aus bma 09/05

von Klaus Herder

Aprilia Pegaso 650 Strada 2005 Dieses Motorrad hat eine große Klappe. Unter anderem sorgt diese große Klappe dafür, daß mir dieses Motorrad sehr sympathisch ist. Die Fummelei nach dem Tiefgaragenschlüssel, dem Maut-Ticket (Italien-Reisende wissen, was ich meine) oder der Brieftasche hat endlich ein Ende, denn dieses Motorrad hat ein elektrisch vom Lenker aus zu öffnendes Handschuhfach auf dem Tank, dessen Klappe ganz einfach und ohne Schlüssel auf Knopfdruck öffnet, vorausgesetzt, die Zündung ist an.
Natürlich kauft niemand ein bestimmtes Fahrzeug, nur weil es ein tolles Staufach hat. Aber besagtes Ausstattungsdetail steht schon ganz bewußt am Anfang dieses Fahrberichts, denn es ist ein Mosaiksteinchen, das eine Menge über den Charakter dieses Motorrads verrät. Als großer Freund gepflegter Vorurteile (Italienische Motorräder? Alles klar: Tolles Design, verspielte Technik, aber lausige Verarbeitung, und nur bedingte Alltagstauglichkeit…) hat mich die vierte Auflage der Aprilia Pegaso geläutert. Über jedes noch so kleine Detail scheinen sich die Aprilia-Techniker (und auch -Designer) richtig viele Gedanken gemacht zu haben. Mir ist eigentlich noch nie ein auf Anhieb so überzeugendes italienisches Motorrad untergekommen. Vermutlich standen im Lastenheft nur drei Vorgaben: Maximaler Fahrspaß, maximale Bedienungsfreundlichkeit und maximale Alltagstauglichkeit. Oder zusammengefaßt: Maximaler Wohlfühlfaktor. Genau den bietet der flotte Single auf Anhieb.

Der Zusatz „Strada” verrät, für welchen Untergrund dieses Gerät ausschließlich gebaut ist. Das „Pegaso” im Namen und erst recht das „650” in der Typenbezeichnung wirken da eher irritierend. Die 1990 vorgestellte Pegaso 600 und die 1992 präsentierte Nachfolgerin Pegaso 650 waren Aprilias erste „Big Bikes”. Bis heute brachten die Italiener über 50.000 Pegasos unters Volk, der Single ist damit Aprilias meistverkauftes Motorrad. Das geflügelte Pferd mutierte in seiner Karriere von der reisetauglichen Enduro übers nur sehr bedingt geländetaugliche „Funbike” zum Supermoto-Verschnitt der jüngsten Auflage. In Deutschland stand die Pegaso immer im Schatten der BMW F 650. Beide Maschinen wurden im gleichen Werk montiert und hatten den gleichen Motorenlieferanten (Rotax aus Österreich). Die Aprilia war eigentlich immer das bessere Motorrad, doch wer partout Heizgriffe, ABS, ein dichtes Händlernetz und nicht zuletzt Image haben wollte, griff dann doch lieber zur F 650.

Aprilia Pegaso 650 Strada 2005 Die BMW wird seit 2000 in Berlin-Spandau zusammengesteckt, ihr Motor entsteht aber immer noch bei Bombardier-Rotax in Österreich. Aprilia verabschiedete sich vom Öschi-Motor und verbaut jetzt einen Yamaha-Eintopf. So richtig japanisch ist der auch in der Yamaha XT 660 zum Einsatz kommende Motor aber auch nicht, denn die Konstruktion mag aus Fernost kommen, gebaut wird er allerdings von Minarelli – in Italien. Der Wechsel des Motorenlieferanten wird von Aprilia offiziell mit dem Unvermögen der Österreicher begründet, kurzfristig einen Euro-3-tauglichen Motor anzubieten. Daß aber ein auf Motorenbau spezialisiertes Riesen-Unternehmen wie Rotax nicht in der Lage sein soll, einen Motor auf kommende Schadstoffgrenzwerte zu trimmen, klingt dann aber doch etwas unwahrscheinlich. Die österreichischen Kollegen vom „Reitwagen” vermuten wohl zu Recht, daß da andere Gründe eine Rolle spielten. Stichwort „Gegengeschäft”, denn Aprilia liefert an Yamaha diverse Rollermotoren.
Wie auch immer, die Radikalkur tat der Pegaso mächtig gut, nur leider stimmt die Typenbezeichnung nicht mehr. Pegaso 660 wäre richtiger, denn der flüssigkeitsgekühlte Kurzhuber bietet exakt 660 ccm Hubraum. Das reicht für gesunde 48 PS, die bei 6250 U/min anliegen. Gestartet wird ausschließlich elektrisch. Und das immer und überall auf Anhieb und völlig problemlos, der Einspritztechnik samt Motormanagement sei Dank. Der Pegaso-Arbeitsplatz befindet sich serienmäßig in 780 mm Sitzhöhe. Für Menschen über 1,80 Meter Gesamtlänge ist das recht niedrig, denn die Sitzbank ist nicht übermäßig breit, der guten Knieschluß bietende 16-Liter-Tank ist es auch nicht. Doch die Aprilia-Zubehöronkel haben auch an normalwüchsige Nordeuropäer gedacht und ein 820-Millimeter-Kissen im Angebot (95 Euro). Damit paßt’s perfekt.
Aprilia Pegaso 650 Strada 2005Alle Betrachtungen über korrekte Namensgebung oder Zubehör-Sitzbänke sind sofort vergessen, wenn der Eintopf erstaunlich kernig aus den beiden fetten Edelstahltöpfen bollert. Irgendjemand schiebt einem noch kurz das Messer zwischen die Zähne, und schon geht’s los. Bereits nach den ersten zwei, drei Kurven stellt sich ein sehr angenehmes „Das-passt-wie-angegossen-Gefühl” ein, das man sonst nur von gut eingelaufenen Turnschuhen kennt. Hinter dem nicht zu breiten Lenker hat man sofort grenzenloses Vertrauen zum vollgetankt 191 Kilogramm leichten Straßenfeger. Auf der Pegaso werden selbst ruhige Charaktere zur absoluten Kurvensau, das Spaß-Potential des Singles ist einfach unglaublich. Ich bin wahrlich kein Einzylinder-Fan, aber die Aprilia kann selbst überzeugte Mehrzylinder-Fahrer zum Single bekehren – der Trend geht schließlich zum Zweitmotorrad. Lustvoll ballert der von einer Ausgleichswelle mittelschwer beruhigte Vierventiler durchs Drehzahlband. Zwischen knapp 4000 und 6500 Touren ist mächtig Feuer unterm Dach, bei 7000 U/min und knapp 170 km/h greift der Drehzahlbegrenzer ein. Das goldrichtig übersetzte und leicht zu bedienende Fünfganggetriebe ist wie gemacht für heftige Step-Attacken, mit der sehr leichtgängigen Kupplung kommen auch Klavierspielerhände klar. Im Schiebebetrieb sprotzt und knallt der Eintopf ab und an etwas. Böses Rucken und Zerren an der Kette ist dem Motor aber völlig fremd. Wer es einfach nur rollen läßt, kann sich über ein leichtes Konstantfahrruckeln mokieren. Zumindest theoretisch, in der Praxis wird das Niemand tun, denn mit der Pegaso läßt man es nie nur so rollen. Niemals. Mit diesem Feuerzeug wird permanent vollstreckt. Und daran, daß das so kinderleicht und auch anfängertauglich klappt, hat das perfekt abgestimmte Fahrwerk einen gehörigen Anteil. Der Doppelschleifen-Stahlrohrrahmen mitsamt seinen Anbauteilen ist eine Konstruktion, die der Pegaso eine schier unglaubliche Handlichkeit verleiht und selbst grobe Fahrfehler verzeiht. Die Brembo-Stopper sind wohl das Beste, was zur Zeit in dieser Klasse verbaut wird. Die Berufsnöler werden aber nun bemerken, daß sich die fette 45er-Gabel gar nicht und das von Sachs-Boge stammende Federbein nur in der Federbasis und Zugstufendämpfung verstellen lassen. Der total Aprilia-angefressene Autor dieser Zeilen antwortet Ihnen: Na und! Lieber Leser, wann haben Sie das letzte Mal an Ihrem Fahrwerk herumgedoktort? Eben! Und fragen Sie mal den Fahrer eines Porsche 911, wie viele Einstellmöglichkeiten das Fahrwerk seines Autos ab Werk bietet. Also: Die Aprilia-Federelemente bieten eine goldrichtige Mischung aus einer großen Portion sportlicher Straffheit mit einem ausreichenden Schuß Komfort. Die wunderschönen OZ-Gußräder im RSV 1000 R Factory-Design sind mit 17-Zöllern aus dem Hause Pirelli besohlt. Die vorn 110 und hinten 160 mm breiten Diablo-Pellen sind vermutlich die klebrigsten Gummis, die die Aprilia-Einkäufer auftreiben konnten – einfach genial.
Aprilia Pegaso 650 Strada 2005 Im Elektronik-Fachhandel waren die Einkäufer wohl auch schwer aktiv. Das beschert dem Fahrer ungeahnte Spielmöglichkeiten, PS2- oder Nintendo-erfahrene Piloten sind hier klar im Vorteil. Über einen am linken Lenkerende montierten Joystick kann der Fahrer ein neben dem analog anzeigenden Drehzahlmesser montiertes Mäusekino bedienen. Neben Tacho, Uhr und Tankanzeige bietet der Mini-Computer noch zwei Tripmaster, zwei Timer, diverse Temperatur- und Voltanzeigen, eine Vmax-Anzeige, eine Wegfahrsperre, eine Diagnose-Funktion für die Werkstatt – und das alles fünfsprachig.
Fürs Tagesgeschäft wichtiger dürften der sehr stabile Seitenständer, die ordentlichen Rückspiegel, die robusten Sozius-Haltegriffe, das gut gegen den Hinterradreifen abgedeckte Federbein und die serienmäßigen Spanngurtösen sein. Für die irgendwann anstehende Modellpflege wünschen wir uns verstellbare Handhebel (den verstellbaren Bremshebel gibt’s bereits als Extra für freche 80 Euro) und natürlich ein optionales ABS. Die vermutlich im nächsten Jahr kommende Enduro-Schwester wird wohl damit ausgerüstet werden können. Warum der Blockierverhinderer aber nicht jetzt schon lieferbar ist, bleibt völlig unverständlich. So treibt man den einen oder anderen potentiellen Kunden doch wieder zu BMW. Was ansonsten eigentlich absolut unnötig wäre, denn auch in Sachen Verarbeitung gibt’s über die Pegaso fast nur Gutes zu berichten. Von der etwas lässig getackerten Sitzbank abgesehen bietet die Italienerin hervorragende Qualität. Ich kenne kein anderes (bezahlbares) Serienmotorrad, bei dem zum Beispiel Kabel und Züge so sauber verlegt sind. Schweißnähte, Kunstoffteile-Passungen – alles erste Sahne. Mit 6878 Euro (inkl. NK) kostet die Aprilia Pegaso 650 (660!) Strada nur minimal mehr als eine Yamaha XT 660 X, ist dafür aber viel schöner gemacht, hat die pfiffigeren Detaillösungen und bietet mehr Fahrspaß. Die BMW F 650 ist deutlich teurer und – vom aufpreispflichtigen ABS abgesehen – nicht unbedingt besser. Doch ich befürchte, daß es dann doch wieder so kommen wird, wie immer: Am Ende gewinnt Deutschland.