aus bma 01/98

von Klaus Herder

Früher war alles besser. Oder zumindest einfacher. Im Fernsehen gab es nur drei Programme. Das ersparte das Zappen. Motorradteile und -zubehör kaufte man ausschließlich bei Louis in der Hamburger Rentzelstraße. Das ersparte das Katalogwühlen und Herumfahren. Und BMW baute noch Motorräder. Jawoll, einfach nur Motorräder, aus denen man je nach Geschmack und Zeitgeist etwas passendes machen konnte. Nach dem Besuch der Nachmittagsvorstellung von „Easy Rider” wurde der gezwirbelte T-Lenker an die Strich-Fünfer-Gummikuh montiert, der Hauptständer abgebaut und Krümmer samt Endtopf himmelwärts gedengelt. Jahre später gab es die ersten Wüstenrallye-Erfolge der Bayern zu vermelden, und so erkundigte man sich halt, ob es die Contis auch mit Stollenprofil gibt und kaufte in der Rentzelstraße den universell passenden Kunststoffkotflügel und die zwingend erforderlichen Startnummernschilder – Dreiersatz, Kunststoff, universell passend.
Und heute? Heute werden keine Motorräder mehr verkauft, sondern nur Philosophien. Einmal Sportler, immer Sportler. Einmal R 1100 RS, immer R 1100 RS. Und wer einen Chopper wollte, fand im BMW-Programm der letzten zehn Jahre noch nicht mal eine halbwegs passende Umbaubasis, geschweige denn ein komplettes Fertigprodukt.

 

Irgendwann Anfang der Neunziger merkten auch die Motorrad-Verantwortlichen in München, daß rund ein Drittel des Motorradmarktes spurlos an BMW vorbeirollte. Und da man gerade die neue Boxergeneration in Arbeit hatte, wurde das Lastenheft noch schnell um das Kapitel „Chopper” erweitert. 1993 freundete sich der neue BMW Motorrad-Boß Walter Hasselkus mit der Chopperidee an, und 1994 gab dann auch der Vorstand das o.k. zur Entwicklung des ersten BMW-Flachmanns. Das Einkaufen diverser Chromteile, das Schneidern der passenden Bekleidungs-Kollektion und das Erstellen des wie immer brillanten Pressematerials nahm dann die folgenden drei Jahre in Anspruch, doch nun ist es endlich soweit: Seit dem 6. September 1997 steht die R 1200 C bei den BMW-Händlern und ist kein Chopper. Denn Chopper sind mittlerweile out. Cruiser sind in.
Cruisen hat etwas mit gemütlichem Herumfahren und Flanieren zu tun. Das kann man natürlich auch mit jedem handelsüblichen Tretroller, Kastenwagen oder eben auch Chopper, doch echte Cruiser sind irgendwie anders. Die Betonung liegt auf „irgendwie”, denn so genau weiß eigentlich niemand, was den wahren Cruiser ausmacht. BMW ist jedenfalls der Meinung, daß der echte Cruiser über maximal zwei Zylinder, möglichst viel Hubraum und Drehmoment und nicht übertrieben viel Leistung verfügen soll. So nahm man sich den neuen Vierventiler zur Brust, vergrößerte die Bohrung, verlängerte den Hub und schuf mit exakt 1170 ccm den größten Boxermotor der BMW-Geschichte. Die Sache mit dem Hubraum hatte man damit schnell vom Tisch, die Drehmoment-Nummer nahm etwas mehr Gehirnschmalz in Anspruch. Kleinere Ventile, geringerer Ventilhub, kürzere Öffnungszeiten und ein im Durchmesser kräftig verkleinertes Saugrohr brachten zusammen mit einer neuen Programmierung der Motronic (das ist das pfiffige Steuergerät, das dafür sorgt, daß Gemischaufbereitung und Zündung perfekt zusammenarbeiten, und das ziemlich teuer ist, wenn es mal kaputtgeht) den erhofften Effekt.
Die absolute Zahl ist dabei gar nicht mal so beeindruckend – im Vergleich zur R 1100 RS stieg das maximale Drehmoment gerade mal von 95 auf 98 Nm – doch die liegen bereits bei 3000 U/min (R 1100 RS: 5500 U/min) an. Was noch viel schöner ist: Zwischen 2500 und 4000 U/min stemmt die R 1200 C immer noch über 90 Nm. So ganz nebenbei führte die Aktion auch noch zu einer nicht unerwünschten Leistungsreduzierung. Aus den 90 PS bei 7250 U/min der R 1100 RS wurden für den Cruiser 61 PS bei 5000 U/min.
Cruisen hat auch etwas mit Bequemlichkeit zu tun. Das merkt der in gerade mal 74 cm Höhe untergebrachte Cruiser-Fahrer bereits beim Anlassen. Die R 1200 C kommt nämlich ohne Choke aus. Ein Druck aufs Knöpfchen genügt, den Rest erledigt zuverlässig die automatische Kaltstartanhebung. Da Cruisen auch etwas mit Genuß zu tun hat, betrieben die BMW-Entwickler erstmalig Sound-Engineering. Das heißt, sie machten sich Gedanken darüber, wie eine moderne BMW anders als ein Staubsauger oder Geschirrspüler klingen kann. Das Ergebnis dieser Überlegungen kann sich hören lassen. Jedes italienische Motorrad und auch ein Teil der japanischen Cruiser klingt zwar immer noch besser, aber mit dem dezenten Blubbern des Twins braucht sich niemand zu verstecken.
Um aus dem Leerlauf des neuen Fünfganggetriebes herauszukommen, bedarf es keiner weiteren Anstrengungen. Die hydraulisch betätigte Trockenkupplung läßt sich auch von kleinen Händen leicht bedienen, der Kupplungshebel ist wie der Bremshebel vierfach verstellbar. Um allerdings im Stand zu schalten, muß manchmal etwas gezaubert werden. Profis wechseln daher bereits beim Ausrollen die Gänge. Auch ansonsten ist das BMW-Getriebe immer noch ein Fall für Kenner. Die Schaltwege sind immer noch verhältnismäßig lang, und nachlässiges Schalten wird immer noch mit unbarmherzigem Krachen bestraft. Die ersten vier Schaltstufen sind sehr kurz übersetzt, der fünfte Gang fällt dafür um so länger aus und kann ab 50 km/h sinnvoll genutzt werden. Die Gasannahme ist tadellos, bereits aus Leerlaufdrehzahl zieht der vollgetankt immerhin 277 Kilogramm schwere Cruiser wie ein Büffel los. Wie oft die längs liegende Kurbelwelle tatsächlich rotiert, entzieht sich der Kenntnis des Fahrers. Als einziges Anzeige-Instrument tut ein wunderschön klassisch gezeichneter Tacho Dienst. Rechts davon glimmen bis zu sieben, bei Sonnenschein kaum zu erkennende Kontroll-Lampen.
Bis 120 km/h geht es sehr flott voran, doch bereits ab Autobahngeschwindigkeit wird es langsam zäh. Der Zweizylinder mag keine Drehzahlen. So kräftig er untenherum antritt, so schlapp müht er sich im oberen Drehzahlbereich. Für zügige Überholvorgänge auf der Autobahn muß zurückgeschaltet werden, und dafür ist der Sprung vom fünften in den vierten Gang zu groß.
Doch Cruisen hat ja eigentlich auch nichts mit Autobahnfahren zu tun. Viel eher mit beschaulichen Landstraßen, und auf denen spielt die R 1200 C ihre ganze Fahrwerksstärke aus. Hat man sich erstmal an den etwas indirekt übertragenden Schubkarrenlenker gewöhnt – als Zubehör gibt’s auch eine flache Lenkstange – läßt sich die BMW wie ein ganz normales, gut abgestimmtes Tourenmotorrad zielgenau um die Ecken werfen. Die Schräglagenfreiheit ist erstaunlich groß, die im Gegensatz zu den anderen BMW-Modellen offen zur Schau gestellte Telelever-Vorderrradführung arbeitet perfekt, die 144 mm Federweg reichen immer und überall aus. An der Heckpartie verzichtete BMW auf die bewährte Paralever-Hinterradführung. Anstelle der Doppelgelenk-Einarmschwinge führt eine konventionelle Einarmschwinge das 15zöllige Hinterrad mit dem fetten 170er Gummi. Die Schwinge wurde im Vergleich zu den anderen Boxermodellen um 90 mm verlängert. Der aus alten BMW-Tagen bekannte Fahrstuhleffekt beim Beschleunigen wird damit weitgehend ausgeschlossen, doch perfekt ist das Hinterteil trotzdem nicht. Schuld daran ist das direkt angelenkte und zu straff abgestimmte Zentralfederbein. Warmduscher wie der Autor vermissen daher den BMW-Komfort früherer Tage, harte Jungs finden die Starrahmenanmutung wahrscheinlich genau richtig.
Der Sitzkomfort auf dem breiten Echtledersattel ist für den Fahrer ansonsten recht ordentlich und kann sogar noch gesteigert werden: Das ohnehin nur Alibifunktion ausübende Soziusbrötchen – als Zubehör gibt’s einen deutlich bequemeren Beifahrerplatz – läßt sich hochklappen und fungiert danach als äußerst bequeme Rückenstütze. Dermaßen untergebracht ist die Sache mit dem harten Heck fast schon wieder vergessen.
Daß die R 1200 C die BMW unter den Cruisern ist, merkt man nicht nur an solch netten Detaillösungen wie dem Klappbrötchen. Sehr gute Bremsen sind zwar mittlerweile auch an dem einen oder anderen Hokasuya-Cruiser zu finden, doch daß die Stopper gegen Aufpreis (1.995 Mark) auch mit ABS geliefert werden können, ist in dieser Fahrzeugklasse eine BMW-Spezialität. Zwingend notwendig ist der Blockierverhinderer allerdings nicht, denn die aus der R 1100 GS stammenden Brembo-Stopper sind bereits im serienmäßigen Lieferumfang allererste Sahne. Den geregelten Dreiwegekatalysator gibt es auch nur beim BMW-Cruiser. Im Gegensatz zum ABS ist der im Grundpreis von 23.400 Mark enthalten.
Wer mehr ausgeben möchte, braucht nicht den freien Zubehörhandel bemühen. BMW liefert fast alles als Originalteil: Windschutzscheibe, heizbare Griffe, Lederpacktaschen, Bordsteckdose, Tankrucksack, Gepäckrolle – wer sich Mühe gibt und noch das eine oder andere Leckerli aus der passenden Bekleidungskollektion ersteht, kann durchaus die 30.000 Mark-Schallmauer durchbrechen. Doch um sich ein für allemal auf den Cruiser festzulegen, bedarf es gar nicht des exzessiven Zubehöreinkaufs. Die R 1200 C ist bereits in ihrer Basisversion Cruiser durch und durch. Das Aussehen ist eigenständig, der Motor für die Zielgruppe genau passend und Fahrwerk samt Bremsen gut genug, um die vielbeschworene Freude am Fahren in der Praxis auch tatsächlich erleben zu können. Kurzfristig umbauen kann man auch diesen Boxer nicht mehr. Aber wahrscheinlich will das auch niemand.