aus bma 09/01

von Klaus Herder

Designer sind auch nur Menschen. Menschen, die ein Privatleben haben, die womöglich sogar ein Hobby betreiben. Origami zum Beispiel. Nein, das ist kein südländisches Pizzagewürz, das ist eine japanische Papierfalttechnik, die hierzulande meist von unausgelasteten Hausfrauen im Rahmen von Volkshochschul-Kursen betrieben wird. Bei Origami geht es unter anderem darum, aus nur einem Blatt Papier ein möglichst echt aussehendes, dreidimensionales Gebilde zu falten. Einen lustigen Frosch zum Beispiel.
Nun ist aber auch durchaus denkbar, dass sich nicht nur deutsche Alleinerziehende, sondern auch itali- enische Alleindesignende dem Origami verschrieben haben. Vielleicht arbeitet einer dieser Kreativen sogar bei Aprilia. Und da der phantasievolle Südländer wahrscheinlich etwas anderes zu tun hat, als ausnahmslos tolle Frösche zu basteln, faltet er als loyaler Aprilia-Mitarbeiter auch mal Motorräder. Vielleicht sogar Sporttourer. Womit wir mal wieder in wenigen Worten erklärt haben, wie es zur Form der Aprilia RST 1000 Futura kommen konnte.
Das Knick-Knack-Runde-Ecken-Design macht die Futura zum absoluten Hin- oder Weggucker. Die Vollverschalung polarisiert, und das ist auch gut so. Eine Italo-VFR wäre nämlich das Letzte gewesen, was die Fraktion der Langstreckenfahrer als Neuheit gebraucht hätte (Nichts gegen die VFR, aber muss tolle japanische Technik so langweilig verpackt sein?).
Vor lauter Begeisterung über die mächtig futuristische Form der Futura vergaßen die Aprilia-Marketingprofis aber anscheinend, sich auf die Spielklasse zu verständigen, in der das Gerät antreten soll. In der Aprilia-Pressemappe findet der aufmerksame Leser jedenfalls drei mögliche Kategorien: Anfangs ist von einem „Sporttourer” die Rede, drei Absätze weiter wird daraus ein „Tourensportler”. Und wer zwei Seiten weiter blättert, erfährt, dass es sich bei der Futura um einen „Tourer” handelt.

Beim Blick unter die schicke Kunststoffschale wird dann aber schon sehr schnell klar, dass der Zusatz „Sport” unbedingt zur Klassifizierung gehört. Der 60-Grad- Zweizylinder V-Motor stammt nämlich aus dem 1000-Kubik-Sportler RSV Mille. Wasserkühlung, vier Ventile pro Zylinder, je zwei obenliegende Nockenwellen, zwei Ausgleichs- wellen, Doppelzündung, Einspritzanlage, ungeregelter Katalysator – das ist zeitgemäßer, aber nicht unbedingt futuristischer Motorenbau aus Österreich. Wie bitte? Richtig gelesen: Den Motor baut Aprilia nicht selbst. Den Twin liefert der Motoren-Grossist Rotax aus der Alpenrepublik.
Nun ist es ja ein ungeschriebenes Gesetz, dass neue Motorradmodelle nie und nimmer den unveränderten Motor einer anderen Maschine implantiert bekommen dürfen. Das verbietet die Ingenieursehre. So auch im Falle Aprilia: Die komplette elektronische Einspritzmimik kommt daher von einem anderen Zulieferer (Sagem statt Nippon Denso) und wurde – wie immer in solchen Fällen – in Sachen Ansprechverhalten im unteren und mittleren Drehzahlbereich optimiert. Eine stärkere und mit größerer Schwungmasse gesegnete Lichtmaschine ist die zweite wichtige Änderung im Vergleich zum Motor der RSV Mille. Eine Spitzenleistung von 113 PS bei 9300 U/min und ein maximales Drehmoment von 96 Nm bei 7300 U/min lauten die Werte für den Futura-Twin. Damit ist man für Zweizylinderverhältnisse ganz weit vorn dabei und kann auch im Feld der Drei- und Vierzylinder ordentlich mitmischen.
Futura-Fahren wird allerdings nicht jeden tourensportlich orientierten Biker uneingeschränkt glücklich machen. Das verhindert schon der Aprilia-Arbeitsplatz. Menschen unter 1,80 Meter Länge haben nämlich echte Probleme, beide Füße satt auf den Boden zu bringen. Die ansonsten mustergültig geformte und gepolsterte Sitzgelegenheit liegt mit 830 Millimetern Sitzhöhe dabei gar nicht mal so ungewöhnlich hoch, doch sie ist recht breit, und alles zusammen macht Kurzbeinigen das Leben schwer. Normalwüchsige (los jetzt – das schreit nach Leserbriefen!) sind dafür perfekt untergebracht: Die halbhoch montierten Lenkerhälften liegen goldrichtig und verlangen nach einer auf Dauer bequemen, leicht vornüber gebeugten Haltung. Die Fußrasten sitzen perfekt, nämlich so, dass der Kniewinkel nicht zu eng ausfällt und trotzdem ein satter Knieschluss ermöglicht wird. Die Handhebel lassen sich vierfach verstellen. Die weit abstehenden Spiegel sehen zwar nach Design-Schnickschnack aus, gewähren aber trotzdem ordentliche Rücksicht.

Einen Choke gibt’s nicht, das Startverhalten ist kalt wie warm tadellos. Der Twin brabbelt recht leise und vibrationsarm mit leicht angehobener Leerlaufdrehzahl vor sich hin. Die Schalldämpfung übernimmt im wesentlich ein gewaltiges, unter dem Motorgehäuse montiertes Edelstahl-Ungetüm. Platz ist dort genug vorhanden, da der Aprilia-Motor über eine Trockensumpfschmierung und somit über einen Extra-Behälter mit Öl versorgt wird und keine voluminöse Ölwanne benötigt. Der Nachschalldämpfer findet unter der Sitzbank Platz und entlässt die Abgase direkt unterm Rücklicht. Das sieht zum einen recht interessant aus und hat zum anderen den handfesten Vorteil, dass links und rechts gleich große Koffer montiert werden können. Die unauffällig in die Heckpartie integrierten Kofferhalter sind bereits serienmäßig, das Koffersystem gibt’s für rund 900 Mark als Zubehör.
Arbeitsplatz gelungen, Gepäckfrage gelöst – wie sieht’s mit dem Fahren aus? Äußerst angenehm, vorausgesetzt, man arrangiert sicht mit einer Eigenart des Aprilia-Motors. Digitales Gasgeben macht auf der Futura nämlich keinen Spaß. Abruptes Gas aufreißen oder schließen wird mit derben Lastwechselreaktionen bestraft. Die Gasannahme ist dabei eigentlich tadellos, doch sollte die Hand dafür mit etwas mehr Gefühl als bei japanischen Vierzylinder-Brennern am Kabel ziehen. Bis 5000 U/min schiebt der Twin dann recht nett voran, darüber brennt bis zum Begrenzer die Luft. Aber bitte: keine Hektik am Gasgriff, immer schön unter Zug halten. Dann klappt’s auch mit echten 240 km/h Vmax. Die Arbeit im Sechsganggetriebe erfordert dagegen kein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen. Saubere Rastung, kurze Wege, gelungene Übersetzung – passt.
Irgendwelche fiesen Vibrationen gibt’s selbst bei zügigster Gangart nicht. Das Ansauggeräusch wird höchstens etwas böser, doch insgesamt kommt die Futura akustisch sehr zivilisiert daher. Fahrdynamisch kann der Aprilia-Pilot dagegen durchaus die Sau raus lassen. Ordentliche Schräglagenfreiheit, klasse haftende Metzeler ME Z4 (120/70 ZR 17 vorn, 180/55 ZR 17 hinten), tolle Zielgenauigkeit und eine ausgeprägte Handlichkeit machen die mit 21 Litern vollgetankt nur 242 Kilogramm schwere Futura zu einem der flinkesten Eisen im Reich der Sporttourer und Tourensportler. Was Kilometerfresser freuen wird: Diese überraschende Fahrdynamik geht nicht zu Lasten der Autobahntauglichkeit. Der Windschutz ist bis über 200 km/h sehr gut, der Geradeauslauf ist jederzeit beruhigend stabil.

Beim Fahrwerk machte Aprilia auch keine Experimente, der Brückenrahmen aus Aluprofilen stammt praktisch von der RSV Mille. Ein etwas längeres Lenkrohr, eine um fünf Millimeter nach vorn versetzte Gabel, etwas andere Motoraufhängungen – mehr Änderungen waren nicht notwendig. Da das Auge aber nun mal mitfährt und bei einem neuen Motorrad auch etwas Neues sehen möchte (und weil die Honda VFR und die Triumph Sprint ST so etwas auch haben…) bekam die Futura eine schmucke Einarmschwinge spendiert. Die sieht toll aus, hat theoretisch auch sogar ein paar Vorteile (u.a. Radausbau), ist bei Fahrwerkskonstrukteuren aber nicht unbedingt der letzte Stand der Technik, von einem Zukunfts-Konzept ganz zu schweigen. Egal, hübsch ist das Ding allemal.
Für Fahrkomfort sorgt eine Kombination japanischer und deutscher Bauteile: Eine Showa-Upside-down-Gabel kümmert sich ums Vorderrad, ein Sachs-Federbein bedient erfolgreich die Hinterhand. Beide Teile lassen sich in Sachen Federbasis und Zugstufendämpfung bequem verstellen und bieten eine komfortable, mit einem Hauch sportlicher Straffheit versehene Grundabstimmung. Die Bremsanlage stammt aus Brembos Gold-Serie. Vorn beißen zwei Vierkolbensättel in 300-Millimeter-Scheiben, hinten bedient ein Doppel- kolbensattel einen 255-Millimeter-Rundling. Wie bei der hydraulisch betätigten Kupplung darf und muss kräftig reingelangt werden, doch dann sind Wirkung und Dosierbarkeit recht ordentlich und auch von Durchschnittfahrern gut zu beherrschen. Von Giftigkeit jedenfalls keine Spur, ungewolltes Überbremsen ist nahezu ausgeschlossen. Ein ABS gibt’s leider noch nicht, in Vorbereitung soll es allerdings sein. Was bei Italienern alles heißen kann.
Im Preis von auch verarbeitungsmäßig angemessenen 23.999 Mark sind dafür ein Hauptständer und ein pfiffiges Cockpit-Display enthalten. Das Mäusekino informiert über Uhrzeit, Wassertemperatur, Tankinhalt und Außentemperatur. Die blaue Instrumentenbeleuchtung lässt sich in drei Stufen dimmen. Etwas wichtiger dürfte aber sein, dass das Fahr- und Abblendlicht mit zum besten gehören, was zur Zeit auf zwei Rädern unterwegs ist. Eine nette Detaillösung ist auch der nach rechts versetzte Tankdeckel. So lässt sich die auf dem Seitenständer stehende Maschine ohne Sauerei randvoll betanken.
Unterm Strich ist die Aprilia RST 1000 Futura ein ziemlich konkurrenzfähiger Sporttourer, der die bei Italienern nicht immer unproblematische Kombination aus eigenwilliger Form und problemloser Funktion prima hinbekommt. Sitzposition und Lastwechselverhalten sind nicht jedermanns Sache. Die Verkleidung ist es erst recht nicht. Aber gleiches gilt schließlich auch für Origami. Und das hat schließlich auch seine Fans.