aus bma 08/04

von Patric Birnbreier

Bisher ging es im Biker Kosmos entweder schnell und komfortabel geradeaus, oder engagiert und flott ums Eck. Alternativ konnte man ein bisschen von beidem haben. Ab September 2004 gelten für die Fortbewegung auf zwei Rädern neue Gesetzmäßigkeiten – die der BMW K 1200 S.

Auf dem Münchener Flughafengelände stehen sie am 14. Juli in gutem bayerischen Blau-Weiß und BVB-freundlichem Gelb-Schwarz, noch unberührt von Nicht-Werksangehörigen, für uns Pressefuzzis bereit. Vierzig Exemplare der nagelneuen K 1200 S mit je 1000 Kilometern auf dem Tacho. Es darf also von Anfang an voll eingeschenkt werden.
Mit heiserem Röcheln erwacht der Vierzylinder. Ein kleiner Dreh am Gasgriff lässt die Drehzahlmessernadel augenblicklich unter aggressivstem Fauchen hochschnellen. Genauso schnell fällt die Drehzahl wieder ab. Unglaublich! Nochmal: Jetzt noch mutiger, lasse ich das Aggregat auf 5000 ein paar Sekunden drehen. Dann ein kurzer Zipp am Kabel. Die Nadel schnellt in Sekundenbruchteilen auf 9000, um gleich wieder auf Standgasniveau abzufallen. Der Sound macht mich ganz irre. Hat Schumi II hier irgendwo sein Formel1-Aggregat gezündet? Nicht ganz, aber doch so ähnlich, denn das erstmalig von BMW quer zur Fahrtrichtung eingebaute Vierzylinder-Reihentriebwerk ist eine vollkommene Neukonstruktion.
Vom Zylinderkopf über die Kurbelwelle bis zum Kassettengetriebe tatsächlich mit Formel1-erprobter Rennsporttechnik gespickt. Vorbei sind die Zeiten, in denen BMW Triebwerke Gummiflitschencharakter hatten. Das Kraftwerk der 1200 S setzt einen Punch frei, der es locker mit den neuesten Supersport-Eisen aus Japan aufnimmt. Dem Motor, dessen Baumaße sich eher mit aktuellen 600er Triebwerken vergleichen lassen, Drehfreudigkeit zu attestieren, grenzt an Majestätsbeleidigung. Im sechsten Gang läuft der Bayernexpress locker gen Tachoanschlag bei 300 km/h. Nur gebremst vom Drehzahlbegrenzer, der knapp über 11.000 Kurbelwellenumdrehungen pro Minute sein Veto gegen den weiter immensen Vorwärtsdrang einlegt, ist Drehzahlsüchtig die angemessene Wortwahl. „Die rein mechanische Drehzahlverträglichkeit liegt weit darüber!”, lassen uns die Ingenieure wissen. Einhundertdreißig Newtonmeter Drehmoment – schon ab 4000 U/min liegen über 100 Nm an – und einhundertsiebenundsechzig Pferdchen Spitzenleistung sind Resultat von Vernunft und Marketing. Das Potenzial des Motors ist in seiner jetzigen Konfiguration noch längst nicht ausgeschöpft. Es scheint, als wolle BMW nun erst mal abwarten, wie die Welt auf diese Herausforderung reagiert.

 

Die K 1200 S selbst hat mit der geballten Kraft des Reaktors jedenfalls kein Problem. Der Pilot ebenso wenig. Grund für die Gelassenheit während der Beschleunigungs-, Durchzugs- und Endgeschwindigkeitsorgien ist das, genau wie der Motor, völlig neu und revolutionär konzipierte Fahrwerk. BMW griff ein Patent des Engländers Norman Hossack aus dem Jahr 1982 auf. Das Prinzip der Hossack-Gabel, welche eine Vorderradführung mit zwei Längslenkern in Parallelogramm-Anordnung vorsieht, entwickelten die BMW Ingenieure weiter und brachten es zur Serienreife. Heraus kam der Duolever. In Verbindung mit den fast waagerecht verlaufenden Rahmenoberrohren, dem sehr tiefen Schwerpunkt, einem langen Radstand und einer Radlastverteilung von genau 50:50 erreicht die K 1200 S einen nicht zu beirrenden Geradeauslauf. Selbst mutwillige Störaktionen des Fahrers ignoriert sie schlicht. Umso erstaunlicher, dass dieser fast schon störrische Geradeauslauf genau dann, wenn man ihn nicht brauchen kann, nämlich auf kurvigen Landstraßenabschnitten, oder in der Stadt, einem spielerisch leichten, präzisen und vor allem agilen Handling weicht. Die vollgetankt gut 248 Kilo leichte Maschine fällt dabei wie von selbst von einer Schräglage in die nächste. Das Vertrauen zum Vorderrad ist von Anfang an groß. Woran sicherlich auch die extra für die K 1200 S entwickelten Metzeler Sportec M1 einen wesentlichen Anteil haben dürften.
Die Antriebskräfte überträgt, auch das ein Novum an einem so sportlichen Motorrad, eine Kardanwelle ans Hinterrad. Hierbei reichte den Ingenieuren der Griff ins Regal. Der Paralever aus der R 1200 GS musste lediglich der neuen Einbausituation angepasst werden. Die sonst übliche Kette an Supersportlern – ja, man muss dieses Motorrad so nennen – wird niemand vermissen. Im Gegenteil: Kette schmieren, spannen und regelmäßig durch ein neues, teures Exemplar samt Kettenrad und Ritzel ersetzen, fällt einfach aus. Negative Kardanreaktionen waren absolut nicht festzustellen. Provozierte Lastwechsel in sowohl extrem hohen als auch niedrigen Drehzahlen lassen Triebwerk und Antriebsstrang völlig kalt.
Während der Duolever seine Fahrwerksarbeit im Verborgenen verrichtet, ist ein nahezu unfassbares Feature stetig präsent. An der linken Lenkerarmatur befindet sich der ESA (Electronik Suspension Adjustment)- Knopf. Mit ihm kann während der Fahrt die Dämpfung in Zug und Druckstufe von Komfort über Normal auf Sport eingestellt werden. Zur Verstellung der Federbasis, zum Beispiel für den Zwei-Personen-Betrieb oder bei Beladung mit Gepäck, muss angehalten werden. Aber auch dann reicht ein Knopfdruck. Stellmotore erhöhen oder mindern die Federvorspannung. Der jeweilige Status wird über das Multifunktionsdisplay im übersichtlichen Cockpit angezeigt. Ist man also gerade im Schmusemodus unterwegs und wird unwürdig hergebrannt, reicht ein Druck aufs ESA, um gnadenlos kontern zu können. Allround in Perfektion!

 

Der neue Duolever

Paralever ähnlich der R 1200 GS

Vernichtet wird all der Vorwärtsdrang mit der schon aus anderen BMWs bekannten EVO-Bremsanlage mit Integral-ABS. Ein würdiger Anker, der in Verbindung mit den Eigenschaften des Duolever in ganz neue Dimensionen vorstoßen lässt. Kreuzt ein Trecker die Einflugschneise, wechseln Klorollen in Häkelverpackung transportierende Rentner im Kriechmodus auf die linke Spur oder hat mal wieder einer sein Fahrrad nicht richtig auf dem Dach befestigt, reich der völlig ungehemmte schreckhaft kraftvolle Griff der Rechten an den Hebel, um die Fuhre optimal und in kürzester Zeit zu verzögern. Bremskraftverteilung vorn und hinten übernimmt das ABS Steuergerät, das progressive Duolever-Federbein steckt die auflaufende Masse locker weg und Ausweichbewegungen sind hart auf der Bremse auch noch möglich. Hauptsache, Brust-, Trizep-, Schulter und Nackenmuskulatur des Fahrers sind fit genug um den Biss in die Verkleidungsscheibe zu verhindern. Wer völlig euphorisiert allzu optimistisch in unbekannte Kurven vorstößt, wird sich besonders darüber freuen, dass ohne nennenswerte Aufstellmomente auch in diesen heiklen Momenten der wohl dosierte Einsatz der Bremse zum Aha-Erlebnis führen kann. Eine nachträgliche Korrektur des Kurvenradius, weg von Graben, Acker oder Kiesbett, ist tatsächlich möglich. Diese Fahrweise sollte allerdings nicht zum Prinzip erhoben werden. Gegen die fälligen Schweißausbrüche und Adrenalinschübe ist schließlich selbst die EVO Bremse machtlos. Sportpiloten aufgemerkt: Das Teilintegral ABS lässt den unabhängigen Einsatz der Hinterradbremse per Fußpedal wie gewohnt zu. Nörgeln also zwecklos! Aber nicht nur deswegen.

Fazit: So gerne wir Journalisten uns an Kleinigkeiten hochziehen, immer doch wenigstens ein Haar in der Suppe finden wollen und ja eigentlich auch müssen – diese BMW macht es einem schwer, sie nicht zu vergöttern. Sämtliche technischen Neuerungen hier ausführlich zu erwähnen (sprachen wir schon über die erschreckend simple aber perfekte Ölstandkontrolle des Trockensumpf-Ölreservoirs, über die raffinierte Ausnutzung thermodynamischer Gesetzmäßigkeiten zur effizienten Motorkühlung, oder einfach über die galaktisch aussehenden und absolut bedien- und blickfreundlichen Blinkerspiegel?) ist schlichtweg unmöglich. Erschlagen von der Summe an Genialitäten und dem wirklich als Quantensprung zu bezeichnenden Fortschritt im Motorradbau müssen wir die grobe Optik des – zugegebener Maßen geil klingenden – Schalldämpfers arg und besonders nachdrücklich rügen.
Eine Probefahrt mit diesem Eisen soll und muss ein jeder ab September unbedingt unternehmen. Sonst kennt er, oder sie nur die halbe Wahrheit des Motorradkosmos. Inklusive ABS und geregeltem Dreiwege-Katalysator ein wirklich seinen Preis wertes Eisen.

Technische Daten BMW K 1200 S

Motor:
Bauart Reihenvierzylinder, quer zur Fahrtrichtung verbaut, Hubraum 1157 ccm,
Bohrung/Hub 79/59 mm, Leistung 123 kW/167 PS bei 10.250 U/min, Drehmoment 130 Nm bei 8250 U/min, Verdichtung 13:1, Kraftstoff 98 Oktan Super Plus, Verbrauch 4,7 Liter bei 90 km/h, 5,5 bei 120 km/h, Kupplung Mehrscheiben Ölbad, Getriebe Sechsgang, klauengeschaltetes Kassettengetriebe

Fahrwerk:
Rahmen Aluminium-Verbundrahmen, Radführung vorn Duolever; hinten Paralever, Lenkkopfwinkel 60,6°, Bremsen vorn Doppelscheibe 320 mm, hinten Einscheibenbremse 265 mm, Räder/Reifen vorn 3,50×17” mit 120/70 ZR 17; hinten 6,00×17” mit 190/50 ZR 17

Maße und Gewichte:
Gesamtlänge 2282 mm, Sitzhöhe 820 mm (790 mm), Gewicht vollgetankt 248 kg, Tankinhalt 19 Liter

Farben:
Granitgrau-metallic, Indigoblau-metallic, Sonnengelb uni/Weißaluminium-metallic, Darkgraphit-metallic, Indigoblau-metallic/alpinweiß

Preis: 14.850 Euro inkl. ABS