aus bma 8/00

von Konstantin Winkler

Die Stiefelspitzen werden nicht mehr beim Fahren in Schräglage malträtiert und der Integralhelm verstaubt unbeachtet in der Ecke. Schuld daran, dass nun der gemächliche Umgang mit drei Rädern angesagt ist, ist meine neueste Errungenschaft: ein BMW R 12-Gespann, ein Jahr vor Beginn des Zweiten Weltkrieges gebaut, 1938.
Die R 12 war der Verkaufshit der Dreißiger Jahre. Bis 1942 wurden 36.000 Exemplare gefertigt, soviel wie von keiner anderen Vorkriegs-BMW. Das größte Kontingent ging an die Militärbehörden. Als Wehrmachtsgespann in luftwaffengrau und sandfarben lackiert, fanden diese unverwüstlichen Motorräder im Zweiten Weltkrieg ihren Weg bis nach Sibirien und in die Sahara. Andere standen – mit Spezial-Seitenwagen ausgerüstet – im Dienst der Deutschen Reichspost und sogar der Feuerwehr. Mit der R 12 präsentierte BMW als Weltneuheit die erste Teleskop-Vorderradgabel mit Öldämpfung. Das war 1935. Damit hatte die störrische Blattfedergabel endlich ausgedient. Der Rahmen dagegen ist ein alter Bekannter aus dem Jahre 1930, ein sogenannter U-Profil-Pressstahl-Dop- pelrahmen. Auch der Motor wurde nahezu unverändert vom blattgefederten Vorgängermodell R 11 übernommen. 750 ccm Hubraum hat der seitengesteuerte Zweizylinder-Boxermotor, leistet dabei 18 PS bei nur 3400 U/min. Die Verdichtung beträgt nur 5,2:1 (zum Vergleich: die R 75/5 von 1969 hat 9,0:1). Das bedeutet viel Drehmoment und Kraft von unten heraus. Gewaltig ist auch die optische Er- scheinung des Motors. Das Gehäuse aus Aluminiumlegierung ist so groß wie ein Kasten Selters, die Grauguss-Zylinder haben Bierkrugformat. Die handwerkliche Verarbeitung ist eine Augenweide. Die Zylinderköpfe sind aus Leichtmetall gegossen und abnehmbar. Abnehmbar? Das war damals nicht unbedingt selbstverständlich. Viele seitengesteuerte Motoren hatten sogenannte Sackzylinder, das heißt Zylinder und Kopf waren eins. Auch die Kolben (mit quadratischem Bohrung-/Hub-Verhältnis) waren bei der R 12 aus Leichtmetall und hatten drei Ringe, von denen der unterste als Ölabstreifring ausgebildet war.

 

Die 750er-Zweizylindermodelle warteten nicht nur mit der neuen Teleskopgabel auf, sie erhielten auch ein Vierganggetriebe (die R 11 hatte nur drei Gänge). Das Schalten erfordert zwar Fingerspitzengefühl, ist aber stilvoll und es macht zugleich viel Spaß, wenn man den Schaltstock durch die Kulisse in H-Form, die gleichzeitig das rechte Kniekissen bildet, schiebt. Mit einem soliden Klacken geht der erste Gang rein. Oder mit einem schrecklichen Kratzen – je nach Gefühl des Fahrers. Die Zweischeiben-Trockenkupplung ist sehr leichtgängig und lässt das Motorrad gefühlvoll „kommen”. Für den ungeübten Fahrer sind die Gangwechsel angesichts langer Schaltwege und metallisch-krachender Ge- räuschkulisse eher lästige Pflichtübung als kurzweiliges Vergnügen. Man kommt jedoch um eine fleißige Nutzung des Getriebes umhin, denn angesichts der Kraft, die aus dem (Drehzahl-)Keller kommt, reicht ab 25 km/h die vierte und letzte Fahrstufe völlig aus.
Die Kraftübertragung vom Getriebe zum Hinterrad erfolgt über eine elastische Hardyscheibe, eine freilaufende und natürlich verchromte Kar-danwelle sowie einen Kardanantrieb mit spiralverzahnten Kegelrädern. Wie es sich eben für eine BMW gehört. Ein besonderes technisches Schmankerl ist der zentral über dem Getriebe angebrachte SUM-Vergaser, der drei (!) Kraftstoffdüsen hat. Jede Düse mündet in einen besonderen Luftkanal, so dass man von drei hintereinander geschalteten Vergasern oder von einem Registervergaser sprechen kann. Außerdem gibt es noch einen Choke-Anlassvorrichtung, Starterknopf nannte man das damals. Der Gasschieber liegt aus Platzgründen waagerecht. Mit dieser Vergaserkonstruktion bezweckte die Herstellerfirma SUM ein problemloses Startverhalten. Damit es auch bei kalter Witterung klappt und um ein Vereisen des Vergasers im Winter zu verhindern, führen zwei Vorwärmleitungen von den beiden Krümmern zur Ansaugleitung, so dass diese durch die Auspuffgase angeheizt wird – allerdings auch im Sommer. Trotzdem, die Gemischbildung klappt immer einwandfrei.
Entsprechend einfach ist die Startprozedur. Die Schwimmerkammer möchte nach alter Väter Sitte geflutet werden. Das macht man mit einem Tupfer, nachdem man den Benzinhahn und den Choke, pardon Starterknopf, gezogen hat. Den Gasgriff nur nicht berühren oder schief angucken, sonst droht akute Absaufgefahr. Nach einem beherzten Kickstartertritt kommt sofort Leben in einen Zylinder. Nach wenigen Kurbelwellenumdrehungen schaltet sich dann der zweite automatisch dazu. Ein Blick auf die Zündkerzen verrät, dass in den Brennräumen (fast) alles wie geschmiert läuft. Etwas Ruß befindet sich zwar an der Elektrode – trotzdem, besser zu fettes als zu mageres Gemisch.
Ohne jede Anstrengung und auch akustisch nicht gerade aufregend wuchtet der seitengesteuerte Boxer das schwergewichtige Gespann – 320 Kilo Leergewicht ermöglichen ein zulässiges Gesamtgewicht von 560 Kilo – in respektable Geschwindigkeitsbereiche. Knapp 90 km/h Höchstgeschwindigkeit reichen aus, um auf der Autobahn die LKW-Fahrer zu ärgern. Aber wer fährt schon mit seinem Oldtimer auf der Autobahn?
Was den Durst betrifft: Bei forcierter Fahrweise leert sich der 14 Liter-Tank mit beängstigendem Tempo. Schon nach 150 Kilometern muss frisch gebunkert werden, was einem Durchschnittsverbrauch von etwa neun Liter auf 100 Kilometern entspricht. Im Solobetrieb laufen immerhin noch fünfeinhalb Liter Nor- malbenzin durch den SUM-Vergaser.
Die Sitzhaltung: locker und relaxt. Der Allerwerteste nimmt auf einem gefederten „Drillastic”-Sattel Platz und die Hände ergreifen einen Lenker in U-Form. Daraus resultiert eine Sitzposition, die einer cruiser-typischen Entspannungstherapie huldigt. Rustikaler Charme ist das passende Stichwort! Die Füße ruhen auf Trittbrettern in Harley-Format. Nein, Harley-Fußstützen sind schmaler, kürzer und zudem in Gummi gebettet. Letzteres hat die R 12 nicht nötig, denn der antike Boxer läuft äußerst vibra-tionsarm.
Aus zwei Gründen sind die beiden gegossenen Trittbretter so üppig dimensioniert. Zum einen ist die ausladende Form so stark ausgeführt, um bei etwaigen Stürzen eine Beschädigung der Zylinder zu verhindern, und zum anderen liegen sie so dicht an Motor und Getriebe, dass Schmutz und Spritzwasser weder Fahrer noch Maschine erreichen.
Um das Flattern der Lenkung bei hohen Geschwindigkeiten zu verhindern, ist unten am Steuerkopf ein Steuerungsdämpfer eingebaut. In Anpassung an die Fahrbahnbeschaffenheit kann selbiger mittels einer Flügelmutter stärker oder schwächer angezogen werden. Schlechte Straßen bereiten nicht nur Kopf-, sondern auch Kreuzzerbrechen. Schlaglöcher werden von der Hinterhand ignoriert und ungefiltert an den Fahrer weitergegeben. Hier realisiert sich die unter Cruiser-Fans so beliebte Starrrahmen-Optik deutlich spürbar.
Das R 12-Gespann rollt auf 3,50-19er Reifen, die auf Tiefbettfelgen der Größe 3 x 19 Zoll montiert sind. Alle Räder sind baugleich und somit untereinander austauschbar. Das ist vor allem für den Beiwagenbetrieb von Vorteil: Es reicht ein Ersatzrad für alle drei Räder, welches auf der Kofferraumklappe des Seitenwagens montiert ist. Folglich müssen auch die Bremsen vorne und hinten gleich sein (das Beiwagenrad ist ungebremst). Halbnaben-Trommelbremsen sorgen für die nötige Verzö- gerung. Das ist auch gut, damit hatte die noch aus den 20er-Jahren stammende Kardanbremse ausgedient. Nach wie vor wurde jedoch der Fußbremshebel mit der Hacke betätigt.
Der Beiwagen – riesig in seinen Abmessungen, gewaltig in seiner Erscheinung. Mit vier Anschlüssen ist er am Starrrahmen der R 12 befestigt. Zwei Blattfedern im Kleinlastwagen-Format federn das Boot, schlagen aber in Schlaglöchern leicht durch. Der Passagier kann bequem von der Seite einsteigen, akrobatische Übungen sind also nicht angesagt. Auch muss er nicht – wie in vielen, teils auch moderneren Beiwagen – die Beine wie ein Klappmesser zusammenfalten. Bequem sitzen mit aus- gestreckten Beinen ist hier angesagt. In manchem Auto sind nicht so üppige Platzverhältnisse.
Das gut sortierte Bordwerkzeug befindet sich im Getriebe. Nein, nicht mittenmang der Zahnräder und Schaltklauen, sondern separat, nach dem Öffnen eines Deckels auf der linken Seite gleich neben dem Kickstarter leicht zugänglich. Während man sich im Sommer bei einer Panne leicht die Finger verbrennen kann, weiß der Schrauber es im Winter zu schätzen, dass er auf vorgewärmte Schraubenschlüssel zurückgreifen kann.
Viel zum Schrauben gibt es meist jedoch nicht. Öle wechseln, Abschmieren sowie ab und an Unterbrecher und Ventilspiel kontrollieren bzw. einstellen – das war’s. Besonders bei letzterem kam es wohl damals nicht auf höchste Genauigkeit an. So empfahl das Werk zum Einstellen des Ventilspiels sich am besten eines schmalen Streifens Briefpapier zu bedienen, welcher ungefähr der Stärke von 0,1 mm entspricht.
Flexibel war man vor dem Zweiten Weltkrieg auch in der behelfsmäßigen Behebung von Pannen unterwegs. Zum Thema Rahmenbruch beispielsweise lesen wir im Buch „Das Kraftrad” von W. Thoelz, 1939, auf Seite 459: „Diesen behandelt man wie einen menschlichen Knochenbruch. Also schienen gegen Biegung, fest bandagieren und durch Behelfe dafür sorgen, dass Zug oder Druck, der vorher vom gebrochenen Teil übertragen wurde, von den Behelfen übernommen wird. Im Walde wird man sich kräftige, gerade Hartholzzweige abschneiden oder brechen, sie zu mehreren um das gebrochene Teil legen und mit starkem Bindedraht festknebeln. Steht kein Holz zur Verfügung, nehme man Werkzeuge (Montiereisen, große Schlüssel, Luftpumpe), sichere sie aber durch besonderes Anbinden vor Verlust.”
Die Werbung sprach 1936 von der R 12 als eine bevorzugte Großtouren- und Beiwagenmaschine von Weltruf: „Bergfreudig, zuverlässig und ausdauernd auf großen Fahrten”. Dem kann ich nichts gegenteiliges hinzufügen.
Mittlerweile hat die BMW R 12 über 60 Jahre auf ihrem Pressstahlrücken. Und es macht mir unendlich viel Spaß, das Stück Technik-Kultur einer vergangenen Zeit bei Ausfahrten und Veteranenveranstaltungen nicht nur als staubiges Museumsstück, sondern sehr lebendig einer begeisterten Öffentlichkeit zu präsentieren.