aus bma 10/06

von Klaus Herder

Aprilia Tuono 1000 R (Mod. 2006)Das schafft nicht jeder: Bereits im zweiten Satz einer Presse-Info ziemlichen Blödsinn zu verzapfen. „The Worlds only Production Street Fighter” ist im Pressetext zur Aprilia Tuono 1000 R zu lesen. Frage an die Aprilia-Verantwortlichen: Wofür steht wohl das SF in der Typenbezeichnung der MZ 1000 SF? Richtig: Streetfighter. Okay, kann passieren, so ein Sachsen-Streetfighter steht ja(leider) auch nicht an jeder Ecke. Erst recht nicht in Noale/Italien. Einen haben wir noch: „The Wheelbase is shorter too (…) 1410 mm – another Record for the Category”. Schade, das war wohl auch nichts, denn der Radstand einer jeden Buell ist wesentlich kürzer, misst nämlich deutlich unter 1400 mm. Aber vielleicht gehören Buells ja auch gar nicht in die Kategorie der unverkleideten V-Twins? Wie auch immer, so dilettantisch das schriftliche Aprilia-Material auch zusammengestückelt wurde, so professionell geriet die Zweitausgabe der Tuono. Das gestrippte Superbike ist hervorragend verarbeitet, funktioniert prächtig und ist mit 11398 Euro inklusive Nebenkosten durchaus fair kalkuliert – soviel sei schon vorab verraten. Die Italienerin ist in vielen Belangen im besten Sinne „typischjapanisch” geworden. In zwei Bereichen, die italophilen Fans ganz besonders wichtig sein dürften, blieb sie aber glücklicherweise kompromisslositalienisch: Beim Design und im Charakter. Die wild zerklüftete, jetzt mit einer noch böseren Lampenmaske bestückte Tuono (italienisch für „Donner”) versucht erst gar nicht, es jedem recht zu machen. Ihre aggressive Verpackung würden sich japanische Formgestalter bestenfalls für Designstudien trauen, um dann in Serie wieder glatt gelutschten Mainstream zuliefern. Den Tuono-Look liebt oder haßt man, dazwischen gibt es nichts.
Aprilia Tuono 1000 R (Mod. 2006)Die äußeren Unterschiede zur2002/2003er-Erstausgabe sind auf Anhieb auszumachen. Unter der neuen Frontmaske lauert der gierige Schlund des Lufteinlasses, Aprilia spekuliert auf einen Ram-Air-Effekt. Das schlanke, mit integrierten Blinkern und einem LED-Rücklicht bestückte Heck beweist, daß ein italienischer Motorrad-Hintern auch ohne Unterm-Sitz-Auspuff ziemlich sexy aussehen kann. Direkt darunter trifft man auf die ebenfalls neue Bananenschwinge. Technisch ist das bis ins Detail lecker verarbeitete Aluteil ganz sicher keine Notwendigkeit, aber es sieht nun mal rattenscharf aus. Die Alu-Gußräder sind ebenfalls neu. Die Fünfspeichen-Exemplare des Vorgängermodells waren schon schmuck, aber zehn Speichen machen die Sachen eben noch schicker. Und wo man schon mal an den Rädern zugange war, bekam das Hinterrad auch gleich noch ein 190er- anstelle des180er-Gummis verpaßt. Fragt hier irgend jemand nach einer technischen Begründung? Armani, Gucci und Prada sind auch nicht lebensnotwendig!

So neu die ganzen Sachen für die Tuono auch sind, so altbekannt sind sie für Aprilia-Kenner. In bekannter Manier basiert die Nacktdarstellerin nämlich wieder auf der RSV 1000, die früher RSV Mille heißen durfte. Bei eben dieser wurden bereits vor zwei Jahren Motor und Fahrwerk kräftig überarbeitet, die Tuono ist also praktisch eine Nachzüglerin. Der Motor stammt immer noch von Rotax aus Österreich, doch der flüssigkeitsgekühlte 60-Grad-V-Zweizylinder leistet nun 133 statt 125 PS. Mit 102 Nm stemmt die Tuono nun 6 Nm mehr auf die Kurbelwelle. Der aktuelle Motor heißt im Aprilia-Sprachgebrauch „V 60 Magnesium Engine”, was dramatisch nach edlem Leichtbau klingt. In der Praxis sind aber nur die Deckel für die Kupplung und Zylinderköpfe aus dem sündhaft teuren Werkstoff gefertigt. Die Höchstleistung liegt bei 9500 U/min an, das maximale Drehmoment bei 8750 U/min, die Werte entsprechen exakt denen des Vorgängermodells. Man muß kein Maschinenbau-Ingenieur sein, um angesichts der recht geringen Drehzahldifferenz von 750 U/min nicht gerade ein Durchzugswunder mit unbändigem Druck aus dem Drehzahlkeller zu erwarten. Der Tuono-Antrieb ist ein reinrassiger Sportmotor, lockeres Bummeln in den Niederungen des Drehzahlbandes war bislang überhaupt nicht sein Ding. Die alte Tuono war unter 3000U/min praktisch nicht fahrbar, um 6000 Touren nahm sich der 998-Kubik-Twin eine deutlich spürbare Auszeit. Bei der Überarbeitung des Motors ging es also nicht nur um mehr Leistung, sondern auch ummehr Alltagstauglichkeit im normal-wuseligen Straßenverkehr – bei freier Strecke oder gar auf der Rennstrecke benahm sich der Rotax-Motor auch bisher schon mustergültig. 

Aprilia Tuono 1000 R (Mod. 2006)Doch bevor man dem Motor auf den Zahn fühlen kann, heißt es, sich mit dem ebenfalls neu gestalteten Arbeitsplatz zu arrangieren. Der breite, recht flach gepolsterte Fahrersitz liegt nun 15 Millimeter tiefer in gut 80Zentimetern Höhe, der breite Alu-Lenker wanderte ebenfalls etwas nach unten, die Fahrerfußrasten sind dafür etwas weiter hinten montiert. Unter’m Strich ist alles noch etwas sportlicher, aber nicht unbedingt unbequemer geworden. Vorausgesetzt, man hat nicht zu lange Beine, denn die dauerhaft zu falten, war schon auf der alten Tuono eine echte Herausforderung. Mit gutem Knieschluß und sehr vorderradorientiert über den langen Tank gespannt fällt die Orientierung leicht. Das neue Cockpit, eine klar gezeichnete Kombination aus Digital- und Analoganzeige, liegt goldrichtig im Blickfeld, die Rückspiegel machen für Sportlerverhältnisse einen befriedigenden Job, und man darf sich überverstellbare Handhebel und unzählige Spielmöglichkeiten am leicht zu bedienen den Bordcomputer freuen. Der Vauzwo läßt sich nicht lange bitten, um mit fettem, sehr bassigem Bollern die Arbeit aufzunehmen. Es ist nicht weiter überliefert, ob die Aprilia-Ingenieure gezieltes Sound-Engineering betrieben haben, aber das, was aus der komplett aus Edelstahl gefertigten Zwei-in-eins-in-zwei-Auspuffanlage tönt, klingt bereits im Leerlauf sehr amtlich. Die Schüttelei hält sich in Grenzen, zwei Ausgleichswellen sorgen wirksam dafür,  daß nur angenehme Vibrationen durchkommen. Die Kupplung verlangt den beherzten Zugriff einer Sportlerhand, läßt sich dann aber fein dosieren. Die Arbeit im Sechsganggetriebe geht leicht und auf kurzen Wegen vom Fuß, wenn man der Schaltbox deutlich klarmacht, was man will. Die Tuono ist nichts für Zauderer und Menschen mitschlaffem Händedruck. Kuppeln, Schalten, Angasen, Lenken – sie möchte immer klar wissen, was ihr Fahrer von ihr verlangt.  Wer am Gasgriff korrekt und nicht allzu grob-motorisch arbeitet, wird jetzt mit sauberer Gasannahme bereits knapp über 2000 U/min belohnt – das ist ein echter Fortschritt im Vergleich zur alten Tuono. Stadtverkehr und enge Spitzkehren haben damit ihren Schrecken verloren. Das neue Mapping (Konfiguration der Steuerelektronik) und die Überarbeitung der Einspritzanlage taten der Aprilia spürbar gut. Gab’s bislang zwischen 5000 und 6000 Touren einen gewissen Einbruch, zieht der Twin nun herrlich linear durch. Am grundsätzlichen Charakter hat sich aber glücklicherweise nichts geändert: Erst oberhalb der 6000er-Marke geht’s mit dem nackten Supersportler richtig los. Dann aber gewaltig, und wer die Drehzahlmessernadel über 8000 treibt, kommt blitzschnell in den Bereich, in dem sich das ganz große Grinsen im Gesicht breit macht. Das gewaltige Feuer lodert bis 10000 U/min, wer auf sehr kurvigen Landstraßen immer bei der Musik sein möchte, muß aber schon fleißig im Getriebe rühren. Wie gesagt: Ein Durchzugwunder ist die Tuono nicht, ihre relativ lange Endübersetzung macht die Sache nicht einfacher. Doch eben dies macht den speziellen Charakter der Tuono ja gerade aus. Sie möchte gar kein Allerwelts-Nakedbike sein, mit dem jeder Trollo bei fast jeder Drehzahl einigermaßen flott ums Eck toben kann. Die Tuono ist ein reinrassiger Supersportler, dem halt nur ein Großteil der Verkleidung fehlt, und auf dem man deutlich bequemer sitzt (Und der, so ganz nebenbei bemerkt, auch noch schlappe 2100 Euro weniger als eine RSV1000 R kostet…).
Aprilia Tuono 1000 R (Mod. 2006)Die Tuono braucht einen sehr aktiven Fahrer, dem bewußt ist, daß Motorrad fahren durchaus etwas mit Sport zu tun haben kann. So zügig die mit 18 Litern vollgetankt 212 Kilogramm schwere Tuono auch in Wallung kommt (auf Wunsch bis zu 253 km/h schnell, 0 auf 100 in3,4 Sekunden), so fix läßt sie sich auch wieder einfangen. Die radial verschraubten Brembo-Zangen mit ihren Vierkolben-Festsätteln packen hervorragend dosierbar und überaus vehement zu. Die hintere Einzelscheibe hält sich sportlertypisch vornehm zurück, denn das, was an den beiden vorderen 320-Millimeter-Scheiben geleistet wird, langt immerund überall, selbst beim verschärften Renntraining. Für das ist die Aprilia wie gemacht, denn die relativ straffe Grundabstimmung der Showa-Upside-down-Gabel und des Sachs-Zentralfederbeins paßt bestens auf zügig zu umrundendes und möglichst furchenfreies Geläuf. Wenn’s etwas holpriger wird, bieten Gabel und Federbein jede Menge Verstellmöglichkeiten, damit das Alu-Chassis wieder ruhig über die Pistebügel kann. Das Fahrwerk der alten Tuono war schon ein Genuß, das neue kann es noch einen Tick besser (oder ist es nur die etwas veränderte Sitzposition?). Über den breiten Lenker lässt sich die Aprilia zielgenau und locker einschwenken, sie bleibt ohne irgendeine Spur von Nervosität unglaublich stabil auf Kurs, wehrt sich aber auch nicht gegen urplötzliche Richtungswechsel. Um es kurz zumachen: Der bma-Schreiberling kennt momentan keine serienmäßige große Nackte, mit der das Kurvenschwenken mehr Laune macht – vorausgesetzt, das muß man immer wieder deutlich betonen – der Fahrer hat enormen Spaß an dynamischer Arbeit mit Gasgriff und Schalthebel. Für Volksbedenkenträger mit Hang zum Klapphelm ist die Aprilia Tuono aber garantiert nichts. Für diese Klientel verbraucht sie zu viel (nämlich mindestens 6,5, eher 7 Liter Super bei artgerechter Haltung) und ist zu wenig soziustauglich (nämlich gar nicht). Bleibt eigentlich nur zu schreiben, daß der Aprilia-Pressetext dann doch ab und an Recht hat: „The Superbike without a fairing (…) is now more Stunning, more Powerfull and meaner than ever!” Atemberaubender, kräftiger und böser als je zuvor – das trifft die Sache doch ziemlich genau.