aus bma 9/09

von Klaus Herder

BMW G 650 XChallenge Modell 2009BMW und das Thema Enduro: Das war bis vor knapp drei Jahren das Aufeinandertreffen von Extremen. Auf der einen Seite die Boxer-GS, ein ohne Alukoffer, Sturzbügel, Zusatzscheinwerfer und natürlich ABS kaum vorstellbarer Alleskönner, der theoretisch auch auf losem Untergrund eine halbwegs ordentliche Figur abgeben kann, in der Praxis aber doch lieber befestigte Alpenpässe unter die Räder nimmt. Ein tolles Reisemotorrad, zu Recht Deutschlands bestverkauftes Motorrad – aber eine echte Enduro? Mit etwas Zubehör rund 250 Kilo Kampfgewicht und die barocken Abmessungen sprechen eher dagegen. Das zweite Extrem rollt gern im Schlepptau der großen GS: Die einzylindrige F 650 GS, oft mit Tieferlegungs-Kit bestückt und dann von Mutti gelenkt, die mit Hohl- kreuz und sehr nervösem Blick keine wirklich souveräne Figur abgibt. Eine halbwegs coole Enduro sieht wirklich ganz anders aus und wiegt vor allem auch keine 200 Kilo. Das war die BMW-Endurowelt bis zum Herbst 2006, die exotische HP2 Enduro lassen wir mal außen vor.

Okay, in den goldenen Dakar-Jahren hatte BMW oft genug bewiesen, dass man in München auch etwas von echten Wettbewerbsgeräten verstand (oder zumindest wußte, wo man sie bauen lassen konnte), aber das Privatgeschäft mit den leichten Hard-Enduros überlies man großzügig KTM. Doch in Zeiten sinkender Zulassungszahlen konnte man sich nicht mehr erlauben, erstaunlich große Marktnischen unbesetzt zu lassen. Gleich drei davon wollte BMW mit der auf der INTERMOT 2006 präsentierten G-Reihe schließen. Eine gemeinsame technische Basis, also Motor und Rahmen weitgehend baugleich, drumherum sehr eigenständige Verpackungen und auf den speziellen Einsatzzweck abgestimmte Technik-Details – so lautete das Konzept der drei neuen 650er. Die G 650 Xcountry gab den Scrambler, was mit „Kletterer“ zwar wörtlich, mit „Wandermotorrad“ aber besser übersetzt ist. Ein nettes, leichtes Motorrad für alle Tage, das auch mal einen Feldweg unter die sehr moderat profilierten Stollenreifen nehmen kann und das niemanden überfordert. Die G 650 Xmoto bekam die Rolle des wilden Funbikes verpasst. Fette Straßenreifen, riesige Vorderradbremse, angriffslustige Kunststoffschale – nun hatte BMW auch einen Supermoto-Verschnitt im Programm. Als drittes und aus damaliger BMW-Sicht wichtigstes G-Modell sollte die G 650 Xchallenge den orangefarbigen Österreichern kräftig Kunden abjagen.

BMW G 650 XChallenge Modell 2009Greifen wir der Geschichte vor: Das hat nicht geklappt! Xcountry, Xmoto und Xchallenge als Flops zu bezeichnen, wäre vielleicht etwas zu hart. Aber von Bestsellern zu reden, wäre noch verkehrter. Die Xcountry war anfangs viel zu teuer und zu hoch. Sie bekam keine zwei Jahre nach ihrer Präsentation kürzere Federwege und einen Stahl- statt Alu-Heckrahmen verpasst. Der Motor kam fortan nicht mehr von Rotax aus Österreich, sondern von Loncin aus China. Was im übrigen, allen Vorurteilen über vermeintliche China-Kracher zum Trotz, keinen Qualitätseinbruch verursachte. Im Gegenteil – fragen Sie mal Mitarbeiter der BMW-Garantieabteilung. Die Xcountry wurde über 1000 Euro günstiger, ein Renner wurde sie damit leider und unverdientermaßen nicht.

Xmoto und Xchallenge werden bis heute mit dem Rotax-Motor verkauft. Was einen ganz simplen Grund hat: Es handelt sich bei ihnen grundsätzlich um Lagerfahrzeuge, neue Maschinen dieser beiden G-Modelle werden schon lange nicht mehr gebaut – was BMW verständlicherweise nicht an die ganz große Glocke hängt. Jedes G-Modell stammt aus dem Aprilia-Werk im norditalienischen Scorzè. Der Motor ist ein modifizierter F 650-Einzylinder. Der flüssigkeitsgekühlte Vierventiler hat seit 1995 x-fach bewiesen, was für ein alltagstauglicher, sparsamer, robuster und vollgasfester Geselle er ist. Weniger Masse sowie mehr Leistung und Drehfreude standen trotzdem im Lastenheft, denn hier ging es schließlich um ein Vollblut, nicht um ein Muli. Ein neuer Anlasser, ein Generatordeckel aus Magnesium und noch weitere Feinarbeit machten den mit Saugrohr-Einspritzung und Doppelzündung bestückten Single zwei Kilo leichter. Die leichtere Lichtmaschine reduzierte die Schwungmasse, was der Drehfreude und spontanen Kraftentfaltung zugute kam. Wo in der F 650 artige 50 PS bei 6500/min anstanden, sorgen im G-Modell muntere 53 PS bei 7000/min für Dampf im Kessel. Die Ausgleichswelle blieb glücklicherweise drin, die bewährte Ventilsteuerung mit Steuerkette, zwei obenliegenden Nockenwellen und Tassenstößeln ebenfalls. Die ganz große Gewichtsersparnis musste also woanders umgesetzt werden.

BMW G 650 XChallenge Modell 2009Zum Beispiel bei tragenden Teilen: Der geschweißte Hauptrahmen aus Stahlprofilen wurde clever mit Alu-Gussteilen (Schwingenlagerung) sowie Alu-Unterzügen, einem geschmiedeten Alu-Hilfsrahmen für’s Federbein und einem geschraubten Alu-Heckrahmen kombiniert. Die vier Baugruppen sind in ästhetischer Hinsicht keine Offenbarung, ihre Statik und geringe Masse überzeugen aber vollauf. Gute Funktion und tolle Form hat die Zweiarmschwinge aus Aluguss zu bieten. Um aus den 193 Kilogramm einer F 650 GS die 156 Kilo der G 650 Xchallenge zu zaubern, übten sich die BMW-Techniker in einer weiteren Disziplin: Verzicht. Gnadenlos und überall, denn was nicht dran ist, wiegt auch nichts. Statt mit 17,3 Litern, wie bei der F 650 GS, muss der Xchallenge-Fahrer mit maximal 9,5 Litern Sprit auskommen. Der kleine Tank steckt schwerpunktmäßig günstig unter der Sitzbank im Rahmendreieck und wird von rechts befüllt. Die sehr manierlichen Trinksitten der 650er sorgen dafür, dass der knappe Vorrat meist locker für 200 Nonstop-Kilometer reicht.

Wer das erste Mal um die Xchallenge herumschleicht, ist etwas irritiert über den wilden Mix aus einerseits sehr hochwertigen Bauteilen (wichtige Wave-Bremsscheiben, top verarbeiteter Edelstahl-Auspuff, Fußbrems- und Schalthebel aus geschmiedetem Alu, konifizierter Alu-Lenker, Stahlflex-Leitungen) und andererseits eher billig wirkenden Komponenten (nicht verstellbare Einfachst-Handhebel, Moped-Spiegel). Die Xchallenge hat eine Zweipersonen-Zulassung, doch Sozius-Fußrasten kosten zusammen mit den obligatorischen Haltegriffen üppige 260 Euro extra – eine bei einem Grundpreis von 8200 Euro doch recht freche Kalkulation. Wer das nur 1,5 Kilo leichte und für den Geländebetrieb abschaltbare ABS haben möchte, zahlt (theoretisch) weitere 710 Euro.

Doch zur Preisgestaltung später mehr. Zuerst einmal gilt es, die schmale Sitzbank zu entern. Das ist selbst für ausgewachsene Fahrer anfangs gar nicht so einfach, denn 930 Millimeter Sitzhöhe sind schon mächtig luftig. Am einfachsten geht es, wenn man den sehr stabilen und sicheren Stand garantierenden Ständer einklappt, die Fuhre etwas nach links neigt und dann locker das Bein schwingt. Die schmale Sitzbank ist genau so, wie sie aussieht: bretthart. Bevor es losgeht, ist noch ein Blick auf die Wasserwaage fällig. Richtig gelesen: Wasserwaage. Die kleine Libelle ist links am Rahmen montiert und verrät dem Fahrer, ob die Mensch-Maschine-Kombination auch in der Waagerechten ist. Wenn dem nicht so sein sollte, darf man wieder absteigen, die Sitzbank abnehmen und zur serienmäßigen Luftpumpe greifen. Klingt alles womöglich etwas wirr, doch des Rätsels Lösung ist ganz einfach: Die Xchallenge ist (als einziges G-Modell) mit dem bereits aus der HP2 bekannten Conti-Luftfederbein bestückt. Über den Blasebalg gibt’s in der Xchallenge-Gemeinde nur zwei Meinungen: Die eine Fraktion schmeißt das bei längerer Standzeit Druck verlierende Bauteil sofort raus und montiert ein konventionelles Zubehör-Federbein. Die anderen schwören auf das Teil und haben kein Problem damit, alle paar Wochen zur Handpumpe zu greifen oder an der Tankstelle etwas Luft zu fassen.

BMW G 650 XChallenge Modell 2009Über die eigentliche Funktion gibt’s eigentlich keine zwei Meinungen. Besonders beim harten Beschleunigen auf grobem Geröll spielt das Luftfederbein seine Stärken aus und garantiert dem Hinterrad beste Traktion. Obwohl die auf 6 bis 8 bar komprimierte Luft nicht nur federt, sondern auch dämpft, verträgt die Xchallenge selbst härteste Gangart auf grobem Terrain, ohne gleich dicke Backen zu machen. Nur bei extremen Sprungeinlagen hat der Verzicht auf die Hydraulik dann doch irgendwann Grenzen, aber die Xchallenge soll auch kein Motocrosser sein, sondern eine möglichst alltagstaugliche Enduro. Unterm Strich ist das Misstrauen in das Luftfederbein wohl eher eine Kopf- als eine Techniksache.

So ungewöhnlich die Hinterradfederung anfangs wirken mag, so bekannt kommt einem der weitere Umgang mit der Xchallenge vor. Startverhalten, Kupplungsbedienung, Gasannahme – alles so einfach und problemlos, wie von der F 650 bekannt oder besser. Einzig der erhöhte Seegang erfordert anfangs noch etwas Gewöhnung, denn beim (Hart-)Bremsen taucht die mit gewaltigen 270 Millimetern Federweg arbeitende, in Zug- und Druckstufendämpfung verstellbare Upside-down-Gabel sehr tief ein. Was man von 650er-BMW bislang ebenfalls nicht kannte, ist die unglaubliche Leichtigkeit des Seins. Die knapp 40 Kilo weniger sind immer und überall angenehm zu spüren. Der kaum vibrierende, sehr direkt am Gas hängende Einzylinder ballert bereits aus niedrigen Drehzahlen kräftig los, ist herrlich antritts- und durchzugsstark, dreht freudig hoch und wirkt deutlich frischer als sein Single-Verwandter in der alten F 650 GS. Das leicht, leise und exakt zu schaltende, für den gemischten Straßen- und Geländebetrieb goldrichtig übersetzte Fünfganggetriebe verführt den Xchallenge-Treiber immer wieder dazu, eine Stufe runter zu schalten und mit mächtig Zug an der Kordel die Kurbelwelle für Einzylinderverhältnisse mächtig rotieren zu lassen.

BMW G 650 XChallenge Modell 2009Ein kleiner Drehzahlmesser wäre dafür eine feine Sache gewesen, doch den gibt’s (vermutlich aus Gewichts- und Kostengründen) nicht. Dafür aber ein winziges Mäusekino, das digital über Geschwindigkeit, Uhrzeit, Gesamt- und zweimal Tages-Kilometer sowie die Batteriespannung informiert. Oder es zumindest tun sollte, denn in der Reihe der häufigsten Garantiefälle nimmt das Mini-Cockpit einen unangefochtenen Spitzenplatz ein. Etwas gesundes Misstrauen bei den Kilometerangaben gebrauchter G-Modelle ist also durchaus angebracht.

In Sachen Fahrverhalten ist Misstrauen dagegen völlig fehl am Platze, denn die Xchallenge macht es ihrem Fahrer sehr leicht. Hat der sich erst einmal mit dem Hochsitz und dem Tauchprogramm der Marzocchi-Gabel angefreundet, überzeugt das Leichtgewicht mit toller Handlichkeit, guter Fahrstabilität und bester Zielgenauigkeit. Die Schräglagenfreiheit geht konzeptbedingt natürlich gegen unendlich, die Bodenfreiheit wird durch einen serienmäßigen Alu-Motorschutz materialschonend begrenzt.

BMW G 650 XChallenge Modell 2009Ein begeisternder, kerngesunder Motor, dazu ein überzeugendes Fahrwerk mit fein zu dosierenden und ordentlich zupackenden Bremsen, eine praxisgerechte Ausstattung, auf Wunsch ein abschaltbares ABS, lange Wartungsintervalle (10000 Kilometer) – die Mischung passt. Sparsam ist sie auch, sie klingt ganz gut, sie rennt auf der Autobahn pendelfrei über 160 km/h, und ihre (besonders für BMW-Verhältnisse) martialische Verpackung hat nichts Bayerisch-Rentnermäßiges. Da müsste im Verkauf doch was gehen. Tut’s aber nicht wirklich, womit wir bei der Xchallenge-Identitätskrise wären: Für die in Richtung Sahara schielende Fernreise- und Kilometerfresserfraktion ist die Xchallenge einfach zu unkomfortabel, hat eine zu geringe Reichweite und ist nicht wirklich sozius- und gepäcktauglich. Wer dagegen vorhat, es bei echten Wettbewerben krachen zu lassen, findet das G-Modell etwas zu schwer und zu schwach – und kauft eine KTM. Zubehöranbieter wie Touratech haben zwar längst bewiesen, dass eine etwas modifizierte Xchallenge mit ihrer überragenden „Fahrerfreundlichkeit“ durchaus für Amateur-Wettbewerbe taugt, doch am Mythos KTM ist nur schwer zu rütteln. Bleibt als dritte und letzte Zielgruppe die Alltags-Enduro-Kundschaft, also Menschen, die ihrer XT 500 hinterher trauern und auf die alten Tage mal wieder etwas Nettes mit Stollenreifen in der Garage hätten. Gern auch als Zweit- oder Dritt-Mopped. Für diese Menschen ist die Xchallenge (laut Liste) einfach zu teuer, und eine (viel schwächere und schwerere) Yamaha XT 660 R für 6550 Euro sieht doch auch wichtig aus.

Dieses Dilemma sorgte dafür, dass sich die seit 2007 angebotene 650er bei vielen BMW-Händlern zur Standuhr entwickelte und entsprechend verramscht wurde. Die ganz heiße Schnäppchenphase ist mittlerweile zwar schon wieder vorbei, aber für rund 6500 Euro gibt’s junge Vorführer und für rund 7000 Euro Tageszulassungen mit wenigen oder gar keinen Kilometern auf der Uhr. Das ist dann ein sehr fairer Preis für eine sehr gute Enduro, die zwar nicht perfekt ist, die aber jede Menge Spaß macht und ihre Rolle als Unverstandene nicht verdient hat.

Kleiner Internet-Tipp für ernsthaft Interessierte: Unter www.g650x.de tauschen sich die Fans der G-Modelle aus. Wer sich etwas durchs Forum liest, ahnt recht schnell, auf was er sich möglicherweise einlässt.