aus bma 7/11 – Fahrbericht

von Klaus Herder

BMW K 1600 GTNach über sieben Jahrzehnten Erfahrung mit der Kombination Sechszylinder/Vierrad hielt es BMW für eine ziemlich gute Idee, den Sixpack auch zwischen nur zwei Räder zu packen. Nicht, dass das bisherige Tourer-Flaggschiff K 1300 GT ernsthaft in Seenot gekommen wäre, doch als Gralshüter der wahren Reisedampfer-Lehre war es für die Bayern mal wieder an der Zeit, den GTRs, FJRs, Pan Europeans und sogar Gold Wings dieser Welt deutlich zu machen, wo der Supertourer-Hammer wirklich hängt.

Rein physikalisch ist so ein Reihensechszylinder ja ohnehin eine ziemlich feine Sache, denn in Sachen Laufruhe, Massenausgleich und Massenkräfte gibt’s eigentlich nichts Besseres – vom V-Zwölfzylinder einmal abgesehen, aber man muss ja noch Reserven für spätere Modellpflegemaßnahmen haben. Imagemäßig ist so ein Sechs-Protz natürlich auch ganz großes Kino, was die an ehrfurchtsvolles Publikum gewöhnten Eigner von Honda CBX oder auch Kawasaki Z 1300 bestätigen können. Entscheidend ist nicht, was auf der Bahn passiert, entscheidend ist, wie das Gerät beim Bikertreff, an der Tanke oder auch nur auf der heimischen Garageneinfahrt rüberkommt. Machen wir uns nichts vor: Ein mit Ausgleichswellen bestückter Vierzylinder muss nicht zwangsläufig unkultivierter laufen, ist dafür aber günstiger, leichter, sparsamer – aber eben auch viel langweiliger. Das möglichst gezielt-beiläufig eingestreute „Hab mir gerade die neue Sechszylinder-BMW gegönnt“ ist in Sachen Dicke-Hose-Wertung durch nichts zu übertreffen. Der Erwerb einer achtzylindrigen Boss Hoss zählt in diesem Zusammenhang nicht, weil er in die Rubrik Stationärmotor- und nicht Motorrad-Kauf fällt.

BMW K 1600 GT CockpitItalienische Motorradproduzenten verkaufen bekanntlich Emotionen, bei den Amis ist es natürlich der handelsübliche Mythos, und Deutschlands führende Zweiradschmiede macht in Sachen Vermarktung auch beim Sechszylinder genau das, was man immer schon gemacht hat: Feinstes Maschinenbauer-Know-how möglichst sehr sachlich unters Volk zu bringen. Wäre ja auch zu einfach, sich hinzustellen und einfach „Schaut her, ihr Lutscher – wir haben den Dicksten. Wir trauen uns das, wovon ihr nur träumt!“ zu rufen. Nein, das wäre unseriös und hätte womöglich etwas mit Lust und Spaß zu tun. Das macht man nicht, und so erklären die Bayern in ihren offiziellen BMW K 1600-Verlautbarungen in epischer Breite, warum man – rein technisch betrachtet – am Sechsender eigentlich nicht vorbeikommt. Besonders stolz ist man in München darauf, dass ihr Schätzchen „mit einem Motorgewicht von 102,6 Kilogramm der mit Abstand leichteste, in Serie gebaute Sechszylinder-Reihenmotor für Motorräder in der Klasse über 1000 cm³“ sei. Okay, das ist wahrlich eine Leistung, da müssen sich die 67 anderen bislang gebauten Sechszylinder-Reihen­- motoren über 1000 cm³ hinten anstellen. Warum nur fallen dem Autor dieser Zeilen momentan nur zwei davon ein? Es mag in diesem Zusammenhang etwas gehässig sein, aber der kleine Exkurs bietet sich an dieser Stelle an: Honda CBX (1977), 274 kg; Kawasaki Z 1300 (1978), 330 kg; BMW K 1600 GT (2011), 342 kg. Die noch üppiger ausgestattete K 1600 GTL wiegt noch 29 Kilo mehr.

BMW K 1600 GTOkay, CBX und Z 1300 hatten serienmäßig auch kein stufenlos elektrisch einstellbares Windschild, keinen Tem­po­­- ­maten, keine Heizgriffe und auch keine Sitzheizung, keine Koffer und vor allem keine Vollverkleidung. Und als extra gab es für sie auch keine Bodenbeleuchtung, für die BMW 73,40 Euro Aufpreis verlangt und die bei Betätigung der Fernbedienung für die aufpreispflichtige Zentralverriegelung (345 Euro) aktiviert wird. Eine äußerst hilfreiche Sache, wenn man be­soffen über den Parkplatz torkelt und nicht mehr weiß, wo man den Stuhl hingestellt hat.

Nüchtern betrachtet haben die BMW-Ingenieure aber tatsächlich einen ungemein kompakten Motor geschnitzt, der mit 555 mm nur gut 5 cm breiter als der hubraumschwächere K 1300-Vierzylinder ausfällt. Relativ wenig Bohrung, überraschend viel Hub (72 x 67,5 mm) und nur 5 mm breite Stege zwischen den Zylindern machen’s möglich. Zum Vergleich: Bei der K 1300 misst der Kolben 80 mm, sein Arbeitsweg beträgt aber nur 64,3 mm. Der K 1600-Motor ist damit eindeutig auf Drehmoment statt auf Leistung ausgelegt. Mit 160 PS leistet er exakt soviel wie der K 1300-Vierzylinder, doch die Höchstleistung liegt bereits bei 7750/min und nicht erst bei 9000/min an. Richtig deutlich wird der Charakter-Unterschied beim maximalen Drehmoment. K 1600: 175 Nm (!) bei 5250/min; K 1300: 135 Nm bei 8000/min. Fettes Drehmoment im unteren und mittleren Drehzahlbereich, ordentliche Leistung oben – darum geht es beim BMW-Reihesechszylinder. Und wer weiß, dass die K 1600 selbst bei Leerlaufdrehzahl schon über 100 Nm stemmt, bekommt vermutlich noch mehr Lust auf eine Probefahrt.

BMW K 1600 GTDavor steht allerdings die Sitzprobe, die auf Anhieb für Vertrauen sorgt. Okay, die Fuhre vom Seitenständer zu wuchten ist eine gewisse Herausforderung und auch beim Rangieren lassen sich knapp sieben Zentner Kampfgewicht nicht ganz verleugnen, aber wenn der Fahrer erst einmal in moderaten 810 oder 830 mm Höhe (bei der K 1600 GTL sogar nur 750 mm) Platz genommen hat, fühlt man sich – zumindest als BMW K-Modell-Kenner – sofort zu Hause. Die Maschine ist perfekt ausbalanciert, der Lenker liegt goldrichtig zur Hand, die Fußrasten sitzen nicht zu weit vorn – für Normalwüchsige passt alles perfekt. Doch jede Ergonomie-Betrachtung wird zur Makulatur, wenn der Reihensechser zum Leben erwacht. Man liebt oder hasst es, aber dieses schaurig-schöne Wroooouuummm lässt niemanden kalt. Eigentlich ist jetzt schon der Zeitpunkt gekommen, an dem man ziemlich genau weiß, dass man das Teil unbedingt haben muss. Oder in tausend kalten Wintern und selbst geschenkt nicht haben will. Dazwischen gibt es nichts, der Sechser polarisiert. So richtig auf die Ohren gibt’s übrigens nur bei der GT; die plüschigere GTL tönt deutlich dezenter, um nicht zu sagen langweiliger.

Die Technik-Basis, also die wie bei den Vierzylindern um 55 Grad geneigte Zylinderbank, der Alu-Brückenrahmen, die Duolever-Vorderradführung und die Paralever-Kardan-Einarmschwinge, ist bei beiden 1600er natürlich völlig gleich. Und so bedarf die Kupplungsbedienung bei beiden 1600ern einer gewissen Gewöhnung. Die Dosierung ist anfangs selbst für erfahrene Motorradfahrer eine Gratwanderung zwischen absterben und aufheulen lassen. Doch der unexakte Druckpunkt und das Pulsieren im Hebel gehören so – BMW verbaut eine selbstverstärkende Mechanik, um die Bedienkräfte gering zu halten. Wie gesagt: Mit etwas Gewöhnung kein Problem, und die Bedienkräfte sind tatsächlich angenehm niedrig. Ebenfalls etwas gewöhnungsbedürftig ist die Zauberei an den linken und rechten Lenkerarmaturen. Wo früher ein simpler Schalter die Heizgriffe an- und wieder ausstellte, darf man sich nun über einen „Multi-Controller, ein Dreh- und Drückrad auf der linken Seite, durch Menüs zappen. Über diese Mimik werden praktisch alle Zusatz-Systeme und Einstellungen für das elektronisch verstellbare Fahrwerk (ESA II, 740 Euro) oder das Audiosystem (1100 Euro) geschaltet. Vorteil dieser Hightech-Bedienung: Die Hand bleibt am Lenker. Nachteil: So ganz ohne Blick auf den „TFT-Farbbildschirm“ klappt’s nicht, da man sich halt durch diverse Menüs wursteln muss. Serienmäßig an Bord sind drei Fahrprogramme („Rain“, „Road“ und „Dynamik“), zwischen denen über die „Mode“-Taste an der rechten Lenkerarmatur gewechselt werden kann. Die Fahrmodi unterscheiden sich in der Gasannahme und beim Regenprogramm auch im Leistungs- und Drehmomentverlauf. Durch das Ziehen des Kupplungshebels und das Schließen des Gasgriffs wird die Programmwahl auch während der Fahrt bestätigt – klingt etwas umständlich, ist es anfangs auch, doch auch und gerade der BMW-Fahrer gewöhnt sich eigentlich an alles und findet es – zumindest am Bikerstammtisch – auch grundsätzlich ganz toll. In diesem Zusammenhang sei an die legendäre Drei-Schalter-Blinkerbetätigung erinnert, die es bei der K 1600 (leider?) nicht mehr gibt.

BMW K 1600 GTDie dringend empfehlenswerte Lektüre des K 1600-Handbuchs ist eine Sache für ruhige Stunden. Das Fahren mit der K 1600 eher nicht, denn was da im Stand etwas behäbig und sehr touristisch aussieht, entpuppt sich in freier Wildbahn als echte Wildsau. Jawoll, zumindest auf der GT hat der Sechszylinder-Fahrer ganz schnell das Messer zwischen den Zähnen. Das ist nichts mit ruhigem Gleiten und entspanntem Cruisen – das extrem leichte Hochdrehen, dieser richtig böse Sound, die ziemlich aktive Sitzposition (gilt für die GT, NICHT für die GTL!) und vor allem dieser wahnwitzige Schub beim Ausdrehen sind dermaßen geil, dass man jedes Philosophieren über Bedienkonzepte oder Aufpreislisten vergessen kann und einfach nur noch lustvoll an der Kordel zieht. Dieser Motor hat ein extrem hohes Suchtpotenzial und ist allein Grund genug, mindestens 19900 Euro beim BMW-Händler zu lassen. Und dieser famose Motor steckt in einem Fahrwerk, mit dem sich sehr, sehr zügig durch die Gegend bolzen lässt. Verbrauch? Bei diesem Fahrspaß eigentlich völlig egal, aber fast immer mit unter sieben Litern erfreulich niedrig. Bei 250 km/h wird elektronisch abgeriegelt (bei der GTL bereits bei 220 km/h), was nicht verkehrt ist, denn dann ist die rasende Schrankwand durchaus geneigt, es etwas pendeln zu lassen – bei der Masse und der Wind-Angriffsfläche nicht wirklich verwunderlich. Diese Selbstbeschränkung sollte den GT-Piloten aber nicht weiter schrecken, denn sein Untersatz macht besonders dort Spaß, wo man es vielleicht am wenigsten vermuten würde: auf Landstraßen – und die dürfen durchaus ziemlich kurvig sein, denn schräglagentechnisch ist man immer im grünen Bereich unterwegs. Der Dampfer knallt super stabil und zielgenau ums Eck. Und – das macht den besonderen Sechszylinder-Charme aus – es muss dafür so gut wie nie im Sechsganggetriebe gerührt werden; denn selbst aus allerniedrigsten Drehzahlen zieht das Teil büffelmäßig durch.

BMW K 1600 GTDass nicht allzu oft die Gänge gewechselt werden müssen, ist vielleicht auch ganz gut so. Stichwort „Klonk!“. Jawoll, es ist wieder soweit: Derbe akustische Getriebe-Lebensäußerungen galten bei BMW eigentlich als ausgestorben, doch die K 1600 knüpft an eine alte Tradition an und teilt ihrem Fahrer unüberhörbar mit, dass der Gangwechsel erfolgt ist. Das Ganze ist mit einem – vorsichtig formuliert – etwas lässigen Lastwechselverhalten kombiniert und schon haben die Japaner-Fahrer wieder etwas zu lästern. Liebe BMW-Ingenieure, ihr habt einen prima Wind- und Wetterschutz hinbekommen, ihr habt ein super fein ansprechendes und brachial wirkendes ABS verbaut – sogar serienmäßig, euer (aufpreispflichtiges) Kurvenlicht ist genial – aber warum in Gottes Namen bekommt ihr es nicht hin, ein leise zu schaltendes Getriebe zu bauen? Und wenn ihr da schon mal bei geht, kümmert euch doch auch bitte um das Heulen des Primärtriebs. Dieser tolle Sechszylinder klingt (besonders unter Last und über 4000/min) dermaßen rattenscharf, dass es doch eine Schande ist, dass man sich diesen Sound durch „Klonk“ und „Heul“ versaut. Kurzfristig bleibt uns nur die absolut berechtigte Hoffnung, die unter das Stichwort „Serienstreuung“ fällt. Oder aber das Vermeiden übertriebener Schaltaktivität, was der Motor aus genannten Gründen absolut unterstützt. Oder anders gesagt: Dieser herrliche Kraftquell wäre auch mit nur drei Gängen völlig ausreichend bestückt.

Noch ein paar Worte zu den Unterschieden zwischen GT und GTL: Wenn Mutti unbedingt mit muss und/oder das Rheuma bereits zuschlägt, und deshalb ein Topcase mit Mega-Rückenlehne sowie weiter vorn und tiefer montierte Fußrasten wichtig sind, mögen die 1950 Euro GTL-Mehrpreis sehr sinnvoll angelegt sein. Ansonsten gilt: Die GT ist die deutlich bessere Wahl; denn sie klingt viel besser, sie ist leichter, ihr Fahrer sitzt aktiver (was besser zum Motorcharakter passt), und außerdem lassen sich die meisten GTL-Extras bei Bedarf nachrüsten. Die 2,5 Liter mehr Tankinhalt der GTL (26,5 statt 24) sind nicht wirklich kriegsentscheidend, das Mehrgewicht des Plüsch-Dampfers gleicht die Sache wieder aus.

Ende der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als die japanische Sechszylinder-Kultur in voller Blüte stand, schaltete BMW nette doppelseitige Anzeigen, in den mit der Frontansicht einer gezeichneten Reihensechszylinder-BMW und dem Slogan „Warum wir keine Alpträume bauen“ geworben wurde. O-Ton des Begleittextes: „Nur weil es – ausgelöst durch den Wettbewerb der Massenanbieter – eine Leistungseskalation gibt, wird BMW nie eine solche Maschine bauen. Eine Maschine, die mit unsinniger Leistung und Gewicht der Wirklichkeit davonfährt. Mit Motoren, die in Automobile gehören.“

Wie schön, dass man sich in München an das alte Adenauer-Motto gehalten hat: „Was schert mich mein Geschwätz von gestern?!“ Sechs, setzen! Und zwar unbedingt zu einer Probefahrt beim BMW-Dealer des Vertrauens.