aus bma 4/13
von Klaus Herder

BMW F 800 GTDas Kürzel ST in der Modellbezeichnung hat BMW eigentlich noch nie richtig Glück gebracht. In der nun schon 90-jährigen Geschichte der Marke tauchten die beiden Buchstaben erstmalig 1982 bei der R 80 ST auf. Die STraßenausführung der R 80 G/S war nach Meinung nicht weniger BMW-Kenner der beste, weil fahraktivste Straßen-Boxer, den BMW bis dahin jemals gebaut hatte. Doch die etwas verwachsen aussehende Maschine blieb ein Nischenprodukt und nur zwei Jahre im Programm. Mit der F 650 ST ging es 1997 weiter, das ST stand für „Strada“, und erneut handelte es sich um die nachgeschobene Straßenausführung eines erfolgreichen Stollenreifen-Modells. Diese ST sollte zudem besonders Frauen ansprechen – keine gute Idee; denn ihr nachträglich auf eine besonders geringe Sitzhöhe zurechtgetrimmtes, etwas wurstiges Design bescherten dem Single ein ähnliches Schicksal wie zuvor der ST-Boxer-Verwandtschaft. Nächster Versuch 2005, nächster Flop: BMW R 1200 ST, die mit dem gotischen Hochkant-Doppelscheinwerfer, das designmäßig vielleicht peinlichste Gerät, das in Berlin-Spandau jemals das Licht der Motorradwelt erblicken durfte. Ganz nebenbei eine phantastische Fahrmaschine, ein toller Sport-Tourer – aber eben in den Augen der meisten Betrachter pottenhässlich und kommerziell entsprechend „erfolgreich“. Nur etwas über 7000 R 1200 ST wurden bis 2008 insgesamt gebaut, davon blieben rund 2500 in Deutschland. BMW ist eigentlich andere Verkaufszahlen gewohnt.

BMW F 800 GT ZahnriemenDie waren bei der 2006 eingeführten F 800-Baureihe von Beginn an gar nicht so übel. Die sportliche F 800 S und ihr reisetauglicheres, 700 Euro teureres Schwestermodell F 800 ST wurden vom Markt zwar nicht euphorisch, aber immer noch recht ordentlich aufgenommen. Doch erst die 2008 und 2009 nachfolgenden F 650/800 GS und F 800 R zündeten richtig und zeigten, dass da noch viel mehr drin war. Die jüngsten Mitglieder der F 800-Familie verkauften sich deutlich besser als ihre beiden Urahnen. Für die stückzahlmäßig weit abgeschlagene F 800 S kam folgerichtig im Juli 2010 das Produktionsende. Der sich zwar etwas besser, aber auch nicht gerade wie geschnitten Brot verkaufenden F 800 ST ging es zwei Jahre später an den Kragen. Zum Glück aber nur namenstechnisch, denn aus der ST wurde auf der Mailänder Messe EICMA Ende 2012 die F 800 GT. Laut Presse-Info will BMW mit der GT „einen neuen Maßstab bei Motorrädern der Mittelklasse“ setzen. Was durchaus gelingen könnte, denn eine GT im ursprünglichen Sinne gab es nach dem Ableben der Honda Deauville in der Mittelklasse auch gar nicht mehr.

Aber was ist überhaupt ein(e) GT? Da stelle mer uns mal janz dumm – und schauen bei Wikipedia rein: GT wird mit Grand Turismo (italienisch), Grand Touring (englisch) und Grand Tourisme (französisch) übersetzt und steht für „relativ komfortable und gut motorisierte Sportwagen, die für Langstreckenrennen geeignet sind“. Machen wir aus dem Sportwagen ein Sportmotorrad, nehmen die Sache mit dem Langstreckenrennen nicht ganz so wörtlich, und schon kommen wir dem GT-Charakter auch zweiradmäßig etwas näher.

Ein durchaus sportliches Motorrad war auch schon die F 800 ST. Ihr 85 PS starker Paralleltwin überzeugte mit viel Kraft im unteren und mittleren Drehzahlbereich, mit einer tadellosen Gasannahme und nicht zuletzt mit geringem Verbrauch und einem höchst erfreulichen Sound. Dank Hilfspleuel und Schwinghebel kamen nur angenehme Vibrationen durch. Der potente Gleichläufer schickte seine Kraft über einen wartungsarmen Zahnriemen ans Hinterrad und steckte in einem Fahrwerk, das für BMW-Verhältnisse zwar eher simpel gestrickt war, dabei aber tadellos funktionierte.

BMW F 800 GT CockpitDie Basis stimmte also, doch was, außer dem Buchstabentausch, macht nun aus einer ST eine GT? Es ging darum, die Fuhre noch etwas stärker, noch etwas kom­fortabler und reisetauglicher sowie noch bedienungsfreundlicher zu machen, ohne die sportlichen Tugenden außer Acht zu lassen. Die Sache mit der Leistung ließ sich relativ einfach erledigen: Die BMW-Techniker schnappten sich für die GT die Auspuffanlage des von Haus aus schon etwas stärkeren Schwestermodells F 800 R und spendierten eine neue Motorabstimmung in Form eines aktualisierten Mappings. Heraus kamen fünf Mehr-PS. Die nun 90 PS liegen wie schon die bisherigen 85 PS bei 8000/min an. Das maximale (und für die Klasse erfreulich hohe) Drehmoment von 86 Nm bei 5800/min blieb unverändert. Netter Nebeneffekt der Auspuff-Operation: Der ohnehin schon gelungene Sound wurde noch etwas besser. Klang die ST bauartbedingt nach Boxer, klingt die GT nun nach bösem Boxer. Nicht lauter und prolliger, sondern ganz legal kerniger und bassiger. Den im BMW-Originalzubehör erhältlichen Akrapovic-Sportschalldämpfer kann man sich also getrost sparen, wenn es einem mehr auf den Sound als auf die 1,7 Kilo Gewichtseinsparung ankommt.

BMW F 800 GT Federbasis EinstellungStichwort Gewicht: BMW nannte für die alte ST ein Leergewicht von 209 Kilogramm, die neue GT soll offiziell 213 Kilo wiegen. Ein paar Gründe für die leichte Zunahme: ABS war bei der ST ein aufpreispflichtiges (in der Praxis aber immer mitbestelltes) Extra und ist bei der GT in Form des topaktuellen Zwei-Kanal-ABS von Bosch serienmäßig. Die bildschöne Einarmschwinge legte um 50 mm zu, was der Fahrstabilität zugute kommen soll; und auch bei der komplett neuen Vollverkleidung mit ihrem optimierten Wind- und Wetterschutz kommt wohl etwas mehr Material (und damit Masse) als bisher zum Einsatz. In der Praxis interessiert vermutlich nur das tatsächliche Gewicht einer typisch (also komplett) mit Extras ausgestatteten Maschine, und da kamen bei der ST 218 Kilo zusammen, bei der GT sind es 221 – beides eher wenig für einen vollverschalten Reisepartner. Die Differenz ist in der Praxis nicht zu spüren. Wenn überhaupt, wirkt sogar die GT etwas handlicher – der um 20 mm höher und nun schwingungsentkoppelt montierte, aus konischem Alurohr gefertigte und etwas stärker gekröpfte Lenker macht’s möglich. Die von 840 auf 800 mm reduzierte Basis-Sitzhöhe trägt vermutlich ihren Teil zur gefühlten Handlichkeits-Optimierung bei. Die um 15 auf 125 mm leicht reduzierten Federwege und die leichteren, deutlich dynamischer geformten Räder stehen der Sache auch nicht gerade im Wege. Das minimale Mehrgewicht wird spätestens dann völlig uninteressant, wenn man erfährt, dass sich bei einer den gemeinen Fernreisenden viel mehr interessierenden Sache etwas getan hat: Die GT darf satte 207 Kilo und damit elf Kilo mehr als die ST zuladen. Von der etwas reduzierten Basis-Sitzhöhe der nun auch mit breiterer Sitzfläche antretenden Seriensitzbank war bereits die Rede; BMW-typisch gibt’s aber als Sonderausstattung bzw. Sonderzubehör (Unterschied: ab Werk/ab Händler) auch Sitzgelegenheiten mit abweichenden Höhen. Als da wären 765, 785, 820 und 845. Das macht üppige acht Zentimeter Differenz zwischen der tiefsten und höchsten Sitzgelegenheit – da sollte für jeden etwas Passendes dabei sein.

BMW F 800 GT HeckDie Metamorphose von der ST zur GT brachte unter dem Oberbegriff „Ergonomie-Optimierung“ noch ein paar weitere, vermeintlich kleine, aber durchaus spürbare Verbesserungen mit sich: So sitzen die Fahrerfußrasten nun jeweils einen Zentimeter weiter vorn und tiefer. Das beschert dem Fahrer einen etwas entspannteren Kniewinkel, ändert aber nix Wesentliches an der durchaus dynamischen, spürbar vorderradorientierten Sitzposition, die sich angenehm von den eher etwas entkoppelten Sitzpositionen auf den hubraumstärkeren BMW-Tourern unterscheidet. Ebenfalls vermeintlicher Modellpflege­-Klein­kram, der aber deutliche Verbesserungen bringt: die längeren Spiegelausleger, die Schalter der jüngsten Generation und das leicht überarbeitete Cockpit mit seinen neu gezeichneten Zifferblättern und der nun einteiligen LCD-Anzeige, die jetzt serienmäßig mit Balkenanzeigen für Tankinhalt und Motortemperatur bestückt ist. Wer auch noch Wert auf eine Ganganzeige und ein Außenthermometer legt, bekommt für 120 Euro Aufpreis den obligatorischen Bordcomputer.

BMW F 800 GT FrontStichwort Aufpreise: Ja, auch die GT lässt sich natürlich mit allerlei Extras bestücken. Sogar mit ein paar mehr als die ST, denn BMW hat nun für 305 Euro eine abschaltbare automatische Stabilitätskontrolle (ASC) im Programm und liefert für weitere 295 Euro die elektronische Fahrwerkseinstellung ESA, die dem Fahrer ermöglicht, auch während der Fahrt die Zugstufe des Zentralfederbeins von komfortabel über normal bis sportlich zu variieren. Die Reifendruckkontrolle RDC ist für 210 Euro Aufpreis ab Werk montiert, und da die Bayern natürlich wissen, dass der typische BMW-Kunde gern das ganz große Kino wünscht, gibt’s auch eine Komplettlösung namens „Sicherheitspaket“: ASC, ESA und RDC für zusammen 690 Euro – macht 120 Euro Ersparnis im Vergleich zum Einzelkauf. Das „Komfortpaket“ wird für GT-Kunden vermutlich auch zum Pflichtprogramm gehören, denn wer möchte schon gern auf Heizgriffe, Bordcomputer, Haupt­ständer und Kofferhalter verzichten? Eben, und die 450 Euro sind ja auch schnell vergessen. Okay, für den neu konstruierten, 2x 10 Kilo verkraftenden Hartschalen-Koffersatz (bei dem aber nur in den rechten Koffer ein Integralhelm passt) sind dann noch mal 590 Euro fällig, das 28-Liter-Topcase kommt 345 Euro extra, und der Innentaschen-Satz ist für 150 Euro fast schon ein Schnapper. Der geneigte Leser ahnt es schon: Zum F 800 GT-Basispreis von 10300 Euro (plus 390 Euro Nebenkosten) lassen sich locker für über 2000 Euro Extras aufsatteln.

Um sehr viel Spaß mit der in Weiß, Graphitmetallic und Orangemetallic lieferbaren GT zu haben, ist der ganze Zubehör-Zauber aber nicht erforderlich. Ein eher spät und dann sehr fein regelndes ABS ist wie gesagt serienmäßig, und auch eine Gepäckbrücke ist ebenso wie die verstellbaren Handhebel im Basispreis enthalten. Hinter der neuen, aber immer noch angenehm körperbetont geschnittenen Verkleidung ist der Fahrer auch ohne weiteren 1.-Klasse-Aufpreis bestens untergebracht. Der Helm normalwüchsiger GT-Fahrer liegt absolut verwirbelungsfrei im Fahrtwind, alle darunter liegenden Körperpartien werden konditionsschonend sehr gut vor den Luftmassen geschützt. Besonders der optimierte Windschutz von Beinen und Füßen fällt angenehm auf. Die GT ist – wie auch schon die ST – kein Trödel-Tourer. Ihr Motor nimmt zwar bereits ab 2000/min sauber Gas an und verträgt klaglos eine betont untertourige Fahrweise, doch der kernige Twin verführt permanent dazu, etwas kräftiger an der Kordel zu ziehen. So ab 5000 Touren wird herrlich tönende Zweizylinder nämlich richtig zum Luder, das ihrem Herrn bis zum Begrenzer bei 8500/min permanent ein „Los, besorg’s mir!“ ins Ohr posaunt.
Bei aller Motor-Hörigkeit sollte der GT-Pilot aber die absolute Kontrolle über seinen Schaltfuß behalten. Unkonzentriertes, unsauberes Arbeiten bestraft das etwas zu lang übersetzte Sechsganggetriebe nämlich mit ungewollten Leerstufen. Wer aber genau und mit etwas Nachdruck arbeitet, wird mit exakter Rastung und geräuschfreien Gangwechseln belohnt und darf sich über die auffallend leichtgängige Kupplungsbetätigung freuen.

BMW F 800 GTZum potenten, mit einem Verbrauch von selten über 4,5 Litern erfreulich sparsamen Motor passt das goldrichtig abgestimmte Fahrwerk. Die GT überzeugt mit einer guten Mischung aus sportlich-straff und komfortabel mit einer leichten Sport-Tendenz. Was wiederum bestens dazu passt, dass sich die GT mit zunehmendem Tempo immer wohler fühlt. Sie ist kein Handling-Wunder, will und kann es auch gar nicht sein, doch wer sie mit klarer Ansage durch Winkelwerk führt, wird von ihrer Neutralität, Zielgenauigkeit und Schräglagenfreiheit sowie den bestens mit dem GT-Charakter harmonierenden Metzeler Z8 begeistert sein. Fahrradähnliche Nervosität überlässt sie den unverkleideten Vertreterinnen ihrer Klasse, schließlich muss die GT nicht nur auf kurvigem Geläuf überzeugen. Zum GT-Job gehört auch das möglichst komfortable und dabei zügige Abreißen vieler Autobahn-Kilometer. Und auch diese Aufgabe erfüllt sie tadellos. Ob solo oder zu zweit, ob mit oder ohne Gepäck – die GT zieht immer völlig neutral ihre Bahn und lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Ihre angegebene Höchstgeschwindigkeit von 224 km/h muss kein theoretischer Wert bleiben, freie Bahn natürlich vorausgesetzt.

BMW hat mit der R 1200 RT und vor allem der K 1600 GT Reisepartner im Programm, die imagemäßig und natürlich auch in Sachen Komfort deutlich mehr zu bieten haben. Und auch die neue Wasserboxer-GS wird den einen oder anderen Reisewütigen davon abhalten, sich in den U1200-Kubik-Niederungen umzuschauen. Dem GT-Ideal – also dem Reisen mit durch­aus sportlicher Grundnote – kommt die F 800 GT aber im BMW-Programm am nächsten. Und das gilt auch für die Mittelklasse: Die wohl beste Gran Turismo in der 650-bis-800-Kubik-Kategorie ist momentan das Motorrad, das auch so heißt: die BMW F 800 GT. Schön, dass das unglückliche ST-Kürzel verschwunden ist. Noch schöner, dass nun nicht nur GT draufsteht, sondern dank vieler wirksamer Modellpflegemaßnahmen auch GT drin ist.