Eine schlecht einsehbare Kurvenstrecke: Zwischen Kurvenspaß und böser Überraschung liegt oft ein schmaler Grat. Das Bremsen in der Kurve ist kein Bestandteil der Motorrad-Fahrausbildung bzw. -Fahrprüfung – der ADAC gibt Tipps….

 

aus bma 9/12
von Alberto Salvagnini

Eine schlecht einsehbare Kurvenstrecke:
Zwischen Kurvenspaß und böser Überraschung liegt oft ein schmaler Grat…

Bild-FSZ_LuenburgHalbwissen ist bequem. Aus einem Pott von Fakten, persönlichen Meinungen und Erfahrungen wird oft resümiert, was einem in den Kram passt. Ein Hinterfragen am Stammtisch ist nervig oder vielleicht nur peinlich und schon wird Halbwissen zur Regel erhoben. Demokratisch korrekt und persönlich legitim. So kommt es manchmal vor, dass ich, während eines Trainings mit Teilnehmer-Ansichten konfrontiert werde, die, objektiv gesehen, gefährlich sind. Eine davon: „In der Kurve darf man nicht bremsen.“ In so einem Fall frage ich: Was macht man, wenn hinter der Kurve überraschend ein Traktor steht? Oder wenn die Kurve sich zuzieht?

Halbwissen kann gefährlich sein.

Fakt ist: Das Bremsen in der Kurve ist kein Bestandteil der Motorrad-Fahrausbildung bzw. -Fahrprüfung – für mich unverständlich! Wahrscheinlich auch deshalb ist dieses wichtige Manöver ein kontroverses Stammtisch-Thema mit einem sehr hohen Halbwissen-Faktor.

Viele Motorrad-Unfälle mit schweren Personenschäden ereignen sich in einer Kurve, beim Abkommen des Motorrads von der Fahrbahn. Diese Tatsache lässt vermuten, dass solche Unfallfahrer während der Kurvenfahrt ihre Maschine nicht unter Kontrolle hatten bzw. nicht mehr zu steuern wussten. Wohl gemerkt: Wir reden über ein Abkommen von der Straße, nicht über das Ausrutschen wegen eines Ölflecks oder übermäßiger Schräglage.

Ich bin der starken Überzeugung, dass ein sanftes Streicheln der Vorderradbremse in vielen dieser Fälle genügt hätte, um die rettende Linien-bzw. Geschwindigkeitskorrektur möglich zu machen.

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Eine Bremsung in der Kurve ist nicht schwer. Dennoch muss sie geübt werden, um deren souveränen Einsatz auch unter Stressbedingungen gewährleisten zu können. Doch: Wie geht man an die Sache ran? Welche Gefahren lauern dabei? Wie sollte(n) die Bremse(n) sinnvollerweise eingesetzt werden?

Die erste Frage, die sich stellt ist: Welche Bremse sollte man überhaupt nehmen? Die Erfahrung mit einer Gefahrenbremsung geradeaus lehrt uns, dass die Hinterradbremse schlecht dosierbar ist und, als Konsequenz dessen, sehr schnell überbremst werden kann. Ein blockiertes Hinterrad in der Kurve führt fast ausnahmslos zum Sturz. Die Vorderradbremse hingegen ist mit der Hand viel einfacher zu dosieren. Beim Bremsen macht sich die dynamische Radlastverlagerung bemerkbar (auch wenn sie in der Kurve nicht so heftig ausfällt, wie bei einer Verzögerung geradeaus) und bringt Gewicht auf das Vorderrad: Mehr Gewicht bedeutet mehr Anpressdruck und somit mehr übertragbare Bremskraft. Aber was passiert noch, wenn die Vorderradbremse in Schräglage betätigt wird? Viele wissen es: Die Maschine stellt sich auf und steuert die Kurvenaussenseite an, vorausgesetzt die Fuhre fährt im stabilen Bereich. (Zur Erinnerung: Ab einer Geschwindigkeit von ca. 30 km/h fährt ein Motorrad in diesem so genannten stabilen Bereich.)

Der physikalische Hintergrund des sog. Aufstellmoments: In Schräglage wandert die Kontaktfläche des Reifens (auch Latsch genannt) Richtung Kurveninneres. Der Abstand zwischen Latsch und Lenkachse wirkt durch die schiebende Masse des Motorrads samt Fahrer wie ein Hebel, der ein kurveneindrehendes Moment um die Lenkachse erzeugt – das Brems-Lenkmoment. Wir erinnern uns: Das Einlenken in die Kurve erfolgt durch ein Drehen des Lenkers Richtung Kurvenaussenseite. Dreht sich der Lenker wegen des Brems-Lenkmoments Richtung Kurveninnenseite, fährt die Maschine in Richtung Kurvenaussenseite. Äh? Einfacher zu merken: Die Maschine fährt – im stabilen Bereich – dahin wo der Lenker hingeschoben wird. Rechts schieben, rechts fahren; links schieben, links fahren. Im Übrigen: Mit dieser Lenkimpuls-Technik lässt sich die Maschine sowohl geradeaus als auch in der Kurve am effektivsten dirigieren. Damit kann man, auch ohne Einsatz der Bremse(n), eine Linienkorrektur durchführen. Wie heftig das Aufstellmoment ausfällt, hängt in erster Linie von der am Bremshebel ausgeübten Kraft ab. Breite Reifen und zunehmende Schräglage verstärken den Effekt. Und: Jedes Motorrad reagiert an sich bauartbedingt anders.

Der Lenkimpuls bietet sich als Gegenmittel an: Dem Aufstellmoment wird durch Schieben des Lenkers an der Kurveninnenseite entgegengewirkt. Der ausgeübte Druck bestimmt somit die Fahrlinie: Ausgleichen bedeutet Linie behalten; noch mehr Druck lässt den Linienradius enger werden. Ist genug Platz vorhanden, kann der Fahrer das Aufstellmoment aber auch ausnutzen: Er lässt das Motorrad hochkommen und kann bei abnehmender Schräglage logischerweise immer kräftiger bremsen, evtl. bis zum Stillstand.

Die situative Entscheidung bestimmt die Benutzung der Kupplung: Ein kräftiges Abbremsen mit einer Anhalten-wollen-Option verlangt ein sofortiges Auskuppeln; eine leichte Geschwindigkeits-bzw. Kurvenlinien-Anpassung hingegen kann mit einem „Streicheln“ der Vorderradbremse vollzogen werden. Egal, ob das Notmanöver uns geradeaus oder weiter in die Kurve hinein führt, darf die Blickführung nie vergessen werden. Der Blick wird immer präzise und vor allem schnell dahin gerichtet, wo die Maschine hin muss. Werden wir gezwungen, aufgrund eines Hindernisses die angedachte Kurvenlinie zu verändern, dann gilt: Blick vom Hindernis lösen, Lücke suchen und ansteuern.

Mein Plädoyer für die Vorderradbremse soll nicht falsch verstanden werden: Optimal wäre, wie bei einer Geradeausbremsung, immer der Einsatz beider Bremsen. Wer viel Erfahrung mit der Benutzung der Hinterradbremse hat und sie in jeder (Schreck-)Situation feinfühlig dosieren kann, sollte sie auch einsetzen. Wohl dosiert schadet ihre stabilisierende Wirkung auf keinen Fall. In bestimmten Fahrsituationen ist der Einsatz der Hinterradbremse in der Kurve sogar von Vorteil. Und zwar immer dann, wenn die Fuhre sich im instabilen Bereich befindet. Das ist nicht nur beim Wenden vor der Eisdiele oder im Stop-and-go-Verkehr der Fall. Auch eine sehr enge Kehre, insbesondere auf der Kurveninnenseite, muss zwangsläufig so langsam befahren werden, dass hier, um eine stabile Linienkorrektur zu vollziehen, nur die Verwendung der Hinterradbremse in Frage kommt.

Das Bremsen in der Kurve ist keine Hexerei, sondern das effektivste Notmanöver, um einen Abbau der Geschwindigkeit und/oder eine Veränderung der Kurvenlinie zu schaffen. Deshalb: Jeder Motorradfahrer müsste dieses lebensrettende Handwerkszeug beherrschen. Wie so oft gilt auch hier: Übung macht den Meister.

Bei uns im ADAC-Fahrsicherheitszentrum-Lüneburg wird das Thema Bremsen in der Kurve im Rahmen aller Motorrad-Trainings behandelt. Und egal, ob lernen oder vertiefen: Unsere Anlage bietet den unschlagbaren Vorteil, solch ein Manöver unter besten Rahmenbedingungen zu erproben: kein (Gegen-)Verkehr, griffiger Belag und fachkundige Anleitung.

Ist das nicht ein reizvolles Vorhaben vor dem nahen Saison-Ausklang?

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