aus bma 04/05

von Klaus Herder

Herr Blaudow ist schuld. Vor ziemlich genau 25 Jahren hätte er mit seiner Vokuhila-Frisur, dem Goldkettchen überm Brusthaar-Toupet und dem obligatorischen Schnauzbart einen prima Box-Promoter abgegeben. Aber Herr Blaudow gab für mich eher den Boxer-Promoter, denn der Nebenerwerbs-Busfahrer war hauptberuflich Fahrlehrer. Er ist schuld an meinem ganz besonderen Verhältnis zu BMW, denn während andere Fahrschüler auf Honda CB 400 N oder Yamaha XS 400 ihre ersten Runden drehten, ließ mich Herr Blaudow auf Hamburgs ältester Fahrschulmaschine üben. Eine knallorange BMW R 50, (Baujahr irgendwann Ende der 50er Jahre) diente 1980 für mich als Trainingsgerät. Blinker und Sitzbank waren nachgerüstet worden, Teufelszeug wie E-Starter und Scheibenbremsen gab’s natürlich nicht. Funkausbildung? Damals noch völlig unüblich. Herr Blaudow im D-Kadett vorneweg, ich mit BMW und brutalen 26 PS hinterher. Nach zwölf Fahrstunden hatte ich Wandsbek ausreichend unsicher gemacht, den Lappen in der Tasche und in Kopf und Bauch eine gewisse Vorliebe für stoisch blubbernde Boxer.
Das Boxer-Drumherum fand ich von Anfang an allerdings immer ziemlich langweilig. Verpackungstechnisch mindestens genauso deutsch und bieder, dafür in Anschaffung und Unterhalt deutlich günstiger war dann mein erstes echtes Motorrad: MZ TS 250/1. Nach zwei Jahren Grenzbereichs-Erfahrungen mit Pneumant-Reifen und nicht klappbaren Fußrasten holte mich der Blaudow-Fluch aber wieder ein. BMW R 50/5, Kurzschwinge, schwer illegal (offene 32 PS, 27 PS eingetragen!), Kupfermetallic, Krauser-Koffer – ich war mächtig stolz, allerdings auch etwas irritiert, denn echtes Interesse an meiner Neuanschaffung zeigten nur mein Vater und einige noch ältere Herren. Bei meiner Generation wirklich angesagt waren damals nur Honda, nochmals Honda und dann irgendwann vielleicht Kawasaki.

 

Fortan fuhr ich immer zweigleisig: eine BMW für alle Tage und den Verstand, etwas Nettes aus Japan oder Amerika für den Sonntagmorgen, fürs Auge und fürs Herz. Ich entwickelte mich zum größten aller Heizgriff- und Klapphelm-Lästerer, blieb den Bayern aber immer treu. Bis auf die F-Modelle (Einzylinder kommen mir seit den MZ-Tagen nicht mehr ins Haus) hatte ich die meisten BMW-Modelle der Neuzeit irgendwann mal im Bestand. So richtig Herzblut konnte ich allerdings nur für die berühmt-berüchtigte K 1 vergießen. Erstaunlicherweise war das die einzige BMW, auf die mich ältere Männer nicht ansprachen und die mein Vater auch nicht so gut fand. Sollte es da womöglich einen Zusammenhang geben?
Satte 22 Jahre nach meiner Boxer-Sozialisation brach mein BMW-Weltbild dann überraschend zusammen. Auf der Münchener Motorradmesse INTERMOT 2002 stellte BMW eine R 1150 R im Kampfanzug vor: die Rockster. Angeblich handelte es sich dabei nur um eine Studie, mit der man die Reaktionen von Kunden und Presse testen wollte. Meine Reaktion fiel eindeutig aus: „Endlich eine BMW für den Sonntagmorgen, fürs Auge und fürs Herz. Geil, muß ich haben.” Im Dezember 2002 gab’s eine BMW-Presse-Information zum Thema Rockster: „Nach der überaus positiven Resonanz von Seiten der Kunden und der Presse wurde endgültig entschieden, dieses Modell von den Bändern des BMW Motorradwerks in Berlin rollen zu lassen.”
Oha, BMW hörte auf die Kunden. Der große Konzern ließ sich ganz kurzfristig von Kundenwünschen leiten. Komisch nur, daß eine kleine private Geschichte so gar nicht zur offiziellen Rockster-Story paßte. Ein paar Tage nach der Intermot hatte ich nämlich beruflich bei einem BMW-Zulieferer zu tun. Und was entdeckte ich rein zufällig in dessen Lager? Jede Menge Rockster-Teile, die schon etwas länger dort weilten. Später fiel mir auf, daß die Rockster-Bedienungsanleitung das Herstellungs-Datum 09.2002 trägt, den INTERMOT- und angeblichen „Wir-zeigen-nur-eine-Studie”-Termin. Was lernen wir daraus: Zur Intermot war die Rockster längst beschlossene Sache. Die hübsche und auch fleißig kolportierte Geschichte mit der angeblichen Reaktion auf Kunden-Resonanz klingt nett, hat mit der Produktplanungs-Realität aber nichts zu tun.
Das Rockster-Go dürfte den BMW-Verantwortlichen aber auch so nicht allzu schwer gefallen sein, denn das Entwicklungs-Risiko hielt sich doch in engen Grenzen. Die Rockster ist technisch eine waschechte R 1150 R, das Böse-Buben-Outfit stammt weitgehend aus dem Teileregal. Der Karl-Dall-Gedächtnis-Doppelscheinwerfer wurde ursprünglich für die R 1150 GS verbrochen und hat maßgeblichen Anteil daran, daß meine Frau und mein Vater die Rockster potthäßlich finden. Glücklicherweise, ich mag’s leiden. Vom Sport-Boxer R 1100 S kommen die Instrumente, die 5,5-Zoll-Hinterradfelge mit 180er-Schlappen, die schwarz eloxierten Telelever-Gleitrohre und auch der Vorderrad-Kotflügel, der allerdings leicht modifiziert werden mußte. Stichwort Kotflügel: Dieses eigentlich unscheinbare Teil war für mich Grund genug, zuvor standhaft den Kauf einer normalen R 1150 R zu verweigern – deren Vorderrad-Buckel liegt einfach jenseits meiner Schmerzgrenze. Zurück zur Rockster: So richtig neu sind nur das Mini-Windschild, der mit 835 mm Sitzhöhe daher kommende Einzelsitz (35 mm höher als bei der R 1150 R) und das dahinter montierte und als Werkzeugfach-Abdeckung dienende Kuchenblech. Und dann natürlich die 40 mm breitere und deutlich weniger gekröpfte Lenkstange. Was bei der R 1150 R serienmäßig ist, nämlich Hauptständer und Soziusplatz, gibt’s bei der Rockster nur gegen 95 beziehungsweise 145 Euro Aufpreis.
Doch jede Aufpreispolitik-Diskussion ist vergessen, wenn man auf der Rockster Platz genommen hat. Wow, noch nie zuvor gab’s eine BMW mit einer dermaßen coolen Sitzposition. Die Formulierung „mächtig vorderrad-orientiert” trifft’s nur unvollkommen. Der breite Lenker macht ein noch breiteres Kreuz; der Fahrer nimmt automatisch eine Hallo-hier-komm-ich-Lauerhaltung ein. Auf Dauer unbequem? Mir doch egal, ich schrieb eingangs vom Sonntagvormittags-Motorrad. Zwei Stunden Landstraßenspaß – dafür ist’s gold-richtig. Die Sitzposition auf der Rockster ist um Welten aktiver, als die auf der normalen R 1150 R, das Motto lautet „Fitnessgerät statt Fernsehsessel”.
Auf die Frage, warum bei aller Einspritz- und Motormanagement-Technik immer noch Starthilfe-Hebelchen verbaut werden, antwortete mir ein BMW-Techniker vor ein paar Jahren: „Damit unsere Kunden etwas zum Herumspielen haben, sie sind es aus alten Bing-Vergasertagen einfach so gewöhnt.” Darüber, daß die besagten Hebelchen technisch mittlerweile völlig überflüssig sind, bestand bei uns absolute Einigkeit. Und so hat natürlich auch die Rockster ein kleines Starthilfe-Hebelchen. Keinen Choke, denn auf die Gemischzusammensetzung hat das an der linken Lenkerarmatur montierte Teil keinen Einfluss. Es dient nur der Drehzahlanhebung beim Kaltstart.
Die Rockster ist der erste Serien-Boxer mit der Kraft der zwei Kerzen. Pro Zylinder, versteht sich, denn seit Modelljahr 2003 setzt BMW bei den Twins (mit Ausnahme des Cruisers) auf Doppelzündung. Bessere Abgaswerte, geringerer Verbrauch und ein Ende des leidigen Themas Konstantfahrruckeln waren das Ziel. In Sachen Leistung und Drehmoment blieb alles gleich: 85 PS bei 6750 U/min und 98 Nm bei 5250 U/min lauten unverändert die Höchstwerte. Etwas mehr über den bulligen Charakter des luft-/ ölgekühlten Boxers sagt wohl die Tatsache, daß zwischen 3000 und 7000 Touren immer so um die 90 Nm oder mehr zur Verfügung stehen. Kein Wunder also, dass die mit 20,4 Litern vollgetankt 248 Kilogramm schwere Fuhre bereits aus dem legendären Drehzahlkeller heraus mächtig anschiebt. Bereits ab 1500 U/min geht’s bassig grummelnd und absolut ruckfrei vorwärts. Alt-Boxer-Kenner wie ich sind dabei immer wieder angenehm überrascht, daß BMW nun auch schon da ist, wo unsere japanischen Freunde bereits vor 20 Jahren waren: bei einem leicht und meist auch geräuschlos zu schaltenden Sechsganggetriebe. Auf einer fetten Drehmomentwelle surft man lässig durchs Drehzahlband und stellt so zwischen 2500 und 3000 U/min fest, daß nichts passiert. Einfach nichts. Jedenfalls nichts Unangenehmes: kein Ruckeln, kein Zuckeln – tschüß Konstantfahrruckeln, gelobt sei die Doppelzündung.
Dort wo japanische Supersportler noch eine Schippe nachlegen, geht der Rockster die Puste aus. Ab 7000 Touren wird’s sehr schnell sehr zäh. Doch bitte nicht vergessen: Bis dahin liegt ein nutzbares Drehzahlband von satten 5500 (in Worten: FÜNFTAUSENDFÜNFHUNDERT) Umdrehungen hinter einem – mehr wäre doch wirklich zuviel verlangt. Wenn’s denn sein muß, rennt die Rockster echte 200 km/h und beschleunigt in unter vier Sekunden aus dem Stand aufs Landstraßenlimit. Braucht man bei einem solchen Motorrad mehr? Um es auf den Punkt zu bringen: Der Rockster-Boxer ist der beste Flattwin, der mir je untergekommen ist. Und bevor jetzt alle R 1200 GS-Besitzer aufheulen: Ja, der neue Boxer dreht williger, powert obenraus deutlich munterer und ist technisch sowieso viel besser. Aber ich finde den kernigen, hemdsärmeligen Keller-Bumms des alten Motors nunmal netter und besser zum Charakter der Rockster passend.
Thema Fahrwerk: Muß man an dieser Stelle noch viele Worte über Telelever, Paralever und deren Bügeleisen-Qualitäten verlieren? Jein. Alles Gute der normalen Roadster-Modelle steckt natürlich auch in der Rockster. Doch sie kann noch mehr, denn während sich BMW-Neulinge auf der Standard-Roadster anfangs etwas zu passiv und zu entkoppelt von der Fahrbahn vorkommen (das Bremsnicken entfällt systembedingt weitgehend), ist Rockster-Fahren eine ganz andere, viel aktivere Angelegenheit. Durch die andere Sitzposition ist der Fahrer nicht nur Passagier, er ist Vollstrecker. Unglaublich, was ein anderer Lenker und etwas mehr Sitzhöhe in Sachen Handling bewirken können. Fast automatisch werden selbst harmlose Naturen auf der Rockster zur Landstraßensau; man lenkt mit ihr brutal frech ein, bleibt noch länger am Gas und langt noch heftiger in die Eisen. Wobei Ungeübten dabei heftig der Schreck in die Glieder fahren kann. Das aufpreispflichtige Teil-Integral-ABS (1050 Euro) hat bei etwas unsensiblem Zugriff nämlich die fatale Eigenschaft, recht digital zu wirken. Alles oder nichts, auf den ersten Zentimetern am vierfach einstellbaren Handbremshebel kommt gar nichts und dann dank Bremskraftverstärker der ganz, ganz große Anker. Aber keine Panik: Auf dieses System kann man sich durchaus einschießen. Über den Handhebel werden vorn und hinten gleichzeitig die Beläge angelegt, der Fußbremshebel wirkt nur auf den hinteren Stopper. Das ermöglicht auch Heizer-Naturen, ihrem Fahrstil einigermaßen treu zu bleiben. Nach einer kurzen Probefahrt ist man als BMW-ABS-Neuling womöglich mehr abgeschreckt als begeistert, doch nach spätestens zwei langen Touren mit auch nur einer Schreck- und Notbremssituation möchte man als Normalfahrer sehr wahrscheinlich nicht mehr darauf verzichten.
Die in der einsitzigen Basisversion 10850 Euro teure Rockster ist eine BMW für zwei Sorten von Motorradfahrern. Erstens für Menschen, die BMW eigentlich nie mochten – sie müssen womöglich umlernen. Zweitens für Menschen, die endlich eine BMW haben wollen, die erst einmal das Herz und den Bauch und erst danach den Verstand anspricht. Und eine, die nicht jeder Ü50-Exmotorradfahrer toll findet. Also für Menschen wie mich. Die aktuelle Farbkombination lautet „Schieferdunkel-Metallic matt/Titansilber-Metallic”. Wer im Internet die einschlägigen Sammler- und Jägerseiten (www.mobile.de etc.) aufruft, bekommt auch noch jede Menge attraktive Angebote der Erstauflage in „Citrus-Metallic/Softlack Schwarz matt” oder „Orange-Metallic/Softlack Schwarz matt” als ausgesprochen günstige Tageszulassungen. Bei mir steht seit ein paar Monaten ein schwarzweißes Edition-80-Sondermodell in der Garage (Mit serienmäßigen Heizgriffen! Ist mir schon etwas peinlich.) Ab und an lupfe ich die Staubschutzplane, strahle das gute Stück an und murmel leise „Danke, Herr Blaudow”. Als Motorrad für alle Tage dient mir jetzt übrigens eine Honda.