aus bma 02/03

von Klaus Herder

Aprilia TuonoDa behaupte noch jemand, es komme nicht auf die Zentimeter an. Kommt es doch! 17 Zentimeter mehr sorgen für eine gehörige Portion Extra-Spaß und sind nebenbei auch noch sehr konditionsschonend. Der Beweis: Aprilias V2-Supersportler RSV mille und ihre unverkleidete Schwester Tuono Fighter und deren unterschiedliche Lenkerpositionen. Wo bei der RSV mille zwei Stummel fürs eher unbequeme Tiefflieger-Ambiente sorgen, thront bei der Tuono (italienisch für „Donner”) eine auf hübsch gemachten Risern montierte Alustange und sorgt dafür, dass die Lenkergriffe die besagten Zentimeter höher liegen. Die Technik beider Maschinen ist ansonsten weitgehend gleich, ihre Charaktere sind aber grundverschieden. Die RSV mille wurde für den Kampf der Gebückten gemacht. Die Tuono hat als einziges Ziel den lässigen Fahrspaß – was nicht ausschließt, dass der Tuono-Fahrer auf der Landstraße gegenüber dem Mille-Kämpfer in aller Lässigkeit vollstrecken kann.
Aprilia TuonoDie Tuono ist die logische Ergänzung der Aprilia-Modellpalette rund um den vom österreichischen Zulieferer Rotax stammenden und 1000 ccm großen V-Zweizylinder. Neben der RSV Mille gab es bislang einen Tourensportler (Falco), einen Sporttourer (Futura) und eine Reise-Enduro (Caponord). Während von der Mille in den letzten drei Jahren allein in Europa über 20.000 Stück verkauft werden konnten, tat sich Aprilia mit den etwas überstylten Modellen Futura und Caponord deutlich schwerer. Den Part des Landstraßenräubers sollte bislang die halbverkleidete Falco spielen, doch viele potenzielle Interessenten griffen dann wohl doch lieber gleich zur Mille oder – was natürlich viel schlimmer war – zur VTR von Honda.
Mit der von den Italienern als „Streetfighter auf RSV mille-Basis” angebotenen Tuono soll’s nun endlich eine zweiten echten Bestseller bei den großen Aprilias geben. Die Tuono-Markteinführung erfolgte in zwei Schritten: Im Frühjahr 2002 gab’s für heftige 17.999 Euro die auf weltweit 200 Stück limitierte RSV mille R Tuono, von der 35 Stück nach Deutschland kamen. Bei ihr bestanden außer dem Tank sämtliche Verkleidungsteile und Abdeckungen aus Carbon oder einem Carbon/Kevlar-Mix. Ultraleichte OZ-Schmiederäder und das inklusive Bremsen komplett von der RSV mille stammende Fahrwerk gehörten ebenfalls zum Lieferprogramm. Das exklusive Mille-Derivat schlug passend zum Namen wie ein Blitz ein. Die Tester überschlugen sich in Lobeshymnen über das agile Fahrverhalten und den kernigen Motor.

Es war also nur eine Frage der Zeit, wann eine unlimitierte Serien-Tuono präsentiert werden würde. Im September 2002 auf der Münchener INTERMOT war’s dann soweit: Die 6000 Euro günstigere Volks-Tuono feierte Premiere. Handelsüblicher Kunststoff statt Kohlefaser, Großserien-Guss- statt Kleinserien-Schmiederäder, güldene Brembo-Vierkolbensättel mit je zwei anstelle von vier einzelnen Belägen sowie Showa-Gabel plus Sachs-Boge-Federbein statt Edel-Federelementen von Öhlins – das macht den Unterschied.

Bei der Tuono neudeutsch von einem Naked Bike zu sprechen, fällt etwas schwer. Außer der nasen- förmigen Lampenverkleidung trägt die vollgetankt 215 Kilogramm leichte 1000er zwar keine weitere Verpackung, doch Kühler, Ausgleichsbehälter, Öltank, diverse Schläuche und der Bugspoiler versperren trotzdem den Blick auf den flüssigkeitsgekühlten und 126 PS starken 60- Grad-V2-Motor. Das sieht alles ziemlich zerklüftet aus und hat nichts vom eleganten Italo-Design, mit dem zum Beispiel Ducati oder auch MV Agusta auftrumpfen können. Die Tuono wirkt eher mächtig böse, fast schon wie ein Vertreter der Streetfighter-Frühzeit, als verunfallte Supersportler von ihrer zerbröselten Vollverkleidung befreit wurden und das pragmatische Wirrwarr fernöstlicher Großserientechnik zum Vorschein kam. Aber das muss wohl so sein, wenn man im gut sortierten Kreis der hubraumstarken Serien-Nackedeis für etwas Aufsehen sorgen will.
Tuono CockpitDie Sitzposition in luftigen 820 Millimetern Höhe ist dafür angenehm unspektakulär. Der breite Alulenker liegt perfekt zur Hand, der Knieschluss am relativ schmalen 18-Liter-Tank passt für Menschen bis 1,90 Meter Länge perfekt, und der Fahrersitz ist anständig gepolstert. Der Kniewinkel fällt je nach Statur eng bis sehr eng aus, was aber nicht weiter stört. Ganz im Gegenteil: die Kombination „oben Tourer/ unten Supersportler” hat ihren eigenen Reiz und sorgt für eine entspannte und dabei doch immer noch vorderradorientierte und angriffslustige Sitzposition – streetfightermäßig eben. Der Soziusplatz ist übrigens auch so, wie es sich für einen echten Straßenkämpfer gehört: eigentlich nicht vorhanden.
Der Spieltrieb ging den Italienern an der linken Lenkerarmatur durch. Warum Blinkschalter und Huptaste ihre Plätze tauschen mussten und damit deutlich bedienungsunfreundlicher wurden, wissen wahrscheinlich nur die Aprilia-Designer. An den Technikern kann’s jedenfalls nicht gelegen haben. Der analoge Drehzahlmesser (inklusive Schaltblitz) und der digital anzeigende Tacho sowie das Display des Bordcomputers liegen etwas tief und damit nicht ganz optimal im Blickfeld. Die Bedienungsknöpfe der Multifunktionsanzeige sind zudem viel zu klein und mit Handschuhen kaum zu betätigen. Die Rück- spiegel erledigen ihren Job dafür tadellos, und der eine Abblend- sowie die zwei Fernscheinwerfer machen die Nacht zum Tag.
Aprilia TuonoDer Kaltstart ist keine herausragende Tuono-Stärke. Der Twin lässt sich etwas bitten, das Management der Einspitzanlage sorgt dafür, dass der Zweizylinder anfangs in ungesund klingende Drehzahlbereiche hochjubelt. Die hydraulisch betätigte Kupplung geht eher stramm, lässt sich dafür aber prima dosieren. Wenn auf dem Display die ersten Kühlmittel-Temperaturangaben auftauchen, kann’s langsam losgehen. Langsam? Eher nicht, der mit je zwei Nockenwellen und vier Ventilen pro Zylinder bestückte Twin hasst Drehzahlen unter 3000 U/min. Niedertouriges Fahren im Stadtverkehr wird mit der Tuono zur Qual. Es ruckelt und hackt erbärmlich, und die Kette verteilt munter Schläge. Die Fans einer drehzahlreduzierten Kraft-aus-dem-Keller-Fahrweise sollten tunlichst die Finger von der Tuono lassen. Bis auf eine geänderte Ansaugluftführunng und eine leicht veränderte Kennlinie der Einspritzung stammt der Motor unverändert aus der RSV mille. Und damit gilt auch für die Tuono-Twin: Man liebt oder hasst den kernigen Gesellen – dazwischen gibt es nichts.
Die große Liebe erwacht wahrscheinlich dann, wenn die rechte Hand kräftig an der Kordel ziehen darf und der mit einer eher geringen Schwungmasse bestückte Motor sehr, sehr munter in Wallung kommt. Besonders in den beiden ersten Gängen ist Obacht angesagt, denn selbst Wheelie-Anfängern wird es fast zu leicht gemacht, ohne großartige Kupplungs-Zauberei auf nur einem Rad unterwegs zu sein. Etwas unterhalb der 6000er-Marke gönnt sich der trotz zweier Ausgleichswellen relativ rauh und mechanisch laut laufende Twin eine kurze Kunstpause, doch darüber ist nur noch genussvolles Ausdrehen angesagt.
Die Gasannahme ist hervorragend, der Zweizylinder reagiert sofort auf jeden noch so kleinen Befehl der Gashand. Bei knapp 10.000 Touren macht der Einsatz des Drehzahlbegrenzers klar, dass mal wieder im knackig und auf kurzen Wegen zu schaltenden Sechsganggetriebe gerührt werden sollte. Ein Durchzugswunder ist die Tuono nicht, eine Triumph Speed Triple fährt ihr auf der Geraden davon – die Betonung liegt bei „auf der Geraden”. Wer bei der Tuono auch noch den letzten Gang ausreizt, ist mit knapp 250 km/h unterwegs. Brauchbaren Windschutz gibt’s bis etwa 160 Sachen, die kleine Cockpitverkleidung erledigt ihren Job erstaunlich gut.
Während bei der Beurteilung des Motors durchaus zwei völlig unterschiedliche Meinungen zulässig sind, kann es fürs Fahrwerk nur ein Urteil geben: oberaffengeil. Die Leichtigkeit und Präzision, mit der sich die Tuono einschwenken lässt, sind einfach genial. So zielgenau und berechenbar fährt vermutlich keine andere Serien-Nackte ums Eck. Plötzliche Fahrbahnverwerfungen, eine überraschend zumachende Linie, superschnelle Schwenks und von Längsrillen zerfurchte Geradeauspassagen – alles kein Problem, das grandiose Handling und die enorme Spurtreue machen den eigentlichen Reiz der Tuono aus. Da schlägt und bockt nichts, der serienmäßige Lenkungsdämpfer sorgt für Vertrauen. Der Aprilia-Streetfighter fährt sich so leicht wie eine sehr gute 600er und bietet dabei den Bumms einer kernigen 1000er. Und bei alledem sitzt der Fahrer so lässig auf dem Bock und kann die Gebückten dermaßen locker und sicher abledern, dass es die reine Freude ist. Der fette 190er auf der Hinterhand versaut auch in kritischen Situationen nicht die Linie, die Metzeler Sportec M-1 kleben brutal, und die voll einstellbaren Federelemente arbeiten bestens und lassen den Wunsch nach Nachrüstteilen noch nicht mal ansatzweise aufkommen. Der vordere Brembo-Stopper lässt sich fein dosieren, bringt auf Wunsch beste Verzögerungswerte und ist deutlich alltagstauglicher, als die eigentlich aufwändigere, aber wesentlich giftigere Bremse der RSV mille.
Die sehr gut verarbeitete Aprilia Tuono Fighter kostet inklusive Nebenkosten 11.999 Euro. Damit ist sie 600 Euro günstiger als die RSV mille. Wer nicht gerade regelmäßig auf Renntrainings herumgeigt und/oder das Supersportler-Image fürs Ego braucht, bekommt mit der Tuono das fahraktivere und deutlich mehr Spaß bereitende Motorrad. Und das liegt unter anderem an 17 Zentimetern.