aus bma 04/08

von Klaus Herder

Wunderbares Essen, tolles Design, feinster Maschinenbau – es gibt viele Dinge, die Italiener echt drauf haben. Und dann gibt es ein paar Dinge, mit denen die Italiener (zumindest jene aus der Motorradbranche) ihre Partner zum Wahnsinn treiben können. Zum Beispiel organisatorische Dinge.
Spätherbst 2007, Präsentation der Aprilia Mana in Turin. Ich habe die Wahl zwischen Ein- und Zweitagesprogramm. Um quälend lange Reden von Marketingschwaflern und das abendliche Komatrinken in der Hotelbar zu vermeiden, entscheide ich mich für die Kurzversion: Mit dem ersten Flieger morgens hin, mit dem letzten abends zurück – das muss reichen für ein Motorrad, das vermutlich sowieso niemand braucht.
Die norditalienische Industriemetropole empfängt mich mit leichtem Nebel, fiesem Nieselregen und erschreckend ungemütlichen Temperaturen. Der Shuttle zum Hotel klappt erstaunlich reibungslos. Das Hotel und damit der Ausgangspunkt der Probefahrten liegt mitten im Zentrum von Turin. Mittendrin! Drumherum jede Menge bitumenverseuchte Kreisverkehre, eine nette Auswahl von nur sehr grob in die Fahrbahndecke eingepassten Straßenbahnschienen, Rush-hour als Dauerzustand und eine fatale Mischung aus Öl-, Diesel- und Benzinflecken, die durch den unablässigen Nieselregen einen ganz besonderen Reiz bekommt. Ahnen Sie, was ich mit „organisatorischen Dingen” meinte? Einen bekloppteren Platz für die Präsentation eines neues Motorrads hätte man nur schwerlich finden können. Doch der Wahnsinn geht weiter: Als Lichtbildner hat Aprilia irgendwelche Hilfsknipser engagiert, die möglicherweise Kühlschränke bei Sonnenschein fotografieren können, mit bewegten Motiven bei nicht ganz so optimalen Bedingungen aber hoffnungslos überfordert sind. Die Kaputten machen die Fahraufnahmen während des Berufsverkehrs in zwei Kreisverkehren. Das Ergebnis: Graue Soße mit null Tempo und null Schräglage. Ich verweigere mich, setzte auf das vorab bei Sonnenschein produzierte Pressematerial (das sind auch die Bilder, die Sie in dieser Geschichte sehen…) und beobachte aus einer Parklücke heraus das unwürdige Treiben. Und ich bin gut gelaunt! Wie bitte? Richtig gelesen. Ich bin sehr gut gelaunt, denn dieses Motorrad, auf dem ich seit einer halben Stunde unterwegs bin, macht auf Anhieb unglaublich Spaß. Bei Regen, Kälte und rutschiger Fahrbahn.

Doch der Reihe nach: Automatik-Motorräder sind eigentlich nichts Neues. Honda probierte es 1979 einigermaßen erfolglos mit der CB 400 T und der „Hondamatic”; sieben Jahre zuvor floppte die ebenfalls mit einer Zweistufen-Automatik bestückte Moto Guzzi V 1000 Convert. Die Automatikeimer der 70er waren zu schwach, zu schwer und vor allem die Antwort auf eine Frage, die eigentlich niemand gestellt hatte. Doch rund 30 Jahre später ist ein Automatikgetriebe nichts Exotisches mehr. In der Pkw-Oberklasse ist die Automatik mittlerweile Standard, im Zweiradbereich gehören hubraumstarke Automatik-Roller mittlerweile auch ganz selbstverständlich dazu. Zudem ist der Motorradfahrer immer älter geworden. Waren es in den 70ern die 20-jährigen Jungspunde, die Motorrad fuhren, ist man heutzutage als Mittvierziger guter Durchschnitt.

Die Aprilia-Verantwortlichen haben sich die Ü-40-Generation als Zielgruppe für die Mana ausgesucht. Der zum Piaggio-Konzern gehörende und mit Rollern groß gewordene Hersteller aus Norditalien analysierte genau, was Motorradfahren reizvoll macht. Als da wären Fahrtwind, Schräglage, Beschleunigung, Spätbremsen, Kuppeln. Kuppeln? Behauptet irgendjemand, er fährt gern Motorrad, weil er so gern kuppelt? Natürlich nicht, vom Wheelie-König einmal abgesehen. Der braucht den linken Handhebel fürs Koordinieren des Hinterradtänzchens, der ganz große Rest der Motorradfahrer braucht ihn nicht wirklich.
Etwas ungewohnt ist die erste Kontaktaufnahme mit der Mana dann allerdings schon. Nicht zuletzt deshalb, weil die Aprilia-Verantwortlichen eine Fahrzeugeinweisung für entbehrlich halten. Kein Problem, ich frage die Kollegen aus der ersten, gerade zum Hotel zurückkehrenden Journalistengruppe und werde über die Feinheiten der Bedienung aufgeklärt. Das fängt beim Starten an: Der Druck aufs Anlasserknöpfchen ist nur dann von Erfolg gekrönt, wenn gleichzeitig der Handbremshebel gezogen wird – Rollerfahrer kennen das. Der flüssigkeitsgekühlte, von Piaggio gebaute 90-Grad-V-Zweizylinder nimmt leicht bassig, aber etwas zu dezent pröttelnd die Arbeit auf. Jetzt bitte nicht am Gas spielen, denn sonst geht es ansatzlos dem Vordermann ins Heck. Also lasse ich den 76 PS starken Twin noch etwas im Leerlauf rödeln und widme mich dem Mäusekino. Das gut im Blickfeld liegende Display verrät nämlich, in welchem Modus es voran gehen soll. Drei Automatik-Modi und eine sequentielle Schaltung stehen zur Verfügung. Über den schwarzen Knopf an der rechten Armatur lässt sich in einer Endlosschleife jederzeit und auch während der Fahrt regeln, ob man im Touring-, Sport- oder Regenprogramm unterwegs sein möchte. Wer im Sport-Modus den Finger länger als drei Sekunden auf dem Programmwahlschalter lässt, landet im sequentiellen Schaltprogramm, bei dem sich die sieben Gänge entweder über Tasten am linken Lenker oder über einen Fußschalthebel wechseln lassen.
Sieben Gänge und Automatik? Zugegeben, das klingt anfangs etwas verwirrend, ist aber eine extrem clevere, für Motorräder perfekt passende Lösung. Die Mana-Automatik ist eigentlich ein stufenloses CVT-Getriebe (Continuously Variable Transmission). Die Sache mit dem Variator und seinen verschiebbaren Kegelscheiben kennen wir von unzähligen Automatikrollern. Und von denen kennen wir auch den „Gummibandeffekt”, dass nämlich die Geschwindigkeit beim Gasgeben zunimmt, sich die Drehzahl aber so gut wie nie verändert, weil die stufenlose Automatik immer im drehmomentstärksten Drehzahlbereich zugange ist. Das funktioniert zwar hervorragend, ist aber auch etwas langweilig und sorgt mit dafür, dass „echte” Motorradfahrer Roller eher traurig finden.
Die Mana-Automatik ist dagegen mit sieben „virtuellen” Schaltstufen ausgestattet. Abhängig von Fahrmodus, Gasstellung, Drehzahl, Tempo und noch ein paar anderen Parametern sorgt ein elektronischer Stellmotor dafür, dass die Kegelscheiben passend verschoben werden. Kurz gesagt: Das Mana-Getriebe ist eigentlich eine stufenlose Automatik, die den Fahrer aber sieben Gänge spüren (und ggf. auch schalten) lässt.

Die ersten Meter im Turiner Verkehrsgewühl gehe ich wohlweislich im Regen-Modus an. Unglaublich sanft geht die vollgetankt immerhin 229 kg schwere Mana ans Gas. Selbst grobmotorische Arbeit am Gasgriff wird in allersensibelste Gasannahme umgesetzt. Die bei Nässe eigentlich völlig untaugliche Erstbereifung (Dunlop Qualifier) verliert einen Großteil ihres Schreckens, hinter dem perfekt gekröpften Lenker kann ich mich bequem aufrecht sitzend voll und ganz auf den Verkehr konzentrieren. Unglaublich, wie stressfrei die Fahrerei auf einmal wird, wenn die Kupplungszauberei entfällt. Nach ein paar Kilometern werde ich etwas mutiger und wechsle in den Touring-Modus: Eine andere Welt! An der Ampel haben vergleichbare, aber konventionell geschaltete Motorräder keine Chance. Ohne Zugkraftunterbrechung stürmt die Mana vehement voran. Das Touring-Programm ist nach Aprilia-Einschätzung der am häufigsten genutzte Bereich. Recht haben sie, denn verbrauchsoptimiert und trotzdem erfreulich flott macht die Automatik in diesem Modus einen tollen Job. Ohne irgendeine Gedenksekunde, völlig verzögerungs- und ruckfrei wechselt die Automatik die Gangstufen. Schneller und unauffälliger kann eine Automatik nicht arbeiten. Wer meint, im Sportmodus noch wesentlich flotter unterwegs sein zu können, muss enttäuscht werden. Die Automatik dreht die „Gänge” zwar höher aus, doch das hohe, auf Dauer eher nervige Drehzahlniveau mag einen subjektiv schneller voran kommen lassen, objektiv sind die Fahrleistungen im Vergleich zum Touring-Modus nur minimal besser.
Aber wo man doch schon mal im Sportmodus unterwegs ist, lässt sich doch auch die sequentielle Schaltung ausprobieren. Nach der Kreisverkehr-Fotografiererei haben die Fotoheinis nämlich ein Einsehen und führen uns etwas außerhalb von Turin in die Berge und auf einigermaßen trockene Landstraßen. Drei Sekunden den rechten Knopf gedrückt, zack – jetzt darf selbst geschaltet werden. Daumen und Zeigefinger erledigen das über Rauf- und Runtertasten an der linken Lenkerarmatur, ersatzweise darf der linke Fuß aber auch am Schalthebel steppen. Wobei „Schalthebel” die Sache nur bedingt trifft, denn eine mechanische Rückmeldung in Form von Schaltwegen und Einrasten gibt es nicht, der Hebel betätigt nur einen elektrischen Kontakt. Doch das hat durchaus seinen Reiz, denn ohne irgendwelche Zugkraftunterbrechung kann munter zwischen den sieben Gangstufen gewechselt werden. Hand- und Fußbetrieb können sich dabei nach Belieben abwechseln, doch irgendwann ertappt man sich dabei, den Handbetrieb zu bevorzugen. Verschalten geht nicht. Wer vergisst, die Gänge zu wechseln, den falschen Gang wählt oder zu hoch dreht, wird von der Automatik narrensicher auf den rechten Weg zurück geführt. Wer schaltfrei an die Kreuzung oder Ampel heranrollt, muss sich ums Anfahren keinen Kopf machen. Die Elektronik sorgt dafür, dass auch im sequentiellen Programm beim Anfahren immer der erste Gang eingelegt ist. Das klingt womöglich nach Bevormundung, doch das ist es in der Praxis überhaupt nicht. Der ganze Automatik- und Elektronikzauber macht einem nur das Fahren so angenehm leicht wie möglich. Der Fahrer kann sich voll und ganz aufs lustvolle Kurvenschwenken konzentrieren und hat trotzdem nicht das Gefühl, einen verkappten Roller zu fahren.

So geht’s also munter um Turin, und ich habe endlich Muße, Fahrwerk und Bremsen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Der Gitterrohrrahmen aus Stahl, die Showa-Upside- down-Gabel, die Aluschwinge mit dem außermittig montierten Monofederbein und die mit radial verschraubten Vierkolbenzangen bestückten Vorderrad-Stopper machen einen sehr ordentlichen Job. Die Grundabstimmung ist eher komfortabel, aber es wäre kein italienisches Motorrad, wenn da nicht auch mehr als nur etwas sportliche Stabilität durchschimmern würde. Nur der 180er-Hinterradreifen ist etwas zuviel des Guten. Das Aufstellmoment beim Bremsen ist unnötig hoch und die Spurtreue nicht immer optimal. Vielleicht hilft es aber auch schon, die eher unglücklich gewählte Erstbereifung gegen ein anderes Fabrikat zu tauschen.
Zurück im Turiner Zentrum bleibt noch etwas Zeit, das Drumherum zu begutachten. Als da wäre das Staufach unter der Tankattrappe. Geöffnet wird es elektrisch über einen Schalter am Lenker. Ein Integralhelm passt rein, beleuchtet ist es ebenfalls, ein Handyhalter und ein 12-Volt-Anschluss machen die Sache komplett. An Batterie und Sicherungen gelangt man auf diesem Weg ebenfalls sehr leicht. Sollte die Batterie schwächeln, der Fahrer aber trotzdem ans Staufach wollen, gibt’s unterm Soziussitz auch einen rein mechanisch funktionierenden Öffnungsmechanismus. Unterm Beifahrerplatz steckt auch der 15-Liter-Tank, der bei normaler Landstraßen-Gangart für gut 300 Kilometer reichen sollte. Das Parken auf abschüssigem Geläuf verliert durch eine aufs Hinterrad wirkende Feststellbremse seinen Schrecken. Der Edelstahl-Auspuff und eine durchweg gute Verarbeitung passen gut zum Preis von 8985 Euro, der nicht gerade ein Discountangebot ist.
Was nicht dazu passt, ist die konventionelle Kette zum Hinterrad (ein Zahnriemen wäre die konsequentere Lösung gewesen), der fehlende Hauptständer und die Tatsache, dass ein ABS vermutlich erst ab Sommer lieferbar sein wird. Das umfangreiche Zubehörprogramm reißt die Sache wieder raus.
Als ich abends todmüde in den Flieger falle, bin ich sehr angenehm überrascht. Dieses Motorrad begeistert vielleicht nicht auf Anhieb durch seine technischen Daten oder sein eher unscheinbares Äußeres. Dieses Motorrad begeistert aber bereits auf der ersten Probefahrt, denn es zeigt, wie einfach Motorradfahren sein kann. Und das sogar bei einer Veranstaltung, die von Italienern organisiert wurde. Ich kann nur jedem raten, sich eine Mana-Probefahrt zu gönnen. In Sachen Bewusstseinserweiterung ist das eigentlich eine Pflichtveranstaltung. Die breite Masse wird Automatik-Motorräder auch weiterhin für überflüssig halten, doch wer die Mana ausprobiert hat, sieht die Sache vermutlich etwas anders.