aus bma 1/99

von Jan Reinke

Wer hätte gedacht, daß wir im Herbst ’98 tatsächlich noch die „Mille” leibhaftig zu Gesicht bekommen, geschweige denn mit der Fahrgestell-Nummer ….20 auf trockener Landstraße Eindrücke sammeln können.
Vor dem Fahrtantritt genügt ein kurzer Gang ums Big Bike, um mit gezielten Blicken Öl-, Kühlwasser- undRSV 1000 Mille Bremsflüssigkeitsstände im grünen Bereich zu erkennen. Schlüssel rein, Zündung an – die Einspritzpumpe summt und die Instrumente melden sich leuchtkräftig zu Wort. Der analoge Drehzahlmesserzeiger zeigt kurz die frei wählbare Schaltblitzdrehzahl an. Rechts davon erhält man Informationen über Wassertemperatur, Batteriespannung, Uhrzeit oder das Wohlbefinden der Denso-Einspritzanlage. Linkerhand ebenso ein Digitaldisplay mit riesiger Anzeige von Geschwindigkeit, Kilometerstand, Vmax-Memory und vieles mehr. Der Bordcomputer hat über 20 Funktionen, welche man am besten an langen Winterabenden der Bedienungsanleitung entnimmt.
Jetzt aber endlich los, bevor der Herbst es sich anders überlegt. Der Daumen drückt das entscheidende Knöpfchen und der Zweizylinder nimmt seine Arbeit auf. Zwei Dinge sind bemerkenswert: Erstens, wie akustisch präsent (andere sagen „laut”) eine Maschine mit deutschem Brief und Erstzulassung ’98 sein darf (Grüße nach Milwaukee und nach München) und zweitens ist es erstaunlich, wie zurückhaltend (andere sagen „leise”) sich der Rotax V-Twin mechanisch äußert.

Mille 1999Ersten Gang rein und ab geht die Post. Die Sitzposition ist sportlich, aber nicht zu extrem. Man wird im Stop and Go-Stau nicht von Krämpfen gebeutelt, kann aber im Rennbetrieb ohne Investition in andere Lenkerstummel oder Fußrastenanlagen Schräglagen bis zum Aufsetzen der Ellenbogen praktizieren (wer sich traut!). Gleiches gilt für die Showa-Gabel und das Sachs-Federbein. Die mannigfaltige Einstellbarkeit ermöglicht eine Anpassung an jeden Fahrer. Wen dies überfordert, dem sei der Gang zum Händler empfohlen, er hilft gerne. Der Rest des Fahrwerks bedarf nur kurzer Beschreibung, da die Funktion erwartungsgemäß perfekt ist. Optisch stellt der Alu-Rahmen ebenso ein Highlight dar – Hut ab vor dem Schweißroboter in Noale, der die ellenlangen Nähte in gleichbleibender Präzision zieht.
Mille 1999Obwohl sich beharrlich das Gerücht hält, das italienische Vokabular verfüge nicht über eine Übersetzung des Wortes „Lenkerschlagen”, verpaßten die Ziehväter der „Mille” ihrem Zögling einen serienmäßigen Lenkungsdämpfer, der sich zum Glück auch bei langsamster Fahrt nie negativ bemerkbar macht. Bedingt durch den relativ kurzen Radstand, der durch die kompakte 60°-V-Zylinderanordnung erreicht werden konnte und die 50:50 Gewichtsverteilung auf Vorder- und Hinterrad, ist der Schräglagenwechsel nahezu gedankengesteuert.
Die konstruktionsbedingten Vibrationen des ungewöhnlich engen Zylinderwinkels killten die Rotax-Techniker mit Hilfe eines patentierten Ausgleichswellen-Systems, so daß es im Fahrbetrieb zu keiner nennenswerten Beeinträchtigung kommt. Ansonsten hat das große Herz aus Österreich Druck in allen Lagen. Ein weiteres bemerkenswertes Patent, welches sich nicht nur marketingtechnisch als Buchstabensuppe namens PPC wichtig tut, sondern folgende angenehme Funktion hat: Beim rüden Herunterschalten rutscht per Pneumatik die Kupplung kontrolliert durch, so daß einRSV 1000 Mille Hinterradstempeln verhindert wird. Beim erneuten Gasgeben hilft die Luftunterstützung dann wieder auf der Seite der Guten und agiert als Kupplungskraftservo. Zu kompliziert? Dann einfach vergessen und sich freuen, daß dies einen weiteren Schritt in Richtung streßfreies Fahren bedeutet. Bei zügiger Fahrt durch die unwirtliche Jahreszeit fällt angenehm auf, daß der wochenlange Aufenthalt im Windkanal nicht nur der Schnellfahrerfraktion nützt, sondern auch der Wetterschutz dem Kilometerfresser zu gefallen weiß. Langsam gewinnt nicht nur die Kälte, sondern auch die Dunkelheit Oberhand. In einem Waldstück zünde ich die Doppel-Fernlichter – oha! Ich hoffe, mir begegnen in Zukunft keine RSV-Piloten, die nachts per Lichthupe grüßen.
Es geht gen Heimat, und natürlich muß zu den viel gescholtenen Bremsen noch was gesagt werden. Die Fußbremse nimmt ihnen Job wahrlich nicht allzu ernst, die vordere Doppelscheibenanlage von Brembo ist aber gewiß kein Sicherheitsrisiko, wie man manch erschienenen Test interpretieren könnte. Auch bei hektischer Landstraßenfahrt kann man jederzeit das fett besohlte Hinterrad in luftige Höhen steigen lassen.
Wer Renntrainings oder Rennen mit der Aprilia bestreiten will, hat bei einem Anschaffungspreis von 22.590 Mark zuzüglich Fracht durch die eingesparte Differenz zu vergleichbaren Maschinen noch reichlich Reserven, den Spieltrieb zu befriedigen (andere Bremsklötze, Stahlflex, Carbonteile…). Wer behauptet, dieser Lobgesang sei maßlose Übertreibung, dem sei eine Probefahrt zum Beispiel bei Moto Italia in Lübeck angeraten.