aus bma 05/06

von Jens Rademaker

Ginge es hier um Tiere und nicht um ein Motorrad, dann würde ich das hier vorgestellte Exemplar als Chimäre bezeichnen. Die Naturwissenschaft bezeichnet als Chimäre (oder auch Hybriden) Lebewesen, die auf nicht natürlichem Wege entstanden sind und Merkmale zweier Arten miteinander vereinen. Im Bezug auf Fahrzeuge fällt den meisten zu dem Begriff Hybrid nur die Antriebsart ein, z.B. Wasserstoff-Benzin-Motoren, doch auch das ist hier nicht gemeint. Bei der BMW K 1200 GT bezieht sich der Begriff Chimäre auf die gelungene Symbiose von Tourenmotorrad und Sportmaschine. Gut, der geneigte Leser wird anmerken, daß bereits andere Motorräder diese Klasse auszeichnen, doch in Wahrheit ist die neue GT eine eigene Klasse für sich.
Zugeschnitten ist das Motorrad auf eine Zielgruppe, die möglichst komfortable Touren zu entfernten Zielen unternehmen will, die aber trotzdem dem immer mehr Anhänger findenden Besuch eines Renntrainings nicht zu scheuen braucht, da die sportliche Komponente mindestens ebenso ausgeprägt ist wie die komfortable. Die Entwickler übertrugen die Fahrwerks- und Motorentechnologie der Vormodelle K 1200 S und K 1200 R direkt in den sportlichen Tourer. So gesellt sich die K 1200 GT zur der Riege der Vierzylinder-Motorräder. Das hier verwendete Aggregat leistet stolze 152 PS bei 9500 U/min, die Drehmomentkurve erreicht ihren höchsten Punkt mit 130 Nm bei 7750 U/min. In der Praxis bedeuten diese Werte ein souveränes Beschleunigungsverhalten und eine Durchzugskraft selbst aus niedrigen Drehzahlen. Immerhin verspricht BMW, daß ab 3000 U/min immer mindestens 100 Nm anstehen. Wer wirklich schaltfaul ist, kann die GT bequem im fünften und sechsten Gang durch Ortschaften und über Landstraßen bewegen. Die Kraft ist immer präsent und steht auf Abruf bereit.

 

Die K 1200 GT (das GT steht hier für Gran Tourismo) verfügt über alles, was das Tourerherz begehrt. Dazu zählen die hohe Langstreckentauglichkeit, höhenverstellbare Sitzbank und Lenker, hervorragender Wind- und Wetterschutz durch das elektrisch verstellbare Windschild, sowie die lackierten Koffer für das Gepäck. Unser Testmotorrad, das uns von der BMW-Niederlassung Bremen zur Verfügung gestellt wurde, bot schon mehr als die einfache Serienausstattung, und das sollten sich die Käufer einer K 1200 GT auf keinen Fall entgehen lassen: Der Bordcomputer informiert mit den wichtigsten Daten wie z.B. Reichweite mit der Tankfüllung, Durchschnittsverbrauch, Ganganzeige und Ölstandwarner. Der von uns ermittelte Durchschnittsverbrauch von 5,9 Litern auf 100 km (Landstraße/Autobahn) kann sich durchaus sehen lassen. Geringer Verbrauch ist auch gut so, denn gefüttert werden will das Motorrad mit Super Plus Kraftstoff. Die Heizgriffe sind bei BMW ja weit verbreitet, der Heizsitz dagegen eher nicht. Dabei ist ein warmer „Allerwertester” doch nicht zu verachten. Der Soziussitz läßt sich dabei separat einstellen. Den Tempomaten halten einige vielleicht für übertrieben, aber warum darauf verzichten? Auf längeren Autobahnetappen wird’s das Handgelenk danken und mal ehrlich: Wenn einen Tourer kaufen, dann einen echten. Das Xenon-Licht kennt man ja zur genüge aus der Autoindustrie, am Motorrad ist es ein Gewinn der Extraklasse. Das helle weiße Licht und der ausgeleuchtete Bereich sind enorm.
Doch nun zu dem, was die K 1200 GT besonders zum Sporttourer macht: Das Elektronic Suspension Adjustment (ESA). Über eine Schalter am Lenker kann der Fahrer die Fahrwerksabstimmung vornehmen, die andere Tourerfreunde durch betätigen diverser Schrauben und Einstellrädchen erst auspendeln müssen. Die Verstellung von Federbasis und Dämpfung erfolgt bei der BMW über Elektromotoren. Zur Wahl stehen, je nach Belastungszustand (Solo, Solo und Gepäck, Sozius und Gepäck), die Einstellungen, die der Fahrweise des Bedieners (Komfort, Normal oder Sport) entsprechen. Die Einstellungen können sogar während der Fahrt geändert werden.
Zur Verzögerung der Fuhre sorgt bei der GT die EVO-Bremsanlage mit Teilintegral ABS und Bremsbelagverschleißanzeige, die auch bei den anderem Maschinen aus der K- und R-Reihe zum Einsatz kommt. Bei diesem System werden über den Handbremshebel das Vorder- und das Hinterrad angesteuert, während die Fußbremse wie gewohnt nur das hintere Rad verzögert. Vorne packt die Vierkolben-Festsattel-Anlage in die schwimmend gelagerten, 320 mm messenden Doppelscheiben, während am Hinterrad eine Zweikolben-Festsattelanlage die 294 mm Scheibe in die Zange nimmt. Unterstütz wird die gesamte Anlage dabei von den serienmäßig verbauten Stahlflexbremsleitungen, die für einen gleichbleibenden Druckpunkt sorgen.
Zum Ausgleich der Unebenheiten auf Deutschlands Straßen (den anderen natürlich auch) arbeitet vorn die Duolever-Vorderradführung wie bei den übrigen K-Modellen, die den Bremsnick nahezu komplett ausgleicht. Gemeint ist hiermit das Eintauchen der Gabel bei starkem Verzögern. Durch die Technik des Duolevers wird gewährleistet, daß auch bei stärksten Bremsmanövern immer noch Federweg zum Ausgleichen von Unebenheiten zur Verfügung steht. Den einzigen Nachteil dieses Systems erfährt man nur, wenn man die Grenzbereiche z.B. auf einer Rennstrecke auslotet. Dadurch, daß der Duolever den Bremsnick so effizient ausgleicht, fehlt es etwas an Rückmeldung vom Vorderrad. Der Grenzbereich des Vorderrades ist so nur schwer erfühlbar. Aber wie gesagt trifft das nur bei Extremfahrweisen zu. Die Hinterradführung übernimmt der Paralever. Hinter der Bezeichnung verbirgt sich, so der BMW Technik Text: „Eine hochsteife Leichtbau-Konstruktion, dessen Federbein über eine progressive Umlenk-Kinematik an die Hinterradführung angebunden ist.“ Das heißt: Das System verringert die Lastwechselreaktionen, bietet mehr Bodenfreiheit und dämpft das kardantypische Aufbocken beim Beschleunigen und das Zusammenziehen beim Schließen des Gasgriffs.
Doch nun endlich zu den sportlichen Aspekten der BMW. Die optimierte Vollverkleidung ist für einen Tourer ungewöhnlich schlank und bietet somit wenig Angriffsfläche für die lästige Luft (zumindest was den Wiederstand betrifft). Der kraftstrotzende Motor katapultiert die Maschine in 3,1 Sekunden auf 100 km/h und marschiert bis zur Endgeschwindigkeit von 252 km/h zügig durch. Die Trockensumpfschmierung und der kompakte Motor verlagern den Schwerpunkt deutlich nach unten und bringen dadurch mehr Last auf das Vorderrad. Die Einstellung des ESA auf Sport und der heruntergesetzte Lenker sorgen dann für echtes Sport-Feeling. Einer schnellen Kurvenhatz und anschließender Beschleunigung auf der Geraden steht nun nichts mehr im Weg. Einzig die etwas rüde Gasanahme in den unteren Gängen erfordert ein wenig Übung, um die Linie nicht zu verreißen. Gut, das fahrfertige Gewicht von 282 kg paßt eher zu einem Tourer, allerdings merkt man davon in den schnellen Kurven fast gar nichts. Das schwere Geschoß steuert souverän durch die flotten Kombinationen, und die Fußrasten sollten um ihre Substanz bangen. Die Schaltbox, in der sich die sechs Gänge verstecken, läßt die ersten drei Gänge zwar sauber, aber mit lautem „Klong” einrasten, während die folgenden Gänge weich und lautlos schaltbar sind. Mit der ersten Inspektion soll das Schaltknallen jedoch behoben sein.
Wem nun das Wasser im Mund zusammengelaufen ist (zu recht, wie ich meine), der sollte sich über den finanziellen Aufwand so einer Anschaffung im Klaren sein. Die neue K 1200 GT kostet in der Serienausstattung 17.000 Euro. Das von uns getestete Modell verfügte zusätzlich über das Premium-Touring-Paket (ESA, Xenonlicht, Sitzheizung, Heizgriffe, Tempomat und Bordcomputer), das noch einmal mit 1600 Euro zu Buche schlägt. Sicher, das ist nicht wenig, aber selten genug bekommt man soviel Motorrad zu einem angemessenen Preis.
Wer eben die angenehmen Seiten des Lebens zu schätzen weiß, wer sich erschwinglichen Luxus gönnen will und wer zudem mehr Spaß an seinem Hobby haben will, für den ist die K 1200 GT die erste Wahl. Dieses Motorrad ist der (fast) perfekte Zusammenschluß von Komfort und Sportlichkeit in seiner dynamischten Form. Sie ist eben eine Sehenswürdigkeit zum Mitnehmen und Rumzeigen, also: „See you with white-blue.”