aus Kradblatt 7/18
von Jogi & Tine, www.penta-media.de

Aprilia Shiver 900 – Luci e ombre …

Aprilia Shiver 900, Modell 2018

Licht und Schatten, das trifft den Eindruck wohl am besten, den die Aprilia Shiver 900 bei uns hinterlassen hat, nachdem wir uns einige Tage ausgiebig mit ihr befassen durften. Einiges an ihr ist den Italienern hervorragend gelungen, anderes ist zumindest gewöhnungsbedürftig.

Die Aprilia Shiver 900 stammt aus dem italienischen Noale, das liegt in der Region Venetien. Die nach dem zweiten Weltkrieg von Alberto Beggio gegründete Marke Aprilia wurde von seinem Sohn Ivano Beggio im Dezember 2004 an den Piaggio Konzern verkauft, zu dem auch die Marken Moto Guzzi, Gilera, Derbi und Vespa gehören.

Die erste Aprilia Shiver wurde 2007 mit einem 750 ccm V2 vorgestellt und war das erste Motorrad, das mit serienmäßigem Ride-by-Wire Gasgriff ausgestattet war. Man zeigte sich fortschrittlich. Neun Jahre später präsentierte Aprilia auf der EICMA in Mailand die würdige Nachfolgerin Shiver 900, wie sie seit 2017 bei den Händlern zu erwerben ist. Wir haben ein 2018er Modell in der ungedrosselten Variante ausprobiert. 

Underseat-Auspuff - Aprilia Shiver 900, Modell 2018 Die Shiver 900 kann für Besitzer eines A2 Führerscheines auf 48 PS gedrosselt werden. Das erfolgt rein elektronisch und wird vom Service für kleines Geld schnell und unproblematisch erledigt. Eine Eintragung vom TÜV in die Fahrzeugpapiere ist zusätzlich erforderlich. So ist die Aprilia auch für Fahrschulen interessant und wird bereits von einigen zur Ausbildung genutzt.

Vor dem Start gilt es wenige Sekunden zu warten, bevor man nach Einschalten der Zündung auf den Anlasser-Schalter drücken darf. Diese Zeit benötigt die Elektronik um alles hochzufahren. Auf dem 4,3 Zoll TFT Display des Tachos erstrahlt ein Shiver 900 Logo und alles was das Mäusekino zu bieten hat blinkt und leuchtet in farbiger Pracht. Erst wenn das Logo erloschen und der eigentliche Tacho sichtbar wird, ist die Aprilia startklar. 

Und dann geht es auch schon los. Mit einem unüberhörbaren Klacken und Schlag ins Getriebe, lege ich in den ersten Gang ein.

Das Sahnestück der Shiver 900 ist ohne jeden Zweifel ihr fulminantes Triebwerk. Bereits im Stand spürt man den voluminösen Hubraubraum unter sich, wenn ihr V2 zu werkeln beginnt. 

Die Motorsteuerung von Marelli, die auch in Aprilia V4 Modellen ihren Dienst verrichtet, erhöht beim Kaltstart geringfügig die Leerlaufdrehzahl, so dass man lediglich die Kupplung gefühlvoll kommen lassen muss, um die Maschine in Bewegung zu versetzen. Drehmoment ist reichlich vorhanden. 

Die bassig wummernde Under-Seat-Auspuffanlage mit zwei Endrohren unterstützt das emotionale Erlebnis von der ersten Minute an. Die Abgase beider Zylinder sammeln sich in einem Vorschalldämpfer, strömen durch den unscheinbar im Rohr verstecken Katalysator und münden in einem großen, unter der Sitzbank befindlichen Endschalldämpfer, der sie dann durch beide Endrohre wohlklingend entlässt. 

Respektvoll, der Leistungsfähigkeit der Maschine bewusst, fahre ich mich warm und steigere behutsam Beschleunigung und Geschwindigkeit. Die Aprilia setzt präzise alle Gasbefehle um und wirkt dabei völlig unangestrengt. Das Drive-by-Wire fühlt sich nicht anders an als Drive-by-Bowdenzug, das muss für Technik-Skeptiker erwähnt werden.

Das 6-Gang Getriebe lässt sich sauber durchschalten. Man merkt deutlich im Fuß, wenn der nächste Gang einrastet. Gänge zu zählen erübrigt sich, denn sie werden auf dem TFT-Display angezeigt. 

Aprilia Shiver 900, Modell 2018 Der Motor entwickelt bereits in den unteren Drehzahlen ein sattes Drehmoment und scheint für alle Lebenslagen Kraft im Überfluss zu haben. Für einen ruckelfreien und angenehmen Rundlauf sollte man in den unteren Gängen mindestens 2.500, in den oberen Gängen 3.000 U/min anstreben. Die Leistung entfaltet sich wunderbar linear. Leistungslöcher oder schwer berechenbare Turbo-Effekte im oberen Drehzahlbereich sind nicht vorhanden. Das macht die Shiver sehr gut beherrschbar. Der Spaß gipfelt in 90 Nm bei 6.500 U/min. Bei 8.750 U/min leistet der Motor stolze 95 PS, was für mehr als 200 km/h ausreichen dürfte. Genau genommen ist das aber völlig egal, denn ein nacktes Motorrad fährt man doch ohnehin am liebsten auf der kurvigen Landstraße. 

Die Sitzposition auf der Aprilia ist aufrecht, leicht mit dem Oberkörper nach vorne gebeugt. Das belastet die Handgelenke kaum und ist recht bequem. Die Beine verstecken sich im Knieschluss in der unteren Einbuchtung der mächtigen Tankverkleidung. Ja, richtig gelesen: Tankverkleidung. Sie ist aus lackiertem Kunststoff und im oberen Bereich deshalb so breit, weil sie dort die Einlässe für die Ansaugluft des Motors beherbergt. Das sieht zwar sehr leistungsbetont und gierig aus, jedoch bringt dieses Design den Nachteil mit sich, dass sich das Potenzial der anatomisch passenden Käufer einer Shiver 900 erheblich reduziert.

Mit einer Sitzhöhe von 810 mm und einer Sitzbank in komfortabler Breite, habe ich mit meinen 182 cm Gesamtlänge zwar die richtige Körpergröße für eine
gute Sitzposition und auch, um mit den Füßen sicher auf den Boden zu kommen, aber die Position der Knie zur vorgesehenen Aussparung der Tankverkleidung ist knapp. Das bemerkte ich, als ich am zweiten Fahrtag die dünne Lederhose gegen eine Textilhose mit auftragenden Knieprotektoren tauschte. Zwangsweise saß ich zum Schalten wie ein breitbeiniger Frosch auf dem Bike, weil meine Knie nicht mehr in die vorgesehene Position passten. Mit abgesenkten Oberschenkel passte es zwar einigermaßen, aber dafür konnte ich in diesem Beinwinkel, bzw. Fußwinkel nicht mehr schalten und bequem war es auch nicht wirklich. Abhilfe könnte im gewissen Rahmen das Versetzen des Schalthebels auf der Mausverzahnung der Schaltwelle schaffen. 

Für Tine war das Problem hingegen nicht zu lösen. Sie hat mit ihren knapp 170 cm einfach zu kurze Beine, um sich auf der Shiver wirklich sicher zu fühlen. Sie musste sich deshalb diesmal ausschließlich der Fotografie widmen. Die Enttäuschung über den entgangenen Fahrspaß auf der Aprilia war ihr anzusehen und ihre Laune entsprechend …

Generell muss die Maschine zum Fahrer passen oder umgekehrt. Wer sich in die Aprilia verliebt, wird bestimmt nach einer Möglichkeit suchen sie noch ein wenig anzupassen, wenn es etwas knapp ist. Trotzdem sollte man die Maschine schweren Herzens vergessen, wenn man nicht wirklich mit den Füßen auf den Boden kommt. Dazu später mehr.   

Brembo für Aprilia Shiver 900, Modell 2018 Fahrfertig mit nur 218 kg Eigengewicht zeigt sich die Aprilia äußerst dynamisch, wenn es ums Eck geht. Das Fahrwerk liegt straff auf der Straße und gibt gute Rückmeldungen. Vorne ist eine 41 mm Kayaba Upside-Down-Gabel mit 130 mm Federweg verbaut, hinten ein Mono-
Federbein von Sachs mit gleichem Federweg. Die Gabel ist in Federvorspannung und Zugstufe individuell einstellbar. Das hintere Federbein, der obere Gitterrohrrahmen und die Ventildeckel der Shiver 900 sind in Signalrot lackiert und bilden einen hübschen Kontrast zu den beiden erhältlichen Hauptlackierungen in wahlweise dunkelgrün- oder silber-metallic. 

Je nach Laune, Ambition und Straßenzustand kann man zwischen drei Fahrprogrammen wählen. Aprilia nennt das Multi-Mapping mit drei Kennfeldern. Nach dem Anlassen befindet man sich immer automatisch im Tour-Modus. Die Gasannahme ist dann moderat und angenehm entspannt. Das Gas lässt sich gut dosieren, genau richtig. Ich bräuchte eigentlich nichts anders. 

Im Sportmodus sind die Reaktionen etwas stärker, aber nicht aggressiv oder gar digital und nervös. Ambitionierte Fahrer programmieren sich zusätzlich den Schaltblitz individuell für ihre Bedürfnisse über das TFT Display. 

Der dritte Modus heißt Rain-Modus und ist, wie der Name schon sagt, für Regenfahrten und schlechte Straßenverhältnisse gedacht. Die Gasannahme wird dann sehr sanft und reagiert deutlich träger. Der Motor hängt sozusagen nicht mehr so direkt am Gas. Überholmanöver bleiben trotzdem problemlos machbar. Nicht, dass ein falsches Bild entsteht, so radikal wurde nicht beschnitten. Es fehlen lediglich 30 % der Leistung. Da bleibt mehr als genug Schmackes übrig. 

Ungewöhnlich erscheint, dass die Fahrmodi mit dem Anlasserknopf alternierend durchgeschaltet werden. Auf den würde kein klar denkender Mensch noch einmal drücken, wenn die Maschine bereits läuft.

Da der Motor sehr drehmomentstark ist, hat Aprilia der Shiver 900 eine dreistufige Traktionskontrolle spendiert. Selbst in der sensibelsten dritten Stufe haben wir sie auf trockener Fahrbahn nicht benötigt. Bei regennasser Fahrbahn gibt sie jedoch zusätzliche Sicherheit. Wer die Urkraft der Shiver erlebt hat, dem erschließt sich auf rutschigem Belag schnell, warum eine Traktionskontrolle sinnvoll ist. 

Bei den Bremsen setzt Aprilia ebenfalls auf Sicherheit und hat nicht gespart. Vorne drücken vier Kolben auf eine 320 mm Scheibe, hinten ist es einer, der auf eine 240 mm Scheibe wirkt. Wer genau hinschaut wird in den Bremssätteln den Hersteller Brembo erkennen, auch wenn der Aprilia-Schriftzug auf den radial verschraubten, güldenen Blöcken prangt. Das 2-Kanal ABS stammt aus dem Hause Continental. 

In der Praxis beißen die Bremsen kräftig zu. Sie sind jedoch nicht so extrem, dass man sich Sorgen machen müsste bei einer Reflexbremsung über den Lenker zu gehen. Besser und ausgewogener geht es kaum. 

Aprilia hat sich sehr viel Mühe gegeben, ein leistungsstarkes und trotzdem möglichst sicheres Motorrad zu bauen. Trotzdem hätte ich mich mehrfach fast hingelegt, da ich mit dem enormen Wendekreis der Maschine nicht gerechnet hatte. Was ist passiert? 

Großer Wendekreis - Aprilia Shiver 900, Modell 2018 Ich wollte aus einer Ausfahrt auf eine einspurige Straße abbiegen und musste in Fahrt feststellen, dass ich die 90 Grad auf ca. 3,50 m Straßenbreite nicht schaffe. Ich bemerkte das, weil der Lenker plötzlich und unerwartet am Anschlag war. Das alleine brachte mich schon fast zu Fall, denn ich hatte mich natürlich schon einlenkend in Schräglage begeben, konnte aber mit dem Lenker am Anschlag nicht mehr entsprechend nachführen. Das Problem verschärfte sich dadurch, dass ich nun auch noch genötigt war mit voll eingeschlagenem Lenker und bereits in Schräglage bis zum Stehen abbremsen zu müssen, um nicht in die Hecke zu fahren – ein Kraftakt. Es ging gerade noch einmal gut. Das zweite Mal geriet ich in ähnliche Schwierigkeiten, als ich auf einer breiten zweispurigen Straße um 180 Grad wenden wollte. Ich konnte es kaum glauben und bewaffnete mich deshalb mit einem Maßband, um den tatsächlichen Wendekreis der Shiver zu erfassen. Bei voll eingeschlagenem Lenker liegt er geschoben bei satten 6,40 m für eine 180 Grad Wende. Da man den Lenker in Fahrt nicht sofort digital an den Anschlag bewegt, sondern langsam einlenkt und zusätzlich etwas Spielraum zum Balancieren benötigt, erweitert sich der fahrbare Wendekreis auf realistische 8,50 m. 

Wer eine Aprilia Shiver 900 fahren möchte, sollte deshalb sicher mit beiden Füßen auf den Boden kommen, denn das Herumfüßeln beim Wenden, engen Abbiegen oder Rangieren bleibt nicht aus. 

Unsere liebgewonnene Honda CRF 250 Rallye ist da als Enduro natürlich eine ganz andere Liga, aber um einen Vergleich zu bekommen, habe ich an den Wendekreis ebenfalls das Maßband angelegt. Er liegt geschoben mit dem Lenker am Anschlag bei 3,20 m. Der ohne große Mühe von mir gefahrene Wendekreis bei nur 4 m. 

Ich bin ein Gewohnheitstier und vermutlich ist es eine Frage der Routine, den Wendekreis der Shiver so einschätzen zu können, dass man nicht in Schwierigkeiten gerät. Da die als Grundfahrübung vorgeschriebene Kreisfahrt für Fahrschulprüflinge im Durchmesser von 9 m durchaus machbar ist, verbuche ich mein Missgeschick unter eigener Blödheit und werde in Zukunft vorher ausprobieren, wie weit sich der Lenker einer vorher noch nicht selbst gefahrenen Maschine einschlagen lässt.  

Sehr erfreulich fanden wir die auf jede Handgröße einstellbaren Hebel für Bremse und Kupplung. Nachrüstung ist überflüssig. Das passt.

Ein Lob verdienen auch die Rückspiegel. Sie sitzen, dank des Wide-Bar Lenkers, so weit außen, dass man wirklich alles sehen kann ohne sich zu verbiegen.

Cockpit - Aprilia Shiver 900, Modell 2018 Das TFT Tacho-Display hat uns ebenfalls begeistert. Es ist bei allen Beleuchtungsverhältnissen hervorragend ablesbar und wechselt den Hintergrund von hell mit dunklen Ziffern am Tage, zu dunklem Hintergrund mit hellen Ziffern in der Nacht, was die Blendwirkung erheblich reduziert. Am linken Lenkerende befindet sich ein Schalter, mit dem das gesamte Menü abgerufen und eingestellt werden kann. Der Tacho speichert Höchst- und Durchschnittsgeschwindigkeit, Kilometerstände und Spritkonsum. Letzterer sollte auch ab und zu mal beachtet werden, denn eine Tankuhr fehlt leider auf dem sonst mehr als vollständigen Bildschirm. Wenn sich nur noch etwa 4 Liter in dem 15 Liter Spritfass befinden, leuchtet eine gelbe Tanksäule auf. Das war’s. Von da ab hat man eine Reserve, die noch ausreicht, um ca. 70 km nach einer solchen suchen zu können. 

Auch in weiß sehr schick: Aprilia Shiver 900, Modell 2018Aprilia gibt den Spritverbrauch mit 4,7 Litern auf 100 km an. Unser Durchschnittsverbrauch lag bei 5,4 Litern; der von unseren Vorgängern noch auf dem Tacho gespeicherte lag sogar bei 6,1 Litern. Da wir für die Fotostrecken viel hin und her gefahren sind, mit häufigem Beschleunigen und Abbremsen, dürfte ein Durchschnittsverbrauch von 5 Litern wohl realistisch sein. Damit wären 250 km bis zum nächsten Tankstopp drin. 

Für Reiselustige gibt es inzwischen zur Shiver 900 passende Koffer und Taschen aus dem C-Bow System von Hepco und Becker. 

Die unverbindliche Preisempfehlung für die kernige Italienerin liegt bei 8.990 Euro zuzüglich 250 Euro Nebenkosten. Mehr Infos und Probefahrten gibt’s beim freundlichen Aprilia Vertragshändler. Die von uns gefahrene Aprilia Shiver 900 wurde von Moto Italia aus Lübeck zur Verfügung gestellt (Tel. 0451-4790755, www.moto-italia.de).