aus bma 03/98

von Klaus Herder

Neulich an der Tankstelle: „Die Vespa haben Sie aber toll restauriert. Wie alt ist die denn?” „Der Roller ist nagelneu.” „Ja, ja – das sieht man, daß die Vespa neu gemacht ist. Aber was für ein Baujahr ist die denn?” „Das ist keine Vespa, sondern ein Bajaj. Und das Baujahr ist 1997.” An dieser Stelle des Dialogs gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder fühlt sich der Fragende bös verarscht und verläßt kopfschüttelnd den Ort des Geschehens. Oder aber er möchte einfach alles über dieses meergrüne Unikum wissen, das wie eine Vespa aussieht, aber eigentlich keine ist. Ein paar Hintergrundinformationen können da nicht schaden: Bajaj (sprich „Batjasch”) – korrekterweise Bajaj Auto Ltd. – ist der größte Fahrzeughersteller Indiens, der weltweit zweitgrößte Rollerproduzent und immerhin die Nummer vier oder fünf unter den weltgrößten Zweiradgiganten. Das im südwestindischen Poona ansässige Unternehmen baut mit über 17.000 Beschäftigten Zwei- und Dreiräder von 50 bis 150 ccm. Und davon jährlich rund 800.000Stück. Indien ist der zweitgrößte Motorradmarkt der Welt, Bajaj hält dort einen Marktanteil von rund 50 Prozent. Das bedeutet, daß über sieben Millionen Inder Bajaj fahren.

 

In Deutschland ist der „Inder-Wahnsinn” noch nicht ganz so ausgeprägt. Anfang der achtziger Jahre kümmerte sich schon mal der legendäre Fritz „Ich importiere alles” Röth um das blecherne Schlachtroß (Chetak hieß das Pferd des berühmten indischen Kriegers Maharan Pratap). Der Import-Versuch mündete in einer gerichtlichen Auseinandersetzung mit Vespa. Das italienische Mutterhaus war zwar viele Jahre zuvor Lizenzgeber für Bajaj, doch die Beziehung endete im Streit, und die Inder produzieren seitdem fleißig auf eigene Rechnung weiter. Seit Beginn der neunziger Jahre kümmert sich nun ganz offiziell die „Bajaj Motorfahrzeuge Vertriebsgesellschaft für Europa mbH” um den Import des Millionensellers. Unter gleicher Adresse (Straße am Heizhaus, 10318 Berlin, Telefon 030/5099413) werden übrigens auch Horex-, Jawa- und MZ-B-Kunden versorgt.
Der Bajaj Chetak war vermutlich noch nie so wertvoll wie heute, denn die Flut von plastikverschalten und unheimlich bedienungsfreundlichen Automatikscootern verursacht bei immer mehr Roller-Interessenten eine Gegenreaktion. „Back to the Blech” lautet das Motto der Plastik-Gegner, und da kommt so ein handgeschaltetes Urgestein im 60er Jahre-Outfit der Vespa Sprint gerade richtig.
Doch nicht nur die selbsttragende Verschalung des 3150 Mark billigen Oldies ist pure Roller-Steinzeit, die unterm Blech versteckte Technik ist es glücklicherweise auch. E-Starter, Startautomatik, Wasserkühlung, Getrenntschmierung – das ist alles nur Schnickschnack für Warmduscher. Puristen brauchen nur den klassischen, gebläsegekühlten Zweitakt-Einzylindermotor, einen Kickstarter, einen Choke und sonst gar nichts. Wesentliche Modellpflegemaßnahmen beschränkten sich praktisch auf die Einführung einer elektronischen Zündung. Das Benzin-/Ölgemisch im Verhältnis 1:50 wird natürlich immer noch selbst gemixt, denn was nicht da ist (Ölpumpe) kann schließlich auch nicht kaputtgehen.
Um aus knapp 90 km/h Höchstgeschwindigkeit zum Stillstand zu kommen, bedarf es keiner Scheibenbremsen. Zwei Trommelbremsen schaffen das – zumindest theoretisch – auch.
Der Umgang mit den Bajaj Chetak gestaltet sich erstaunlich angenehm. Vorausgesetzt man hat ein Herz für Oldies und geht die Geschichte entsprechend positiv gestimmt an: Benzinhahn umlegen, Choke ziehen – der Inder springt fast immer auf den ersten Tritt an. Der Kickstarter ist leichtgängig und sehr großzügig dimensioniert, steht auf der rechten Seite aber so weit ab, daß er sich beim Rangieren zuverlässig in die Wade des Fahrers bohrt.
Hatte der Chetak-Käufer in den letzten Jahren noch die Wahl zwischen den Modellen „Standard” mit Sitzbank und „Classic” mit Schwingsattel und Soziusbrötchen, gibt’s ab diesem Jahr nur noch den viel schöneren Oldie mit Einzelsitzen. So wunderbar bequem der Fahrer auf dem Schwingsattel untergebracht ist, so hart im Nehmen muß der Sozius sein. Das kleine Kissen gibt die über die schwächliche Hinterradfederung durchkommenden Schläge gnadenlos weiter. Zu allem Überfluß sitzt der Sozius auch noch etwas tiefer als der Fahrer und muß sich somit „blind” seinem Schicksal ergeben. Der Chetak-Reiter ist aber, wie gesagt, sehr kommod untergebracht, Fußraum gibt’s genug und auch das riesige Staufach am Beinschild engt die Bewegungsfreiheit nicht unnötig ein.
Die Kupplung verlangt nach kräftigem Zupacken, dafür rasten die vier Gänge der Drehgriffschaltung sauber ein. Der drehschiebergesteuerte Zweitakter schiebt den vollgetankt 108 Kilo schweren Roller erstaunlich flott voran. Das Innerorts-Limit von 50 km/h ist immerhin bereits nach fünf Sekunden erreicht. Der 125er leistet 6,8 PS, beim 150er sind es gerade mal 0,8 PS mehr – in der Praxis ist der Unterschied kaum zu spüren. Ganz im Gegenteil: Der schwächere Chetak ist sogar etwas agiler und drehfreudiger als sein großer Bruder. Egal, wieviel Hubraum der Chetak hat, der Motor läuft in jedem Fall kernig und auch entsprechend laut. Nervig werden die Vibrationen und das Dröhnen allerdingskaum – vorausgesetzt, man hat das bereits erwähnte Herz für Zweitakt-Oldies.
Der Geradeauslauf des Chetak ist mäßig, das Kurvenverhalten gleicht meistens einem Eiertanz. Schuld daran ist der verschärft rechtslastig untergebrachte Motor. Echte Profis empfinden eine solche Konstellation als Herausforderung und passen ihren Fahrstil halt entsprechend an. Merke: Eine Plastik-Toilette fahren kann jeder, Blechroller sind nur etwas für Spezialisten.
Nach einer überaus vorausschauenden Fahrweise verlangen auch die beiden Trommelbremsen. Der vordere Stopper hat außer seiner Anwesenheit praktisch nichts zu bieten, um das hintere Zehn-Zoll-Gummi pfeifen zu lassen, muß ziemlich brutal aufs Pedal gelatscht werden.
Die Verarbeitung, speziell die Lackierung und die Bearbeitung von Blechkanten, ist indisch-lässig, mit etwas Nacharbeit und bei guter Pflege aber akzeptabel. Wirklich störend sind allerdings die hakeligen Schlösser. Das Licht und die Ausstattung mit Reserverad, zwei Stauräumen (der zweite steckt in der linken Pobacke), zwei ordentlichen Rückspiegeln und tauglichem Bordwerkzeug ist dagegen erstaunlich gut. Der Kaufpreis fällt konkurrenzlos günstig aus, der Verbrauch geht mit knapp vier Litern Gemisch noch gerade so in Ordnung. Die 7,7 Liter Tankinhalt reichen für rund 200 Kilometer am Stück, bis es dann beim nächsten Tankstopp wieder die üblichen Fragen und Gespräche gibt.
Der Bajaj Chetak ist eine der wenigen Chancen, einen fabrikneuen und durchaus alltagstauglichen Oldtimer kaufen zu können. Show- und Spaßwert sind entsprechend hoch.