aus bma 09/07

Text & Fotos: Frank Sachau

Oberitalienische Seen Was gibt es für einen Motorradreisenden Schöneres, als an einer Seepromenade in der Sonne zu sitzen, einen Cappuccino zu schlürfen und den Blick über ewig schneebedeckte Berge schweifen zu lassen? Es locken das Tessin und die oberitalienischen Seen – das Paradies für Kurvenräuber! Locarno 1925: In der neutralen Schweiz treffen sich die europäischen Außenminister zu Verhandlungen, um ein neues Sicherheitsbündnis zu schaffen sowie Deutschlands Last der Versailler Verträge zu mindern. Locarno heute: Verstopfte Straßen, eine vertrackte Streckenführung und südländisches Temperament fordern alle Sinne des Motorradreisenden. Obwohl das Tessin meist deutschsprachig ist, wirkt ein kleiner italienischer Wortschatz manchmal Wunder. „Cento” bedeutet hundert, „Valli” ist die Mehrzahl von Tal – also ist das Centovalli das Tal der hundert Täler.
Motorradfahrer sind bekanntlich keine Erbsenzähler, somit verzichten wir auf einen Beweis. Locarno und das italienische Domodossola werden durch das Centovalli und das Val Vigezzo verbunden. Die schmale Straße, der Fluß Melezza und die kühn trassierte Centovalli-Bahn teilen sich den engen Talboden. Intragna, der Hauptort des Centovalli, besitzt einen von weitem sichtbaren Kirchturm. Er ist mit seinen stolzen 69 Metern der höchste im Tessin.

 

Die Strecke bis zur Grenze bietet Fahrspaß pur. Bei Camedo finden wir Gelegenheit, die aufgestaute Melezza und die Brückenkonstruktionen der Centovalli-Bahn aus dem Jahr 1923 zu bewundern. Herrlicher Mischwald nimmt uns gefangen, die Paßkontrolle besteht aus einem freundlichen Durchwinken und hält unsere zügige Fahrt nicht weiter auf. Ein echter Eye-catcher ist das kleine Örtchen Re mit seinem imposanten Kirchenbau – sieht aus wie der Petersdom, ist aber ein paar Nummern kleiner! Unweit der Kirchenmauer lädt ein Café zur Pause ein. Als kostenlose Draufgabe ertönt zu jeder vollen Stunde ein fantastisches Konzert aus zahlreichen kleinen und großen Glocken. Dieses Spektakel stellt alle Kirchtürme mit ihrem langweiligen Ding-Dong in den Schatten. Einige Kilometer später treffen wir in Malesco auf das Ende des Centovalli, hier beginnt nicht nur das nach Domodossola führende Val Vigezzo, hier zweigt auch eine reizvolle und abwechslungsreiche Strecke nach Cannobio am Lago Maggiore ab.
Oberitalienische Seen Doch bevor wir von den Pässen zu den Palmen abbiegen, statten wir einer unscheinbaren Statue einen Besuch ab. Vor 200 Jahren kauften Schornsteinfegermeister armen Eltern die kleinen Kinder ab, die fortan als Leibeigene in italienischen Städten enge Kamine reinigen mußten. Die umliegenden Täler und die weit verbreitete Armut lieferten viele Generationen junger Kaminfeger. Die Statue ist dem 14-jährigen Faustino Cappino gewidmet, der bei seiner harten und gefährlichen Arbeit ums Leben kam. Mehr zu der Geschichte dieses Sklaventums erfahren wir im Museo dello Spazzacamino in Santa Maria Maggiore. Beruhigt, daß diese Zeiten vorbei sind, setzen wir unsere Tour fort.
Anfangs bietet der Sattel des Piano di Sale Ausblicke auf die umliegenden Gipfel, anschließend fordert die kurvige Waldstrecke unsere Reifenflanken aufs Äußerste. Die stark frequentierte Straße entlang des Sees ist der Laufsteg der PS-Angeber auf zwei und vier Rädern. Wir wechseln über die Staatsgrenze. Auf Höhe der Brissago-Inseln, richtig – die berühmten Zigarillos, beherzigen wir den Tip eines Freundes: Von Ronco, über Losone finden wir in flottem Tempo zurück nach Intragna und umfahren somit das tägliche Verkehrschaos von Ascona und Locarno. Den Abend verbringen wir auf seiner Terrasse bei landestypischer Küche und Tessiner Rotwein. Tisch und Bänke bestehen aus rustikalem Granit, unsere Hintern werden durch bereit gelegte Sitzkissen verwöhnt. Milde Temperaturen bis in die Nacht hinein lassen uns vergessen, daß daheim die Heizung läuft.
Am nächsten Morgen machen wir uns auf die Reise in die ursprünglichen Stichtäler der Tessiner Alpen und haben uns ein großes Ziel gesetzt: Wir folgen der Straße, bis uns ein Schild oder eine Schranke die Weiterfahrt verbieten. Vom Valle Onsernone zweigt das Val di Vergeletto ab, in beiden Tälern sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht, hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Die schmale Trasse windet sich bergauf, reich an Kehren und Kurven, durch dichte Wälder und verschlafene Dörfer. Um das nächste, touristisch voll erschlossene Tal zu erreichen, müssen wir ein kleines Stück Richtung Locarno fahren, bis sich bei Ponte Brolla das Valle Maggia öffnet. Im Laufe der Jahrtausende hat der gleichnamige Fluß, angereichert mit Schuttmassen, bizarre Steinskulpturen aus dem felsigen Untergrund gewaschen. Die eher langweilige Route bis zur Weggabelung in Cevio dient zum Relaxen, denn danach werden alle Sinne auf anspruchsvollen Alpenwegen gefordert.
Oberitalienische Seen Nach einer Stippvisite ins Valle di Campo folgt der Aufstieg nach Bosco Gurin. Der von den Walsern gegründete Ort liegt auf 1500 Meter Höhe und kann nur zu Fuß erkundet werden. Zurück auf der Hauptstraße, gabelt sich bei Bignasco das Maggia-Tal erneut. Links geht es ins Val Bavona, uralte Steinhäuser aus Granit, so genannte „Rustici”, säumen den Weg, absoluter Blickfang ist der mächtige Wasserfall bei Foroglio. Auf der Terrasse des Restaurants „La Froda” bieten die tosenden Wassermassen etwas fürs Auge, für Gaumen und Magen kommen luftgetrocknete Wurst- und Schinkenspezialitäten auf den Tisch. Anschließend folgen wir dem Flußlauf der Maggia ins Lavizzara-Tal, hinter Fusio quälen wir die Kräder auf kehrenreicher Strecke hinauf zum Lago del Sambuco. An seiner Ostseite beginnt eine reizvolle Bergstrecke, die erst in einem Altschneerest am zugefrorenen Lago del Naret, in über 2100 Meter Höhe endet.
Die Tour talwärts ist nicht minder attraktiv, locken doch immer wieder fantastische Ausblicke zu einer kleinen Pause. Ade, beschauliche Alpen-idylle, denn um das benachbarte Verzasca-Tal zu erreichen, müssen wir uns durch Locarno und seine Vororte quälen. Wer James-Bond-Fan ist und den 007-Streifen „Golden Eye” gesehen hat, könnte sich die Fahrt ins Tal sparen, denn die gigantische, 200 Meter hohe Staumauer diente als Gänsehautkulisse für einen Bungeesprung in die Tiefe. Reich an Jahren, und schon gar nicht aus Stahlbeton, ist die aus dem Mittelalter stammende Doppelbogenbrücke „Ponte dei Saltri”, die in Lavertezzo den Flußlauf der Verzasca überquert. Das „Durchfahrt-verboten”-Schild bei Sonogno bremst unseren Vorwärtstrieb und dient als letzte Wendemarke des heutigen Tages.
Die Glocke ruft zur Morgenandacht. Mit einem angedeuteten Nicken und einem knappen „Giorno” grüßt uns ein vorbeieilender Passant auf seinem Weg zur Pfarrkirche San Martino. Im Örtchen Ronco sopra Ascona, oberhalb des nördlichen Seeufers, kehrt wieder Ruhe ein. Völlig ungestört genießen wir ein Rendezvous mit dem erwachenden Lago Maggiore. Die Morgensonne erwärmt das schwarze Leder, zu unseren Füßen huschen Eidechsen durchs Laub, Morgendunst löst sich von der Wasseroberfläche und zieht die Hänge hinauf. Unsere Sinne sind noch mit der Verarbeitung dieser Eindrücke beschäftigt, da meldet sich der kleine Hunger. Nun heißt es Durchstarten, zur Uferstraße hinabwedeln und Kurs auf Locarno nehmen. In den Arkaden der Piazza Grande lassen wir uns ein „prima colazione” (Frühstück) schmecken.
Anschließend schlendern wir über den Markt, um unsere Vorräte aufzustocken und sind fasziniert vom temperamentvollen Feilschen an den Ständen – obwohl noch in der Eidgenossenschaft, stecken wir scheinbar schon im tiefsten Italien. Kaum haben wir uns aus den Vororten Muralto und Minúsio gequält, umrunden wir die nördliche Seespitze, wo der Lauf des Ticino, der dem südlichsten Schweizer Kanton seinen Namen gab, in den Lago Maggiore mündet. In Vira lösen wir uns vom zweitgrößten der ober-italienischen Seen, denn der Berg ruft! Damit beginnt unser mühevoller Aufstieg zum Grenzort Indemini.
Die schmale Straße schraubt sich Kehre um Kehre durch eine grüne Hölle. Krachend quittiert die Schaltbox die ständigen Wechsel zwischen erstem und zweitem Gang. Auf der Scheitelhöhe angekommen, rollt das Motorrad für einen kleinen Augenblick waagerecht, um anschließend kopfüber ins italienische Valle Veddasca abzutauchen. In Maccagno hat uns das Gewässer wieder. Doch lange bleiben wir ihm nicht treu, denn schon in Luino machen wir uns ostwärts auf in die Bergwelt. Auf halbem Weg zwischen Lago Maggiore und Lago di Lugano schlagen wir einen Haken in die bewaldeten Höhenzüge des Malcantone mit seinen alten Goldminen und wechseln damit aus der Lombardei wieder auf Schweizerischen Boden. Die verschlafenen Bergdörfer Astano, Breno und Bioggio fliegen vorbei, bis wir in Agno auf den westlichen Zipfel des Luganer Sees treffen.
Oberitalienische Seen Unser nächstes Ziel ist Morcote, das an der Spitze einer weit in den See reichenden Halbinsel ruht. Die zahlreichen Straßencafés laden zum Verweilen ein, unzählige Wasservögel schnattern um die Wette, am gegenüberliegenden Ufer weht die italienische Staatsflagge. Nach einer Cappuccinopause erreichen wir Lugano. Die größte Stadt des Tessins liegt in einer malerischen Bucht, eingerahmt von den fast tausend Meter hohen Hausbergen San Salvatore und Monte Brè. Mit Adleraugen suchen wir nach einem Hinweis auf die Kantonsstraße, die uns am Nordufer entlang zum Comer See führen soll. Hinter Gandria verabschieden wir uns endgültig aus der Eidgenossenschaft, umrunden die Spitze des Sees und fahren in Claino wieder hinauf in die Berge.
Schlappe fünfzehn Kilometer später begrüßt uns der Lago die Como. Die Form des größten oberitalienischen Sees erinnert an ein Kopf stehendes Ypsilon. Das Auge bekommt hier viel geboten: Schlanke Zypressen, protzige Villen, elegante Motorboote und Luxuskarossen lassen die Reise gen Norden entlang der Promenade nie langweilig werden. Knapp fünfzig Kilometer Comer See liegen hinter uns, als wir unsere Maschinen am Fähranleger in Colico ausrollen lassen. Während in der Bar die Espressomaschine faucht und zischt, wird die Straßenkarte ausgebreitet und die Route zum Lago d’Iseo abgesteckt.
Das nahe Val Tellina bildet das Tor in die Bergamasker Alpen. Schnell noch ein Blick zurück auf die glitzernde Wasseroberfläche, die Seeluft tief einatmen, dann den Starterknopf drücken und ab! Im beschaulichen Morbegno ist die Abzweigung zum Passo di San Marco nicht zu übersehen. Der einzige Nord-Süd-Übergang weit und breit schraubt sich in zahlreichen Kehren rasch bis zur Pass-höhe (1985 m) empor, auf der Abfahrt ins Val Brembana setzt sich der Kurventanz fort. In San Pellegrino löschen wir unseren Durst mit dem berühmten Mineralwasser, das hier seine Quelle hat, bevor wir an-schließend in Richtung Clusone nach Osten abbiegen. Die Etappe zum Lago d’Iseo bietet ausreichend Gelegenheit, an der Schräglagenwechseltechnik zu feilen. In Lóvere an der Nordspitze des Sees angekommen, reiben wir unsere Augen, denn die Ähnlichkeit mit einem norwegischen Fjord ist frappierend, wären da nicht die wärmende Spätnachmittagssonne und die eindeutig mediterrane Flora. Die Ostuferstraße und das Städtchen Iseo liegen hinter uns, über mehrere Terrassen klettern wir zurück in die Berge. Wir müssen uns ranhalten, wenn wir den kleinen, aber feinen Lago d’Idro, noch im letzten Tageslicht erreichen wollen.