aus bma 5/12

von Alberto Salvagnini

Richtig Bremsen lernen...Knapp daneben ist auch vorbei. Und es gibt Momente, in denen dieser Spruch positiv klingt. Beispielsweise wenn an einer Kreuzung, der nach links abbiegende PKW-Fahrer ein herannahendes Motorrad übersieht und den Motorradfahrer zu einer brachialen Vollbremsung nötigt. Trotz der Schrecksekunde verzögert der Zweiradfahrer gekonnt sein Gefährt und bleibt kurz vor dem Auto stehen. Eine volle Ladung Adrenalin schießt durch den Körper, das Herz rast. Es ist alles noch gut gegangen. In vielen Fällen leider, und eigentlich viel zu oft, geht es aber schief.

Nach der Statistik ist der PKW nicht nur zu 80% der Hauptunfallgegner des Motorrades, sondern auch in 72% dieser „Be­gegnungen“ der Unfallverursacher (DE­KRA, Sicherheitsreport Motorrad-2010). Besonders häufig kommen die so genannten „Unfälle im Querverkehr“ vor. In dieser Kategorie unterscheidet man zwischen drei Unfall-Konstellationen: 1.) Motorrad fährt auf der Vorfahrtstraße, PKW biegt ein oder überquert diese. 2.) PKW biegt links ab, Motorrad kommt entgegen/von hinten. 3.) PKW wendet, Motorrad kommt ent­gegen/von hinten. Fast alle Unfälle dieser Kategorie ereignen sich innerorts. Die Ursachen sind fast immer gleich: Meistens ist der Motorradfahrer übersehen oder seine Geschwindigkeit falsch eingeschätzt worden. Dabei wäre es so einfach: Eine eiskalt ausgeführte, knackige Vollbremsung wür­de meistens reichen, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Theoretisch.

Hand aufs Herz: Wie viele von uns Motorradfahrern haben je ausprobiert und wissen, welche Kräfte an Mensch und Maschine zerren, wenn eine unsanfte Vollbremsung durchgeführt wird? Wer weiß, wie das eigene Mopped bei einer Verzögerung von sieben, acht oder gar neun m/s2 reagiert? Und: Wie geht das richtige Bremsen überhaupt?

Bremsen ist eine Frage des Gefühls. Nur wer in der Lage ist, feinfühlig mit der Vorder- und Hinterradbremse umzugehen und die physikalischen Hintergründe des Bremsens versteht, hat eine gute Chance das lebensrettende Manöver zu beherrschen. Im Fahrsicherheitszentrum Hansa/ Lüneburg hat die so genannte „Ge­fahren­bremsung“ beim Standard-, Intensiv- und Perfektionstraining eine grundlegende Be­deutung. Zum Herantasten können die Trainingsteilnehmer buchstäblich er-„fahren“ wie unterschiedlich die Verzögerungswirkung der Vorder- und Hinterradbremse ist, wenn ein Rad alleine gebremst wird. Während mit der Vorderradbremse ansehnliche Bremswege erzielbar sind, kann die Hinterradbremse gegen die schiebende Masse des Motorrads we­nig ausrichten. Der Trainer liefert dann gleich die Erklärung dazu: Während einer Bremsung verschiebt sich das Gewicht des Motorrads samt Fahrer in Bremsrichtung. Das Vorderrad wird regelrecht auf die Straße gepresst, die Auflagefläche des Vorderreifens wird größer. Die Folge: Mehr Gummi auf der Straße bedeutet mehr übertragbare Bremskraft. Genau umgekehrt verhält es sich mit der Hinterradbremse: Das Hinterrad wird entlastet, seine Auflagefläche verkleinert sich und damit auch die übertragbare Bremskraft. Dieses Phänomen nennt sich „Dynamische Radlastverlagerung“. Das ist der Hintergrund, wes­wegen das Hinterrad beim Bremsen zum Blockieren oder Abheben neigt. Interessant zu beobachten: Die Wirkung der Hinterradbremse kann sehr unterschiedlich ausfallen, je nach Motorradtyp und Beladungszustand. Und im Intensiv-Training können die Beteiligten freiwillig ausprobieren, wie ein blockiertes Vorder- oder Hinterrad sich anfühlt. Schnell wird allen Teilnehmern klar, dass eine gleichzeitige Dosierung beider Bremsen zwangsläufig zu Überforderung führt und dass die Konzentration auf die Vorderradbremse gelegt, während die Hinterradbremse nur mitgenommen werden muss. Nur „mitnehmen“? Was heißt das? Man sollte den Fuß auf den Bremshebel einfach „drauflegen“. So viel, dass das Hinterrad nicht blockiert, mehr nicht. Damit wird gewährleistet, dass die restlichen 5% des Anpressdrucks am Hinterreifen ebenfalls für Verzögerung sorgen. So viel bleibt un­ge­fähr bei einer harten Vollbremsung übrig, wenn das Hinterrad nicht abhebt. Ca. 95% des Anpressdrucks lasten somit auf dem Vorderreifen.

Früher sagte man: „Vorn dosiert, hinten blockiert“. Man vertraute darauf, dass das blockierte Hinterrad i. d. R. eine ge-wisse Spurtreue hat, um sich dann auf die Vorderradbremse zu konzentrieren. Dazu gebe ich zu bedenken: Wenn die Straße aufgrund der Wasserführung etwas steiler als sonst Richtung außen abfällt (fast alle Passstraßen sind so gebaut), dann ist beim blockierten Hinterrad das Heck ruck, zuck weg und die Konzentration dahin.

Im Training wird der korrekte Ablauf der Bremsung zuerst erarbeitet: die Kupplung sofort ziehen und gleichzeitig schnell den Druckpunkt an der Vorderradbremse erreichen. Die Gabel taucht ein. Mit der Vorderrad­brem­se dosiert weiter bremsen. Und, wie be­schrieben, die Hinterradbremse einfach mit­nehmen. Dann heißt es: bremsen, bremsen, bremsen.

Dabei wird sehr viel Wert auf die korrekte Sitzposition gelegt, weil der Fahrer ebenfalls mit den Auswirkungen der Radlastverschiebung zurecht kommen muss. Ein fester Knieschluss ist ausschlagge-bend, damit das Fahrergewicht beim Bremsen mehr schräg nach unten Richtung Vorderachse und weniger über die Arme Richtung Lenker geschoben wird. Der nach vorne gerichtete Blick, für die Stabilität des Bremsvorgangs extrem wichtig, muss gleichzeitig ebenfalls mühsam aufrecht erhalten werden.

Auch die immer lauernden Gefahren einer Vorderradblockade oder eines Überschlages verlieren etwas von ihrer Bedrohlichkeit, wenn der Trainer Tipps und Tricks für deren Bewältigung liefert.

Und was macht die ABS-Fraktion beim Bremsen? Im Prinzip genau dasselbe wie die Nicht-ABS-Fahrer. ABS ist ein exzellentes Trainingsinstrument, um sich entspannter an die physikalischen Möglichkeiten einer Bremsung heranzutasten. Ein Motorradfahrer müsste eine Gefahrenbremsung einwandfrei ausführen können, um eine bedrohliche Situation zu meistern. Aber wie vermeidet man sie? Wir Motorradfahrer müssen das Verkehrsgeschehen schärfer und kritischer beobachten als andere Verkehrsteilnehmer. Viele Unfälle im Querverkehr lassen sich vermeiden, wenn der Motorradfahrer sich vergewissert, dass der andere Fahrzeugführer ihn gesehen hat, etwa durch Augenkontakt. Geht das nicht? Dann runter vom Gas, bremsbereit sein und evtl. auf die eigene Vorfahrt verzichten. Manchmal ist die Lage noch schwieriger: Wenn ein Motorrad dicht hinter einem großen Fahrzeug fährt, ist es für einen PKW-Fahrer in der Nebenstraße so gut wie unsichtbar. Kommen schlechte Sichtverhältnisse dazu (die A-Säule ist immer da) wie Bäume oder die tief stehende Sonne, dann ist mehr Vorsicht geboten. Ach ja, die Sonne. Es ist wunderschön zu fahren, wenn der eigene Schatten voraus eilt. Aber auch sehr gefährlich. Gerade dann wird z.B. ein entgegenkommender und linksabbiegender PKW-Fahrer extrem geblendet. Mein Tipp: konzentriert, aufmerksam und de­fensiv fahren und für die Anderen mitdenken. Damit es nicht knapp wird.

Einen weiteren Beitrag zum Thema Bremstraining findet ihr <hier>