anfangen können, fällt Ihnen vielleicht bei der Kombination Jack Nicholson versus Leonardo DiCaprio die Wahl leichter. Ich bin ziemlich sicher, daß sich viele unter Ihnen für das ältere und vermeintlich häßlichere Angebot entscheiden würden.
Mit diesen beiden Stichworten – alt und häßlich – landen wir ja praktisch zwangsläufig bei meinem Lieblings-Motorradthema BMW. Da tritt ein Uralt-Motorenkonzept in – formulieren wir es vorsichtig – gewöhnungsbedürftiger Verpackung gegen rundgelutschte Allerweltsgesichter vom Schlage einer Honda VFR an. Und gewinnt, zumindest in der Käufergunst. Der 1994 arg verspottete und für spontane Heiterkeitsausbrüche verantwortliche Entenschnabel namens R 1100 GS wurde zum absoluten Bestseller, seine nicht minder skurrilen Nachfolgemodelle haben Abonnements auf Podestplätze der Zulassungshitparade. Und nun das: BMW R 1200 ST. Die Nachfolgerin der R 1150 RS schockt mit einer Front, die eine wilde Mischung aus gotischem Kirchenfenster und Sciencefiction-Dekoration ist. Doch nehmen wir es vorweg: Was nach klingonischem Krankenfahrstuhl aussieht, bietet ganz handfeste Vorteile: Der H4-Doppelscheinwerfer strahlt nachts ganz famos, der Windschutz für den Oberkörper ist durch die oben knapp, in der Mitte recht bauchig geschnittene Halbschalenverkleidung hervorragend. Um die unteren Extremitäten kümmern sich in bewährter Manier die weit abstehenden Zylinder.

 

Das ST in der Typenbezeichnung steht für „Sporttourer”. Mittelschwer sportlich geht’s auch schon bei der ersten Sitzprobe zu. Der im vorderen Teil erfreulich schmal, hinten deutlich breiter geformte Fahrersitz läßt sich serienmäßig auf 810 oder 830 mm Sitzhöhe einstellen. Der Kniewinkel fällt so oder so ziemlich spitz aus. Auf Wunsch und ohne Aufpreis gibt’s ab Werk auch ein niedrigeres Kissen mit 780/800 mm. Das ändert aber nichts daran, daß die ST eher ein Motorrad für große Menschen ist. Unter 1,75 Metern Körperlänge sollte der fahrerisch durch- schnittlich begabte ST-Treiber lieber nicht messen. Allein schon deshalb, weil die in der Höhe stufenlos um 25 mm variablen Lenkerstummel ziemlich weit vorn liegen. Für BMW-Verhältnisse verlangt die ST eine erstaunlich vorderradorientierte Sitzposition. Das Windschild läßt sich dreifach in 20-Millimeter-Schritten in der Höhe verstellen, die beiden Handhebel sind löblicherweise ebenfalls serienmäßig verstellbar. Die vom relativ schmalen Lenker weit abstehenden Spiegel zeigen tadellos das rückwärtige Geschehen. Das sehr übersichtliche Cockpit ist lenkerfest montiert und schwenkt mit. Tacho und Drehzahlmesser zeigen erfreulicherweise analog an, ein LCD-Display bietet Digitaluhr sowie Gang, Benzinstands-, Öltemperatur- und Restreichweiten-Anzeige. In Sachen Ergonomie also alles in Butter? Nicht ganz, denn mit einer fast schon bewundernswerten Sturheit verbaut BMW immer noch die dämlichste Blinkerbetätigung der Welt. Links ein Schalter, rechts zwei Schalter – und das für eine Aktion, für die bei fast jedem anderen Motorrad der Welt genau ein Schalter die deutlich praktischere Wahl ist.
Mein Blinkerhebelgroll ist aber weitgehend verflogen, wenn der Vierventil-Boxer erst einmal völlig problemlos und immer auf den ersten Knopfdruck die Arbeit aufgenommen hat. Aus der polierten Edelstahl-Auspuffanlage tönt’s nämlich wunderbar kernig, für ein serienmäßiges Motorrad bietet die ST einen ziemlich fetten Sound, der nicht mal ansatzweise so blechern wie bei einigen Vertreterinnen der früheren Vierventiler klingt. Die R 1200 ST ist das dritte Modell der jüngsten Boxer-Generation. Mit der 98 PS starken GS ging’s im vergangenen Jahr los, der Reisedampfer RT war Anfang 2005 mit dem auf 110 PS erstarkten 1170-Kubik-Flattwin das zweite Modell, und mit ebendiesem Motor tritt nun auch die ST an. Den Unterschied zur GS machen eine um 500 auf 7500 U/min erhöhte Nenndrehzahl, veränderte Ansaugwege, ein anderer Auspuff, modifizierte Nockenwellen und die auf recht heftige 12:1 erhöhte Verdichtung aus. Die Tuning-Maßnahmen haben ihren Preis – und zwar an der Tankstelle. Dort verlangt die ST nämlich nach teurem Superplus mit 98 Oktan. Da der gemeine BMW- Kunde aber bekanntlich Weltreisender ist, und es nicht an jeder Ecke den feinsten Saft gibt, kommt die ST dank eines im Zylinderkopf verbauten Klopfsensors auch mit Superbenzin aus. Wenn nur 95 Oktan zur Verfügung stehen, wird der Zündzeitpunkt etwas später gelegt, was ganze drei PS Spitzenleistung kosten soll. Doppelzündung, Ausgleichswelle und geregelten Dreiwege-Kat gibt’s natürlich auch für die ST serienmäßig.
Die sechs Gänge im besten aller bislang gebauten Boxer-Getriebe liegen erstaunlich eng beisammen und lassen sich erfreulich leicht und leise schalten. Übermäßige Fußakrobatik ist dabei aber gar nicht erforderlich, denn zumindest in den ersten vier Gängen zieht der mit üppigen 115 Nm Höchstdrehmoment gesegnete Motor bärig durch. Ab 1500 U/min darf bedenkenlos schaltfaul und rüttelfrei angegast werden. Die Ausgleichswelle sorgt dafür, daß über den gesamten Drehzahlbereich und ab 5000 Touren noch deutlich ausgeprägter wirklich nur „good vibrations” durchkommen. Genau so liebt es der Boxer-Fan. Bis knapp 8000 U/min ist lustvolles Gasgeben angesagt, dann greift der Drehzahlbegrenzer ein, und man stellt etwas erstaunt fest, daß zu diesem Zeitpunkt bereits die 240er-Marke des Tachos erreicht ist. Das entspricht echten 230 km/h, und die lassen sich dank des stoischen Geradeauslaufs und der bemerkenswerten Fahrstabilität auf freier Autobahn auch gern, oft und auch für längere Zeit realisieren. Der Verbrauch hält sich selbst bei sehr flotter Gangart in angenehmen Grenzen und bewegt sich eher selten über sechs Liter. Wenn’s mal etwas ruhiger zur Sache geht, ist auch durchaus eine Vier vor dem Komma machbar.
Die ST ist wie gemacht für zügiges Kilometerfressen auf Autobahnen und gut ausgebauten Bundesstraßen. Hohe Reiseschnitte lassen sich natürlich auch mit den klassischen BMW-Tourern vom Schlage einer RT erzielen, doch die ST bietet bei allem Komfort das viel direktere Fahrvergnügen. Wo man mit den Dickschiffen ziemlich entkoppelt von Raum und Zeit unterwegs ist, bietet die mit 21 Litern vollgetankt und mit der handelsüblichen BMW-Sonderausstattung (ABS, Heizgriffen, Gepäckbrücke etc.) bestückte nur 239 Kilogramm schwere ST deutlich mehr Agilität. Wer sich auch nur einen Tick Sportlichkeit bewahrt hat, bekommt mit der ST den im BMW-Programm momentan fahraktivsten Straßen-Boxer. In ganz engen Kurvenkombinationen verlangt die 1200er dann aber doch nach etwas Körpereinsatz, von der sprichwörtlichen Fahrrad-Handlichkeit ist die ST ein ganzes Stück weit entfernt. Weite Bögen, das smoothe Gasaufziehen am Kurvenscheitelpunkt sind ihr am liebsten. Die Freunde der gepflegten Spitzkehre und militante Alpinisten treffen mit der GS vermutlich die bessere Wahl. In Sachen Fahrbahnqualität ist die ST aber ähnlich anspruchslos wie ihre Schwester. Kein Wunder, stammt das ST-Fahrwerk – natürlich mit verkürzten Federwegen – doch auch ziemlich direkt von der GS. Telelever vorn und Paralever hinten bieten feinste Bügeleisen-Qualitäten mit einer relativ straffen, aber nicht unkomfortablen Grundabstimmung. Die Federvorspannung am WAD-Federbein („wegeabhängige Dämpfung”) läßt sich bequem per Handrad verstellen.
Die Verarbeitung der in Basisausstattung 12500 Euro teuren ST ist tadellos – das war in der jüngeren BMW-Vergangenheit ja nicht immer so. Da praktisch keine BMW ohne ABS das Berliner Werk verläßt, kommen noch mindestens 1050 Euro für den teilintegral (Handbremse für vorn und hinten, Fußbremse nur für hinten) arbeitenden Blockierverhinderer dazu. Was immer in letzter Zeit über das BMW-ABS geschrieben wurde, das in der R 1200 ST verbaute System ist deutlich bedienungsfreundlicher geworden und absolut empfehlenswert. Der Bremskraftverstärker packt zwar immer noch recht heftig, aber nunmehr viel besser dosierbar zu. Lediglich das Fiepen des BKV kann sensible Gemüter auf Dauer etwas nerven.
Die polarisierende ST-Front hat dazu geführt, daß der Sporttourer momentan im BMW-Programm ein Schattendasein führt. Der eigentlich famosen Rockster mit ihrem Glupschaugen erging es ähnlich, ihre Produktion läuft aus. Bleibt zu hoffen, daß die zur Zeit noch stark unterschätzte ST eine andere Karriere einschlägt und es ihrer ebenfalls unverwechselbaren Entenschnabel-Schwester GS nachmacht. Verdient hätte sie es. Wer hätte schließlich gedacht, daß sich Herr Jagger über 40 Jahre im Geschäft halten kann? Und die ersten filmischen Gehversuche von Herrn Nicholson waren auch eher zäh. Wer in 20 oder 30 Jahren noch von den Herren Hinterseer oder DiCaprio sprechen wird, bleibt eine ganz andere Frage. Ich bin mir jedenfalls ganz sicher: Auf Dauer setzen sich nur Charakterköpfe durch. Die hübsch hässliche ST ist auf alle Fälle einer.