BMW F 650 GS –  entspannt motorradfahren

 

aus bma 3/09 von Klaus Herder

BMW F 650 GS Modell 2009Ein schlauer Mensch hat irgendwann einmal eine Erkenntnis in Worte gefasst, die ebenso erschreckend wie wahr ist: „Ein Großteil des Unglücks auf der Welt passiert, weil Menschen es gut meinen.” Irak-Krieg, Afghanistan-Einsatz, Banken-Rettungsplan, Waldorfschule, Xavier Naidoo – immer haben es Menschen eigentlich gut gemeint. Der besonders gut meinende Mensch ist mir als bekennendem Misanthropen natürlich besonders verhasst. Sie wissen schon: Dieser Typ, der für alles und jedes immer und überall Verständnis hat. Der ganz schnell ganz doll betroffen ist und zu Lichterketten, Trauerarbeit und Doppelnamen neigt. Der sich nie wirklich aufregt, der nie aus der Rolle fällt und der niemals die weibliche Anredeform vergisst. Kurz gesagt: Der gemeine Gutmensch. Ich kann ihn ums Verrecken nicht ausstehen!

Und was hat das nun mit unserem Lieblingshobby zu tun? Ganz einfach: Im Motorradbereich gibt’s Entsprechendes: Das Gutmotorrad. Eine Maschine, die niemanden verschrecken möchte, die ihren Fahrer nicht überfordert, die leise, kultiviert und sparsam ist; die zwar nichts richtig gut, dafür aber alles ganz befriedigend kann. Ein Motorrad, das für Anfänger, Wiedereinsteiger und Fortgeschrittene gleichermaßen gut geeignet ist, das nicht polarisiert und für das Heizgriffe und ABS lieferbar sind. Ein Motorrad also, bei dem mir bereits beim Prospekt-Durchblättern das Gesicht einschläft und dessen potenziellen Käufern ich empfehlen würde, ihre Kohle besser in einen VW Touran oder doch gleich in eine Bahncard zu stecken.

Das miese Gutmotorrad schlechthin war für mich bis vor ein paar Wochen die BMW F 650 GS. Nicht etwa das altgediente Einzylinder-Schlachtross, sondern die hässliche Billig-Schwester der zweizylindrigen Enduro F 800 GS. Allein schon dieser Name: F 650 GS – das Gerät ist eine 800er, was soll die blödsinnige Untertreibung? Meine Vermutung: Vati mit der R 1200 GS kann sich einreden, dass er Mutti „etwas Kleines” vor die Tür stellt, der Abstand bleibt gewahrt. Und Mutti ist glücklich, weil eine 800er ist ihr „ja eigentlich viel zu groß”. Egal, meine einleitenden Worte lassen womöglich durchklingen, dass mich dieser fiese Mix aus Playmobil-Baukasten und Zündapp-Altteileverwertung nicht die Bohne interessierte. Ein Fahrbericht im bma? Nur über meine Leiche, die (richtig gute) F 800 GS hatten wir schon (Heft 5/2008), und über dieses überflüssige Geschwür werde ich garantiert nicht schreiben. Basta!

BMW F 650 GS Modell 2009Tja, und dann kam alles ganz anders: Es begab sich, dass ich ihn meiner Funktion als Nebenerwerbs-Lohnschreiber für ein paar Spätherbst-Tage auf Mallorca weilen durfte. Dort bespielte ein namhafter Werkzeughersteller seine besten Händler und Außendienstler, und im Rahmen dieser Incentive-Tour (Denglisch für „Belohnungs-Reise”) stand eine ausgedehnte Inselrundfahrt mit Motorrädern auf dem Programm. Die Spielzeuge stellte Mallorquin-Bikes, ein mit BMW verbandelter Reiseveranstalter. Und da standen sie nun: Jede Menge R 1200 GS, ein paar R 1200 R, einige F 800 GS – und zwei F 650 GS. Als nur im Hintergrund wirkender Berichterstatter hielt ich mich bei der freien Motorradwahl vornehm zurück. Und jetzt raten Sie mal, was für mich übrig blieb? Genau! Egal, einem geschenkten Gaul…, wird schon irgendwie gehen…, ist ja nur für einen Tag.

Während die übrige Reisegesellschaft mit gehörigem Respekt die Hochsitze besteigt und beim Rangieren die erste Prüfung im Spitzentanz bestehen muss, bette ich meinen Hintern in sehr zivilen 820 Millimetern Sitzhöhe, die ob des schmalen Sitzbank-Vorderteils und der ebenso knackigen Motorradtaille sogar noch etwas niedriger wirken, und rangiere locker die 215 Kilogramm Kampfgewicht. Kein Grund zur übertriebenen Freude, ist ja schließlich auch ein Frauenmotorrad. Merkwürdig nur, dass meine zu 186 Zentimetern Gesamtkörperlänge passenden Beine und auch meine garantiert nicht zu kurzen Arme ebenfalls auf Anhieb sehr bequem untergebracht sind. Fußrastenposition, Lenkerbreite und -kröpfung – passt alles perfekt. Aus der Fahrerperspektive sieht das Mopped auch gar nicht mehr ganz so fies aus. Sehr übersichtliche Instrumente, verstellbare Handhebel – ein sehr netter Arbeitsplatz. Die Spiegelflächen dürften etwas größer sein, aber das ist wirklich Kleinkram.

Und sehr nett geht es weiter, denn der als 650er verkaufte 800er-Reihenzweizylinder klingt so gar nicht nach Mädchen. Der echte Parallel-Twin (ein Gleichläufer, beide 82-mm-Kolben bewältigen ihren 75,6-mm-Arbeitsweg völlig synchron) tönt aus der komplett aus Edelstahl gefertigten Auspuffanlage kräftig-bassig nach Boxer, denn gezündet wird wechselweise (360 Grad Zündversatz), also exakt so wie beim Flat-Twin (der ja nichts anderes als ein „aufgeklappter” Parallel-Twin ist). Der von Rotax in Österreich gefertigte Motor ist mit dem der F 800 GS weitgehend baugleich. Statt 85 PS bei 7500 U/min leistet der flüssigkeitsgekühlte Motor in der F 650 GS aber nur 71 PS bei 7000 U/min. Geänderte Nockenwellen und zahmere Steuerzeiten machen’s möglich. Ein schmalerer Kühler und der Wegfall des Sekundärluft-Systems sind weitere Unterscheidungsmerkmale, doch der ganze große Antriebs-Rest inklusive Saugrohreinspritzung und Übersetzung des Sechsganggetriebes ist baugleich.

BMW F 650 GS Modell 2009Die 14 PS weniger sind von Beginn an durchaus zu spüren, sorgen aber erstaunlicherweise nicht für einen Was-ist-das-für-eine-müde-Gurke-Effekt. Mit einem maximalen Drehmoment von flotten 75 Nm, das bereits bei sehr zivilen 4500 U/min ansteht, liegt die F 650 GS nämlich noch in Schlagweite zur F 800 GS (83 Nm bei 5750 U/min). Und was noch schöner ist: Die Drehmomentkurve der F 650 GS ist ein einziges Hochplateau, über 70 Nm werden praktisch immer und überall gestemmt. Bereits ab 2000 Touren kann schaltfaul und völlig ruckfrei im hohen Gang gebummelt werden, über 5000 U/min werden selbst für eine ziemlich flotte Gangart kaum gebraucht.

Einen ganz wesentlichen Unterschied zwischen den beiden 800er-Schwestern können aber auch die genauesten Diagramme nicht aufzeigen, doch deutlich spürbar ist es bereits in den ersten Kreisverkehren rund um Palma: Die F 650 GS läuft viel kultivierter. Ihr Motor fällt überhaupt nicht auf, werkelt ohne irgendeine Macke entspannt vor sich hin und gibt dem Fahrer alle Zeit und Muße, sich ganz aufs Fahren zu konzentrieren. Butterweich, mit einer leichten Verzögerung geht der Twin ans Gas. Da wird niemand von urplötzlich einsetzender Leistung erschreckt, da muss niemand den Drehzahlmesser im Auge behalten – und trotzdem geht’s recht zügig vorwärts, dem bulligen Drehmoment sei Dank. Die F 800 GS ist da viel direkter, hängt bissiger am Gas, reagiert sofort auf jede kleine Änderung am Gasgriff. Wer Motorradfahren als aktiven Sport begreift, ist mit der Charakteristik der F 800 GS vermutlich besser bedient. Doch wer Motorradfahren als entspannendes und spielerisch leichtes Gesamterlebnis genießen möchte, fährt besser F 650 GS.

BMW F 650 GS Modell 2009Womit wir beim ersten Schlüsselerlebnis meiner Mallorca-Tour wären. Als Gruppenletzter habe ich bestens vor Augen, wie sich die übrigen Tourteilnehmer langsam aber sicher auf ihre Männermotorräder einschießen. Das artet bei einigen in echte Arbeit aus, die Linienwahl in den unzähligen engen Kurven des Tramuntana-Gebirges ist nicht immer optimal, speziell in Serpentinen haben einige der Jungs mächtig zu kämpfen. Gut, dass jetzt außerhalb der Saison so wenig Gegenverkehr herrscht. Und was mache ich? Landschaft gucken, die Vorfahrenden beobachten und so ganz nebenbei etwas Ehrgeiz entwickeln, die Kurven noch enger zu fahren. Serpentinen im Schritttempo? Ein Kinderspiel, der mögliche Lenkeinschlag ist rekordverdächtig groß. Der erste Gang ist allerdings zu lang übersetzt, da muss ab und an mit der sehr leichtgängigen Kupplung gezaubert werden. Schnelle Bergauf-Wechselkurven? Lockeres Drehmoment-surfen, keinerlei Lastwechselreaktionen, keine echten Durchhänger, bis 5000 U/min kaum spürbare Vibrationen. Kurze Sprints? Etwas im sehr leicht und leise zu schaltenden Getriebe gerührt und ab geht’s. Das vermeintlich simpel gestrickte Fahrwerk bügelt auch grobe Verwerfungen feinfühlig glatt. Die fehlende Verstellmöglichkeiten an der Gabel vermisst niemand, die durchaus straffe Grundabstimmung ist perfekt gelungen, das in Federvorspannung und Zugstufendämpfung verstellbare Federbein passt bestens dazu. Wenn es auf autobahnähnlich ausgebauten Ortsumgehungen mal länger geradeaus geht, nervt die zu lange Übersetzung, und etwas mehr Druck dürfte es dann schon sein, aber für alles, was auf Landstraßen im legalen Bereich geht, taugt die F 650 GS ganz hervorragend.

Wenn dann doch mal Hektik angesagt ist, sprintet die BMW in deutlich unter fünf Sekunden von 0 auf 100 km/h und rennt knapp 190 km/h. Sie ist kein Handlingwunder, aber wer sie mit etwas Einsatz am Lenker doch recht locker in Schräglage gebracht hat, darf sich über ein wunderbar neutrales Fahrverhalten freuen. Bodenwellen, Absätze, Belagwechsel – die bei Bedarf ziemlich schräg durchs Kurvenlabyrinth wuselnde F 650 GS lässt sich einfach durch nichts aus der Ruhe bringen. Ich gebe es eigentlich ungern zu, aber mir macht dieses Teil richtig viel Spaß!
Nur gut, dass mich der erste längere Stop wieder etwas runterbringt. Da habe ich nämlich Zeit, die lange und flache Fuhre etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Im Vergleich zur imposanten F 800 GS fällt die 1850 Euro günstigere F 650 GS dann doch mächtig ab. Niedriges (und damit nahezu wirkungsloses) statt hohem Windschild, konventionelle Tele- statt Upside-down-Gabel, Einfach- statt Doppelscheibenbremse vorn, Stahl- statt Alulenker, 19- statt 21-Zoll-Bereifung vorn und dann diese unglaublich billig und nach 80-Kubik-Leichtkraftrad aussehenden Gussräder anstelle der Drahtspeichenräder – hübsch ist anders. Aber irgendwo muss der für BMW-Verhältnisse moderate Einstiegspreis von 7900 Euro ja auch herkommen. Dass in der Praxis kaum eine F 650 GS für diesen Tarif den Laden verlässt, hat mit der berühmt-berüchtigten BMW-Aufpreispolitik zu tun. Löblich ist es, dass es für die GS bereits ab Werk so ziemlich alles gibt, was woanders erst umständlich als Zubehör drangebastelt werden muss. Allein das GS-Stauraumprogramm hat mehr Positionen als die Gesamtpreisliste manch anderer Hersteller. Wer will, bekommt sogar ein so exotisches Extra wie ein Reifendruck-Kontrollsystem (205 Euro). Ärgerlich wird es allerdings dann, wenn für das abschaltbare ABS heftige 710 Euro aufgerufen werden, ein vernünftiger Bordwerkzeugsatz ebenfalls extra kostet (133 Euro) und der für eine Kettenmaschine empfehlenswerte Hauptständer mit 110 Euro extra zu Buche schlägt. Ohne Aufpreis gibt’s immerhin eine niedrigere Sitzbank (790 mm) und die Leistungsreduzierung auf 34 PS. Mit etwas Schnickschnack kommt eine fabrikneue F 650 GS aber trotzdem ganz schnell in die Nähe der 10000-Euro-Schmerzgrenze.

BMW F 650 GS Modell 2009Ohne ABS wird zumindest in Deutschland kaum eine F 650 GS die heiligen Händlerhallen verlassen. Und das ist auch ganz gut so, denn das relativ simple, ohne Integral-Schnickschnack auskommende System funktioniert hervorragend, das Pulsieren am Handhebel ist angenehm schwach. Damit der Blockierverhinderer seine Arbeit aber überhaupt aufnimmt, muss schon sehr, sehr kräftig am Handhebel gezogen werden. Etwas höhere Bedienkräfte sind zwar prinzipiell anfängerfreundlich (geringere Gefahr des Überbremsens), aber wenn ein ABS an Bord ist, zählt dieses Argument eigentlich nicht mehr. Wenn dann der Doppelkolben-Schwimmsattel doch noch zupackt, taucht die Gabel sehr tief ein und verwindet sich im Extremfall spürbar. Die Sache funktioniert zwar, aber für Modellpflege bleibt hier noch Platz. Wie wär’s zum Beispiel mit einer zweiten Bremsscheibe – natürlich gegen Aufpreis?

An andere Stelle ist die in Rot sowie Silber- und Blaumetallic lieferbare F 650 GS deutlich praxistauglicher. Sehr gutes Licht, gute Soziustauglichkeit und vor allem der geringe Verbrauch machen die Spar-GS zum angenehmen Reisepartner. Man muss sich schon kräftig anstrengen, um den Verbrauch über 4,5 Liter zu treiben. Wer es partout darauf anlegt, erzielt beim gemütlichen Bummeln sogar eine 3 vor dem Komma. Der unter der Sitzbank steckende und rechtsseitig zu befüllende 16-Liter-Tank muss dann nur selten geöffnet werden, was auch ganz gut so ist, denn wer auch nur etwas zu viel Sprit einfüllt, wird beim Aufrichten der Maschine mit einer gehörigen Sauerei bestraft. Egal, das ist Übungssache und passiert einem höchstens zweimal. Die Batterie ist unter der Tankattrappe versteckt, was aber zumindest für das Aufladen nicht störend ist – eine Bordsteckdose gibt es serienmäßig. Die erlaubte Zuladung fällt mit 221 kg üppig aus, die 10000-Kilometer-Wartungsintervalle sind ebenfalls eine feine Sache. Die Verarbeitung schwankt zwischen „richtig gut” und „etwas liebevoller hätte es sein dürfen”, ist unterm Strich aber absolut okay.

Nach einem Tag auf kleinen und kleinsten Straßen der Insel Mallorca stelle ich die F 650 GS abends gut gelaunt wieder ab. Ich kann mich nicht erinnern, in den letzten Jahren so entspannt Motorrad gefahren zu sein. Und das hat nichts mit Vergesslichkeit im Alter zu tun. Während meine Mitreisenden deutlich spüren, was sie physisch und psychisch hinter sich haben, war für mich das Fahren eine einzige Lockerungsübung. Die BMW F 650 GS machte es mir so leicht wie nur irgend möglich. Und sie hat mir an diesem Tag als Leihmotorrad und als fahrbarer Untersatz für eine Sightseeing-Tour hervorragend gefallen. Auf Dauer wäre sie mir zu harmlos, zu lieb, zu gefällig – und im Verhältnis zu teuer. Aber ich bin ja auch nicht Zielgruppe. Die getarnte 800er ist ein richtig gutes Gutmotorrad. Und das nicht nur für Gutmenschen.