aus bma 06/06

von Klaus Herder

BMW F 800 STSeit 28 Jahren fahre ich Motorrad, seit 18 Jahren schreibe ich beruflich über sie. In dieser Zeit unterliefen mir zwangsläufig immer wieder Irrtümer und Fehleinschätzungen, das liegt in der Natur der Sache. Ich habe Motorräder unterschätzt (die ersten Triumph) und natürlich auch überschätzt (japanische 400er-Vierzylinder Anfang der 90er Jahre). Unterm Strich kannte ich aber meist meine Pappenheimer, Neuerscheinungen konnten mich von Jahr zu Jahr weniger überraschen.
Doch nun ist es passiert: Ich lag mit meiner Einschätzung der BMW F 800 so dermaßen daneben – weiter daneben ging eigentlich gar nicht. Noch vor ein paar Wochen hätte ich fast jede Wette darauf abgegeben, daß die neue Mittelklassemaschine der Bayern ein gnadenloser Flop wird. Ein flüssigkeitsgekühlter Zweizylinder in einem Allerwelts-Fahrwerk und mit einer eher biederen Verpackung zum Premium-Preis – wer braucht das ausgerechnet von BMW? Gute, günstigere Mittelklasse-Zweizylinder gabs doch schon genug: Zum Beispiel Kawasaki ER-6, Suzuki SV 650, Yamaha TDM 900. Wer partout einen kleineren Twin mit Propeller am Tank fahren wollte, sollte gefälligst zur gut abgehangenen BMW R 850 greifen. F 800? Überflüssig wie ein Kropf!

BMW F 800 STTja, und dann passierte die Sache mit Südafrika. Und glauben Sie jetzt bitte nicht, daß mein Sinneswandel irgendetwas mit diesem exotischen, angenehm warmen Reiseziel zu tun hatte, denn Afrika an sich interessiert mich nicht die Bohne. Und das meiner Meinung nach völlig überschätzte Südafrika noch viel weniger. Spanien, Italien, Südfrankreich – die klassischen Länder für Motorrad-Vorstellungen im Winter wären mir viel lieber gewesen. Aber egal: Elf Stunden im Flieger und schon ist man in Kapstadt. BMW hatte zur Präsentation des Sportboxers R 1200 S und besagter F 800 geladen. Der Zeitplan wirkte ziemlich merkwürdig. Montag: Fahrpräsentation R 1200 S mit einem Abstecher auf die Rennstrecke. Dienstag: Fahrpräsentation F 800 S und ST in freier Wildbahn. Die Inszenierung erschien mir ziemlich ungeschickt. Da sollte die Journalisten-Meute bereits am ersten Tag das vermeintliche Highlight und Spaßgerät erfahren, um dann am zweiten Tag von einem potenziellen Langweiler wieder völlig runtergebracht zu werden? Umgekehrt wäre es doch viel cleverer gewesen – erst die Pflicht, dann die Kür.

BMW F 800 SDoch die BMW-Verantwortlichen wußten natürlich ganz genau, was sie taten, und ihre Terminplanung war goldrichtig. Die Sache mit dem Sportboxer artete nämlich in echte Arbeit aus und war durchaus anstrengend. Der kernige Bollermann ist schon etwas ganz Spezielles, und wer den Stier nicht bei den Hörnern packt, hat nicht wirklich Spaß damit (der bma-Fahrbericht folgt bei Gelegenheit). Der Tag mit der F 800 war dagegen ein einziger Genuß. Ich kann mich nicht erinnern, mit einer BMW auf Anhieb jemals soviel Fahrspaß gehabt zu haben.

Doch der Reihe nach. BMW-Entwicklungschef Peter Müller haute bei der Pressekonferenz am Vorabend der Präsentation mächtig auf die Pauke: „Unser Entwicklungsziel war es, den besten Zweizylinder im Markt zu bauen.” Und dann erläuterten er und seine Kollegen sehr ausführlich, warum genau diese Konstruktion gewählt wurde. Die technischen Details lassen aufhorchen, denn was von außen so gewöhnlich aussieht, ist ein echtes Technik-Schmankerl. Der 798 cm große Reihenmotor ist nämlich ein echter Parallel-Twin, also ein Gleichläufer, bei dem die beiden Kolben völlig synchron auf und ab sausen. Gezündet wird aber wechselweise (360 Grad Zündversatz). Der klassische BMW-Boxermotor arbeitet ganz genauso, ist also nichts anderes als ein „aufgeklappter” Parallel-Twin. Die gleichmäßige Zündfolge bietet beste Voraussetzungen für einen guten Ladungswechsel und damit eine üppige Drehmomentausbeute.

BMW F 800 SDer Nachteil sind die starken Vibrationen, die Fahrer britischer Twins der 60er und 70er Jahre wissen, wovon die Rede ist. Nun hätte BMW natürlich mit ein oder zwei Ausgleichswellen als Vibrationskillern arbeiten können, doch die hätten zusätzlichen Platz benötigt, hätten zusätzlichen Lärm verursacht und Leistung gekostet. BMW wählte ein viel cleveres System: Das Ausgleichspleuel. Zwischen den beiden „offiziellen” Pleueln sitzt, um 180 Grad versetzt, ein kürzeres, aber schwereres drittes Pleuel. Daran montiert ist kein weiterer Kolben, sondern ein langer, waagerecht platzierter Schwinghebel. Das Ausgleichspleuel bewegt sich gegenläufig zu den Motorpleueln und bewegt dadurch den Schwinghebel. Das alles dient als Massenausgleich und sorgt dafür, daß störende Massenkräfte erster und zweiter Ordnung nahezu vollständig aufgehoben werden – der Twin arbeitet deutlich vibrationsärmer. BMW hat das System nicht erfunden, die Rennmaschine Ducati Supermono und der Roller Yamaha Tmax 500 sind mit ähnlichen Konstruktionen bestückt. Im Motorrad-Serienbau ist die Ausgleichsmechanik bislang aber einzigartig.
Mit jeder Menge Technik-Highlights ging die Präsentation weiter: „Semi-Trockensumpfschmierung”, die ohne separaten Öltank auskommt, aber trotzdem die Vorteile der Trockensumpfschmierung (u.a. jederzeit gesicherte Ölversorgung) bietet; ein von den neuen K-Modellen bekannter Vierventil-Zylinderkopf mit zwei obenliegenden Nockenwellen und Schlepphebeln für die Ventilbetätigung (das Ventilspiel muß nur alle 20000 km kontrolliert werden); Saugrohreinspritzung, G-Kat plus Sekundärluftsystem und noch viel mehr. Heraus kamen 85 PS bei 8000 U/min und klassenunüblich hohe 86 Nm bei vergleichsweise niedrigen 5800 U/min. Damit ist die F 800 in Sachen Drehmoment unangefochten Klassenprimus, eine Triumph Thruxton zum Beispiel stemmt mit mehr Hubraum (865 cm) deutlich weniger Drehmoment (72 Nm) und benötigt dafür auch noch höhere Drehzahlen (6400 U/min). Bereits ab 3000 U/min bis zum roten Bereich bei 8500 U/min stehen bei der BMW immer über 70 Nm zur Verfügung – das ist mehr, als einige Konkurrenzmodelle als Maximalwert zu bieten haben. Der BMW F 800-Motor wird übrigens von Rotax im oberösterreichischen Gunskirchen produziert und einbaufertig ins BMW-Werk in Berlin-Spandau geliefert. Kleiner Exkurs in Sachen Rotax: Der Motoren-Hersteller ist mitnichten ein urösterreichisches Unternehmen. Rotax wurde 1920 in Dresden gegründet, gehörte ab 1930 zu Fichtel & Sachs in Schweinfurt und wurde erst 1943 nach Österreich verlagert. Seit 1970 gehört Rotax zum kanadischen Bombardier-Konzern.
F 800 CockpitDer F 800-Motor hat es faustdick hinter seinem Gehäuse, doch auch beim Drumherum investierten die BMW-Ingenieure während der 47-monatigen Entwicklungszeit mächtig viel Hirnschmalz. Als Endantrieb wählten sie einen Zahnriemen. Das nahezu wartungsfreie System hatte sich bei der F 650 CS bereits bestens bewährt, der F 800-Riemen ist aber noch breiter und besser abgedeckt. BMW geht von einer Laufleistung von über 40000 Kilometern aus. Der Motor ist an acht Stellen mit dem aus Alu-Profilen und -Gußteilen bestehenden Brückenrahmen verschraubt und hat mittragende Funktion. Die bildschöne Einarmschwinge ist direkt im verstärkten hinteren Teil des Motorgehäuses gelagert, was Gewicht spart und vor allem eine exakte Führung des Zahnriemens garantiert. Das Rahmenheck besteht aus Stahlrohr und ist an vier Punkten mit dem Alurahmen verschraubt. Das macht (Unfall-)Reparaturen günstiger.

Bei der Radführung und bei den Federelementen gab’s für BMW-Verhältnisse eine kleine Revolution: Nix Tele-, Duo-, Para- oder Sonstwas-Lever, bei der F 800 kommen ganz stink-normale Allerweltsteile vom japanischen Zulieferer Showa zum Einsatz. Vorn eine 43er-Telegabel, hinten ein Zentralfederbein, das direkt an besagte Einarmschwinge angelenkt ist. Soviel sei verraten: Was im ersten Moment nach Sparprogramm aussieht, funktioniert hervorragend. Wer die F 800 gefahren hat, fragt sich (u.a. auch in Sachen Bremsen), was der ganze Hightech-Krempel an den anderen BMW-Modellen eigentlich soll.
Die F 800 ist in zwei Versionen lieferbar: Als sportliche S mit flachem Windschild, kurzem Verkleidungs-oberteil, tief montierten Lenkerstummeln, dem Raddesign „Speed” (von K 1200 S) und einer schwarzen Vorderradabdeckung. Die S steht bereits bei den Händlern und ist ab 8450 Euro zu bekommen. Der 700 Euro teurere Sporttourer ST bietet ein höheres Windschild, eine seitlich weiter herunter gezogene Verkleidung, einen höheren Rohrlenker, eine serienmäßige Gepäckbrücke, das Raddesign „Dynamik” (von R 1200 ST) und eine lackierte Vorderradabdeckung. Die ST ist erst ab September lieferbar.
Ich konnte in Südafrika beide Modelle fahren und spreche hier und jetzt eine klare Kaufempfehlung aus: Die S mit dem Lenker der ST. Mit 16 Litern Super, im unter der Sitzbank versteckten Tank, wiegt die F 800 S fahrfertig nur 204 kg, die ST bringt fünf Kilo mehr auf die Waage. Für Menschen ab 1,70 Meter ist die 820 mm hohe, im vorderen Bereich angenehm schmal geschnittene, Sitzbank eine gute Wahl. Kürzere Zeitgenossen bekommen ohne Aufpreis auch eine 790-mm-Sitzgelegenheit. Leicht vorn übergebeugt auf der S und relativ aufrecht auf der ST ist der Fahrer in jedem Fall bequem untergebracht. Die Position der Fußrasten ist bei beiden Modellen identisch und absolut langstreckentauglich. Beide Handhebel lassen sich verstellen, die Spiegel der S bieten etwas mehr Rücksicht als die der ST. Wer das volle Informations-Angebot haben möchte, ist mit 185 Euro extra dabei. Dafür gibts einen Bordcomputer, der Tank- und Ganganzeige bietet, sowie Kühlmitteltemperatur, Durchschnittsgeschwindigkeit und -verbrauch, Momentanverbrauch, Reichweite und Außentemperatur verrät. Eine Stopuhr gehört auch noch dazu. Alles ganz nett, doch die serienmäßige, gut abzulesende Instrumentierung reicht eigentlich vollauf.

BMW F 800Nach dem Druck aufs Knöpfchen sorgt der Twin beim unbedarften Zuhörer für eine echte Überraschung: Aus der komplett aus Edelstahl gefertigten Auspuffanlage tönts durchaus kernig nach Boxer. Richtig gelesen, die F 800 hört sich so an, wie sich eine zweizylindrige BMW eigentlich immer schon angehört hat. Den Techniker überrascht es kaum, die identische Zündfolge machts möglich. Griff zur Kupplung, Tritt zum Schalthebel – alles flutscht so leicht und locker, wie wir es von guten Japanern kennen. Und mit ganz viel Spaß geht es auch weiter, denn Gasannahme, Laufruhe, Durchzugsvermögen, Drehfreude – alles vom Feinsten. Schaltfaule Zeitgenossen können völlig entspannt im sechsten Gang mit 2000 U/min durch Ortschaften trödeln, um dann am Ortsausgang kräftig an der Kordel zu ziehen. Kein Ruckeln, kein Verschlucken, kein Durchhänger. Der Twin powert munter los um dann bei 5000 U/min den Nachbrenner zu zünden. Der Sound wird dann noch etwas kerniger, und das Grinsen im Gesicht des Fahrers noch etwas breiter. Nun ist eine 800er ja normalerweise ein recht ausgewachsenes Motorrad, das am Anfang und zur Eingewöhnung mit einem gewissen Respekt behandelt werden sollte. Auf der F 800 verhält sich das etwas anders, denn die perfekt ausbalancierte Maschine gibt ihrem Fahrer bereits nach wenigen Kilometern das Gefühl, als ob er im Leben nie etwas anderes gefahren hätte. Absolute Vertrautheit, das trifft es wohl am besten, macht sich breit, und entsprechend forsch kann es dann zur Sache gehen. Wer das 690 Euro teure ABS geordert hat, ist mit einem noch besseren Gefühl unterwegs. Der neue Blockierverhinderer von Bosch ist vermutlich das simpelste, aber mit Sicherheit auch das beste ABS, das BMW jemals verbaut hat. Den unsäglichen Bremskraftverstärker gibts bei der F 800 nicht, die überflüssige Integralbremsfunktion auch nicht. Wer vorn reinlangt, bremst auch nur vorn. Und das ziemlich vehement, denn die Vierkolbenzangen beißen sehr, sehr kräftig in die 320er-Scheiben. Die Abstimmung des ABS ist zudem eher sportlich, die Regelung greift erst spät und dann mit kurzen, feinen Intervallen ein. Im Bremshebel ist nur ein schwaches Pulsieren zu spüren. Die F 800-Bremse ist der beste Stopper, den ich jemals an einer BMW gefahren habe. Die Anlage steht sehr guten Supersportler-Bremsen in nichts nach.
Bei den Bremsen ist also weniger deutlich mehr. Das gilt auch fürs Fahrwerk, denn was beim ersten Augenschein nach Sparlösung aussieht, ist das Beste, was BMW einem neuen Motorrad antun konnte. Die Gabel läßt sich gar nicht verstellen. Na und? Die serienmäßige Abstimmung ist der goldrichtige Kompromiß zwischen sportlich-straffer und ausreichend komfortabler Vorderradführung. Wer partout am Zentralfederbein herumdoktern möchte, kann Federbasis und Zugstufendämpfung variieren. Zumindest für normalgewichtige Solofahrer ist das aber nicht nötig, der Urzustand paßt perfekt. Ich kann mich an keine BMW der letzten Jahre erinnern, die soviel Transparenz vermittelt hat, wie die F 800. Man ist nicht entkoppelt unterwegs. Wenn man kräftig in die Eisen langt, ist das auch zu spüren. Störende Vibrationen kommen zwar nicht durch, aber man merkt jederzeit, daß der Twin lebt.
Die F 800 fährt sich wie ein ganz normales, sehr gut abgestimmtes und ziemlich handliches Motorrad. Der herrliche Motor steckt in einem prächtigen Fahrwerk. Hatte man in den letzten Jahren manchmal den Eindruck, daß BMW ungewöhnliche technische Lösungen oft als Selbstzweck gewählt hat, kann man sich bei der F 800 ziemlich sicher sein, daß bei der Entwicklung nicht nur technikgeile Ingenieure, sondern auch begeisterte Motorradfahrer beteiligt waren. Ich bin sehr froh darüber, daß ich mit meiner Einschätzung so voll daneben lag. So gern ich über einen vermeintlichen Langweiler gelästert hätte, so viel mehr Spaß macht es, endlich mal wieder eine BMW zu fahren, die nicht nur Klapphelmträger und Heizgriff-Fetischisten begeistern kann.