aus bma 6/12
Text: Vic Mackey, www.motoemotion.info
Bilder: Aprilia
„Scootertuning is not a crime!”, dieser verheißungsvolle Sticker prangt heute an fast jedem zweiten Motorroller, der eigentlich etwas zu verbergen hätte. Für die Jugend von heute scheinbar kein Widerspruch mehr: Der Schein bestimmt das Sein! Auch wenn es sich dabei eher um eine PrüfbeSCHEINigung, als um einen richtigen FührerSCHEIN handeln dürfte.
Anfang der 90er, in der Zeit meiner Moped-Jugend, fanden Roller nicht statt. Die einzige Vespa pilotierte ein Kerl namens „Nicole“ und auch wenn diese mit einem Hubraumvorteil von 80 zu 50 Kubik den meisten unserer Kräder überlegen war, eine Herbrennung durch dieses „Gefährt“ wäre so ungefähr vergleichbar mit der Entmannung durch ein stumpfes Messer gewesen.
Dass junge Leute heute sich zu Mofazeiten bereits einem Plastikeimer anstelle einer handgemachten Prima 5S oder Kreidler Flori 3-Gang zuwenden, ist wohl dem Wandel der Zeit geschuldet und dem Umstand, dass sich Tuningmaßnahmen mit elektronischen Bauteilen direkt aus der Playstation quasi unsichtbar für das feinliche Überwachungsauge verbauen und verbergen lassen. Es gehört aber wohl ebenso zur Unbedachtheit der Jugend, dass die meisten Jünglinge in der Pubertät ihre vermeindliche Potenz nach Außen tragen und offen zur Schau stellen wollen.
Diesem Naturgesetz unterliegen offensichtlich aber auch jugendlich-frische Piaggio-Ingenieure, denen es nicht genug war, mit dem Gilera GP800 bereits das heißeste Eisen, äh… Plastikgefährt auf dem Markt zu haben. Die ganze Welt sollte auch sehen, dass man mehr drauf und der Hypersport auch im Roller-Segment Einzug gehalten hat. Im Piaggio-Konzern fiel daher die politische Entscheidung, den etwas glanzlosen Namen Gilera durch den motorsportlich-glorreichen Namen Aprilia zu ersetzen. Mit 49 Weltmeistertiteln, allen voran die Superbikekrone durch Max Biaggi auf RSV4, steht die kleine Waffenschmiede aus Noale am oberen Ende der Nahrungskette.
Doch Racing und Roller passten bislang bis auf die Anfangsbuchstaben und einige Mofa-Rennklassen nicht wirklich zusammen. Zu bieder, zu nüchtern und zu sehr auf Zweckmäßigkeit getrimmt, geht den Scootern der Sportsgeist ab, der die Jugend doch meist mit dem Führerschein in den Dreier-BMW zieht. Mit dem SRV850 könnte sich das ändern.
Aprilia schielt damit auf ein Klientel, dass es eigentlich noch gar nicht gibt: Den sportlichen Fahrer mit A-Schein, der auf allzu großen Nutz keinen Wert legt, sich aber dennoch für einen Roller entscheidet.
Bei der Pressevorstellung auf der italienischen Insel Giglio erklärte man mit breiter Brust, dass man auch Umsteiger vom Motorrad avisiert, die den Komfortmerkmalen eines Scooter etwas abgewinnen könnten. Ohne cityshoppingtaugliche Stauräume bleibt hierbei jedoch lediglich die Befreiung vom Kleidungszwang. Während es nämlich auf leistungsstarken Motorrädern mittlerweile verpönt ist, mit Alltagskleidern in den Sattel zu steigen, kann man am Roller noch unbeachtet in Bermudas und Badelatschen am Draht ziehen.
Angesichts von 76 Pferdestärken und Fahrwerten von mehr als Tacho 200, beziehunsgweise 0 auf 100 in 5,7 Sekunden in der Sprintwertung, wäre eigentlich Protektorenwäsche angesagt, doch auf dem Hypersportscooter bleibt man selbst im spießbürgerlichen Alltag von gut gemeinten Zurechtweisungen verschont. Es ist eben „nur ein Roller“, auch wenn das Hochplateau des Drehmomentberges sich ebenfalls mit 76 Newtonmetern über das ganze Drehzahlband erhebt und damit der, aus Aprilias Mana bekannte, V2-Treibsatz über den atypischen Kettenantrieb das 15-zöllige Rollerrad bearbeitet.
Zur Ehrenrettung des Testfahrers sei gesagt, dass es sich beim legeren Südländer-Outfit um ein kevlarverstärktes Beinkleid und eine Kapuzenjacke mit gut versteckten und genormte Protektoren handelte, so dass ich der Fuhre auf kurvenreichen Teststrecken über sattgrüne toskanische Hügel ordentlich auf den Zahn fühlen konnte. Die wichtigste Frage noch vor Fahrtantritt gestellt, quittiert Piaggio-Pressemann Ansgar Schauerte mit einem „Nein“ – trotz aller Leistungsfülle „wheelt“ der SRV nicht davon. Konnte man angesichts eines elendslangen Radstands und einem Kampfgewicht von fast 240 Kilogramm auch nicht wirklich erwarten, doch dass der kleine Pirelli am Hinterrad beim Handgelenks-„Kickdown“ schwarze Striche malen würde, keimte als stille Hoffnung in mir. Und tatsächlich, so das eine oder andere Mal empfand ich so etwas wie Schlupf am Hinterrad, auch wenn die subjektive Beschleunigungsleistung einen Motorradfahrer nicht vom Hocker hauen dürfte. Von Maschinen der 70 PS-Klasse ist man andere Sprints gewohnt – meint man zumindest. Es ist dieser „Variomatic-Effekt“, wie mir der Kollege einer Scooterpostille später versichert, der Kradisten beim Roller-Erstkontakt immer zu dieser fehlerhaften Einschätzung führt. Tatsächlich ist der Aufgalopp der Tachonadel schon beeindruckend, wenn man sich auf die optische und nicht körperliche Wahrnehmung verlässt. Es ist nicht ganz abwegig, dass ein legerer SRV-Aktivist einen unkonzentrierten Motorradfahrer beim Ampelstart in die Schranken weisen könnte. Dass er dabei mit der linken Hand entspannt noch einen Latte to go schlürfen könnte, würde die Demütigung nur noch verstärken.
Und selbst das Handling des Großrollers auf Kurvenstrecken ist keineswegs behäbig, auch wenn man das beim Rangieren noch geglaubt haben mag. Natürlich, rund fünf Zentner lösen sich auch beim Fahren nicht in Luft auf, über das 16-Zöller Vorderrad lässt sich die Fuhre aber ganz behände ins Winkelwerk kippen. 90 Grad Winkel römischer Häuserschluchten sind sicherlich nicht ihr bevorzugtes Einsatzgebiet, doch auf den flüssigen Radien des suburbanen Südlandes lässt es sich zünftig surfen. Schräglagen bis 45 Grad sind drin, aber auch dran, wenn man den Zweikampf mit anderen Zweirädern sucht. Soweit es das Fahrvermögen des SRV-Piloten erlaubt, beschränkt lediglich der Hauptständer die Bodenfreiheit und übernimmt zugleich die Funktion Superbikers Knieschleifer, verziert fröhlich-kratzend rund gefahrene Ecken und demonstriert damit souverän, was auch mit Hypersport-Rollern möglich ist.
Das „Projekt: Hypersport-Scooter“, von dem die Ingenieure immer wieder blumig sprechen, ist dabei nichts anderes, als eine Neuauflage einer Idee, die mit der Präsentation des GP800 im Jahre 2007 eine Gestalt, wenn auch eine zu unscheinbare, annahm. Denn auch wenn dem SRV850 sicherlich entwicklerisches Feintuning zu Gute kam – man spricht von einer Optimierung der Brennräume und einem anderen Fahrwerkssetup – so ist es doch mehr ein Facelift unter neuem Namen, als eine Neuvorstellung, was uns da von Piaggio gereicht wird.
Und auch, wenn das Roller-Menü eigentlich nie wirklich auf meinem Speiseplan stand – ebenso wie die zum Presselunch servierten gegrillten Tentakel – so ist der SRV doch schon eher nach meinem Geschmack. Man muss es nur auf einen Versuch ankommen lassen.
Die Adoption in der Aprilia-Familie steht ihm gut zu Gesicht. Wer die herannahende Superbikefront im Rückspiegel allzu leichtfertig der Produktschwester RSV4R zuschreibt und bereitwillig Platz zum Überholen macht, wird kurz darauf das spitz zulaufende Rücklicht der Dorsoduro am breit ausladenden Rollerheck in das Zentrum der Ehre gerammt bekommen. Und einem Superbiker, der nicht standhaft genug ist im Zuge der unmittelbaren Erwiderung diese Schmach wieder wett zu machen, bleibt nur noch sich aus der nächsten Bremszone in den Abgrund zu stürzen. Es ist nicht auszuschließen, dass so mancher Sportscooter dieser Bauart bei beherzter Gangart für lange Gesichter und Gesprächsstoff am Treff sorgen wird.
Ob es Aprilia gelingen wird, die Käuferschaft von diesen Qualitäten zu überzeugen und sie zum Preis von 10.390 Euro inklusive der Nebenkosten auf den rollertypischen Nutzwert z.B. eines größeren Helmfaches verzichten zu lassen, wird man abwarten müssen. Wenn im Gegensatz zu anderen Rollern eben ein zweiter Zylinder im Maschinenraum platziert wird, muss der Helm für die Sozia eben ins optionale Topcase. Oder man verzichtet auf den vollintegralen Helm zugunsten einer schmückenden, platzsparenden Halbschale. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Dennoch, leistungsmäßig vergleichbare Motorräder kosten einige Euro weniger. Da tröstet es wenig, dass der futuristische Roller auch mit zeitgemäßer Sicherheitselektronik, wie ABS und Traktionskontrolle, im Juni auf den deutschen Markt kommen wird. Letztlich wird es eine Marketingfrage sein, die man stellen muss: Wie bekommt man die Leute dazu, einen solchen Roller zu wollen?
Vielleicht liegt die Antwort ja bereits in der Vergangenheit verborgen. In dem Bemühen, anders sein zu wollen, wie es die sogenannte „Mod“-Bewegung damals in England, aber auch dem kontinentalen Europa wollte. Rollerfahrende Mods rebellierten damals gegen die etablierte Bürgerschaft; der Schein bestimmte das Sein. Wohl gekleidet differenzierte man sich gegenüber anarchistischen Punks und rabiaten Rockern, lebte die Rebellion auf den Straßen, um anschließend im Büro wieder Alltäglichem nachzugehen. Könnten moderne Mods nicht auch heute gegen choppernde Altherrenclubs oder Rennleder-schwitzende Superbiker auferstehen? Vielleicht sollte Piaggio mal über ein Remake des Klassikers „Quadrophenia“ und passendes Produktplacement nachdenken. Auf dem Parkplatz vor dem Kino würde man sicherlich einige Mofa-Roller stehen sehen. Windschief auf gekürzten Seitenständern, neongrellen Unterbodenbeleuchtungen und gut platzierten Aufklebern: „Scootertuning is not a crime!“
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