aus bma 10/07

von Manfred Stephan

Es ist der erste Donnerstag im April, und das Thermometer zeigt morgens um sechs Uhr kuschelige null Grad Celsius. Gestern hat es noch geschneit und geregnet, so wie auch schon die Tage und Wochen vorher.
Ich überlege ernsthaft, ob ich meine lange geplante Allein-Tour in das Weserbergland nicht verschiebe. Als Tribut an das Wetter habe ich mich bereits mit einem Stilbruch abgefunden: Pension statt Zelt. Angesichts der Wetterlage aber ein durchaus vertretbarer Stilbruch, wie ich finde.
Der Wetterbericht für die nächsten Tage macht mir etwas Mut, so daß ich die Hoffnung habe, auch gelegentlich im Trockenen zu fahren. Ich mache mich also, trotz unangenehmer Kälte, auf südlichen Kurs.
Schon auf den ersten Autobahnkilometern merke ich, daß meine Winterhandschuhe nicht mehr ganz das halten, was sie mal versprachen und bisher auch hielten. Ich erinnere mich an meine Heizgriffe, die ich bisher immer ziemlich belächelte und weiß diese nun doch sehr zu schätzen.
Nach vier Stunden Fahrt, 370 abgespulten Kilometern und schmerzendem Unterarm, treffe ich in meiner Pension in Brakel ein. Der Ort Brakel befindet sich etwa in der Mitte aller meiner vorgesehenen Tourenabschnitte, so daß ich mir hier ein zentrales „Hauptquartier” einrichte.
Ich beziehe das Zimmer, entledige mich meines gröbsten Gepäckes und schwinge mich gleich wieder aufs Mopped, um den ersten Abschnitt meiner Weserbergland-Tour, den Südosten, zu erkunden. Zwischenzeitlich ist es angenehm warm geworden, und auch die Sonne hat mich bisher durchgehend begleitet.
Der Weg führt mich von Brakel über Beverungen nach Haarbrück. Auf der Suche nach einer Kanne Kaffee und einem ansprechenden Café, kehre ich in Silvies-Kornspeicher ein. Wie sich rausstellt, ein Glückstreffer: Ein bevorzugtes und sehr gemütliches Biker-Café mit tollen Ausblick über das Weserbergland! Slivie versorgt mich mit Strecken- und Sightseeing-Tips sowie mit einigen Landkarten, bevor ich mich auf den „märchenhaften” Weg mache.
Der kommende Teil meiner Streckenführung steht nämlich im Zeichen der Märchen und Sagen. Demnach bewohnten mächtige Riesen die Schlösser auf den Bergen an der Diemel und der oberen Weser. Der mächtigste von ihnen war Kruko. Kruko hatte drei Töchter – Brama, Saba und Trendula. Nach dem Tode des Vaters hatten Brama und Saba den Christenglauben angenommen. Während Trendula den alten heidnischen Göttern treu blieb und ihren Schwestern das Leben schwer machte. Brama ging dies sehr zu Herzen: Tag und Nacht weinte sie. Ihre Augen wurden dabei blind. Schließlich verließ Brama die Burg ihres Vaters und baute sich auf dem anderen Ufer der Weser die Bramburg. Auch Saba konnte es nicht länger bei Trendula aushalten und baute sich im Reinhardswald die Sababurg. Jeden Abend machte sich Saba auf den Weg, um ihre blinde Schwester zu besuchen. Trendula, die von den nächtlichen Besuchen ihrer Schwester auf der Bramburg Wind bekommen hatte, beschloß, sie zu töten. Eines Tages fiel Trendula in der Nähe der Krukenburg über ihre Schwester her und erwürgte Saba, so die Sage.

 

Der Weg führt mich über Langenthal nach Helmarshausen zur sagenhaften Burgruine Kruko. Aber Enttäuschung: Außer ein paar Steinen kann man hier nicht mehr wirklich viel erkennen, und wer nicht unbedingt da gewesen sein will, kann sich diesen Weg wirklich sparen. Ich fahre also weiter durch den märchenhaften Reinhaldswald. Ein echter Genuß, dieses Waldstück, muß es zumindest sein, wenn sich der Wald zu einem anderen Zeitpunkt in seinem vollen Wuchs präsentiert. Jetzt im April kommt zwischen den kahlen Bäumen leider keine idyllische Stimmung auf.
Köterberg Über Gottsberg und den Friedwald, der Teil des Reinhaldswaldes ist, gelange ich zur 1334 erbauten Sababurg, die im Volksmund im 19. Jahrhundert zum Dornröschenschloß der Gebrüder Grimm erklärt wurde. Um dies originell zu unterstreichen, wurden in einem der oberen Fenster Pappkameraden in Form eines Königs und einer Königin postiert.
Ich folge der Weser aufwärts in Richtung Süden. Mein Ziel ist die Gierseilfähre über die Weser, die Veckerhagen und Hemeln miteinander verbindet. Leider ist diese aufgrund des zur Zeit herrschenden Hochwassers gesperrt, so daß ich spontan meine Tour umgestalten muß. Ich folge der Weser weiter in südlicher Richtung bis Hannoversch-Münden, den Sterbeort der berühmten Dr. Eisenbarth. Der akademische Arzt war bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts nur für innere Medizin zuständig. Eisenbarth machte durch erfolgreiche Heilungen auf sich aufmerksam. Auf Wochenmärkten praktizierte und verkaufte er seine Wund- und Arzneimittel. Auf diesen Reisen begleiteten ihn zu Werbezwecken auch Gaukler, Musiker und Tänzer. Diese Tatsache brachte ihm den zweifelhaften Ruf eines Wanderchirurgen ein, aus dem auch das allseits bekannte Spottlied entstand. Tatsächlich erhält Eisenbarth im Jahre 1717 von König Friedrich Wilhelm I. den Titel „Königlich preußischer Hofrat und Hofokultist” verliehen. Am 11. November 1727 starb Johannes Andreas Eisenbarth während eines Aufenthalts in Hannoversch-Münden.
Da ich ohnehin Hunger habe und mein Gas-Arm immer doller schmerzt, plane ich hier eine längere Rast ein und setzte meinen Weg zu Fuß durch die bezaubernde und äußerst gut erhaltene Altstadt von Hannoversch-Münden fort. Hier treffen sich Fulda und Werra und werden zur Weser. Insofern steht also auch ein Pflichtbesuch am Weserstein auf dem Programm.
Auf dem Rückweg fahre ich über Holzhausen und wieder durch den Reinhaldswald und schlage in Gottsbüren diesmal den Weg in Richtung Trendelburg ein. Die Burg, die hoch oben auf dem Trendelberg liegt, ermöglicht einen tollen Ausblick über weite Teile des Weserberglandes.
Ich fahre noch einen Umweg über Dalhausen um mir das dort angesiedelte Korbmuseum anzusehen. Leider ist das Museum schon geschlossen, und so fahre ich über eine sehr schöne, serpentinartige Straße von Erkeln zurück zu meinem „Hauptquartier” nach Brakel.
Wie schon am Tag zuvor erstrahlt der neue Tag in sonnigem Licht. Ich beginne den Tag mit einem Besuch des Schlosses Corvey. Deren Geschichte liest sich recht interessant: Um im Osten des fränkischen Reichs eine sichere Glaubensbastion zu haben, wollte Karl der Große in der Nähe der Weser-Grenze ein Kloster errichten. Sein Sohn Kaiser Ludwig der Fromme gründete 815 die von Corbie abhängige Propstei Hethis, aus der später Corvey hervorging. Wegen der ungünstigen Lage baten die Benediktinermönche aus dem westfränkischen Kloster Corbie an der Somme (Nordfrankreich) den Kaiser bald um Land an geeigneterer Stelle. Ludwig der Fromme erwarb 822 die Weseraue in der Nähe des heutigen Höxter, wohin die Mönche aus Hethis umzogen. 826 wurde das Kloster selbstständig. Seinen Namen erhielt die neue Ansiedlung von seinem Mutterkloster Corbie, das auf lateinisch „Corbeia” hieß. Aus „Nova Corbeia” – dem „neuen Corbie” – wurde schließlich der Name Corvey.
Auch die Missionierung des Nordens ist untrennbar mit Corvey verbunden. Der Heilige Ansgar gelangte als Corveyer Mönch bis nach Skandinavien. Mit der geistigen Blüte ging in den ersten vier Jahrhunderten auch eine wirtschaftliche und kulturelle Blüte einher. So besaß Corvey eine bedeutende Schreibschule (Skriptorium) und eine Bibliothek mit herausragenden Objekten der Buch- und Schreibkunst.
Ab dem 10. Jahrhundert löste sich Corvey von der westfränkischen Kultur, womit der unaufhaltsame Niedergang begann. Das Kloster litt in den folgenden Jahrhunderten unter Kriegsereignissen und Mißwirtschaft. Im Dreißigjährigen Krieg wurden die Gebäude vollständig zerstört.
Weser Ich mache mich auf den Weg nach Bodenwerder. Mein Ziel ist das Münchhausen-Museum und Geburtshaus des berühmten, 1720 geborenen Hieronymus Carolus Fridericus Baron von Münchhausen. Der Weg führt mich über Luchtringen, Holzminden, Bevern und Lütgenade nach Rühle. Auf dem Weg von Lütgenade nach Rühle erfahre ich einen der schönsten Ausblicke meiner gesamten Tour. An der steil ansteigenden Strecke kann man tief ins wunderschöne Tal sehen. Die von Apfelbäumen gesäumte Strecke verbreitet an dieser Stelle ein ganz besonderes Flair. In Bodenwerder kann ich meinen geplanten Besuch im Münchhausen-Museum leider nicht wahrnehmen, da wegen Bauarbeiten und der immer noch herrschenden Überschwemmungen die Zufahrten gesperrt sind und der Zugang zum Museum mit einem längeren Fußmarsch verbunden ist. Darauf habe ich angesichts meines relativ eng gesteckten Zeitplanes keine Lust und fahre deshalb weiter. Grobes Ziel: Köterberg.
Immer weiter bergaufwärts führen die Wege. Es knackt in den Ohren. Ich ahne noch nicht, daß mich jetzt ein weiteres Highlight der Tour erwartet: Die Ostheimer Höhe! Kenner wissen es: Weserbergland ohne Ostheimer Höhe ist wie Suppe ohne Salz! Ich schwinge mich also diese Serpentine hinunter mit einem klaren und tollen Blick auf die Weser. Es stimmt fast alles in diesem Moment: Wetter, Kurven, Ausblick, außer der Tatsache, daß vor mir irgendein Trecker seine Gülle verloren hat und eigenartigerweise immer genau in der 180 Grad-Kurve. Dazu hat der starke Frost der vergangenen Monate ebenfalls seine Spuren in Form von groben Rissen im Asphalt hinterlassen. An eine Abfahrt, wie sie zu günstigeren Verhältnissen möglich wäre, ist also kaum zu denken. Trotzdem nehme ich mir die Zeit und fahre die Strecke – unten angekommen – gleich noch mal wieder hoch, nur um sie oben gleich wieder hinunterzufahren.
Der weitere Weg führt mich wieder in die Höhe, hinauf auf den Köterberg. Hier, an diesem bekannten Motorradtreffpunkt, bin ich jetzt der einzige Mensch. Ich genieße den Ausblick über das Weserbergland und seine Lage am Dreiländer-Eck der Bundesländer Niedersachsen, Hessen und Nordrhein-Westfahlen.
Auf meinem Weg nach Detmold mache ich Rast am Kloster Marienmünster. Mit einem nicht unwesentlichen Bestand an historischen Gebäuden zählt Marienmünster zu den wenigen fast vollständig erhaltenen Klosteranlagen in Westfalen. Der Graf Widukind von Schwalenberg stiftete 1128 ein Benediktinerkloster, dem sie den Namen Marienmünster gaben. Die ersten Äbte kamen aus der Abtei Corvey. Im 12. und 13. Jh. war das Kloster ein Ort großer religiöser und kultureller Ausstrahlung. 1803 wurde das Klosters aufgelöst. Die Abteikirche blieb als Pfarrkirche erhalten. Der Nordostflügel und der Friedhof verblieben ebenfalls im Besitz der katholischen Kirchengemeinde. Die übrigen Gebäude und die Domäne gingen später in Privatbesitz über. Diese sind zwar verfallen, aber nach wie vor sehenswert. Jedenfalls besitzt die ehemalige Klosterkirche ein Meisterwerk westfälischer Orgelbaukunst, mit der von Johann Patroklus Möller gebauten Orgel.
Weiter westlich treffe ich bei Detmold im Teutoburger Wald in Hiddesen auf das Hermannsdenkmal. Das Denkmal mit einer Gesamthöhe von 53,46 m steht auf der Grotenburg, einem 386 m hohen Berg südwestlich von Detmold. Es soll erinnern an die Varusschlacht (die Hermannsschlacht) im Jahre neun nach Christus, bei der das gesamte römische Besatzungsheer von drei Legionen und sechs Hilfskontingenten, insgesamt wohl eine Armee von bis zu 25.000 Mann, vernichtend geschlagen wurde.
Das Hermannsdenkmal wurde von Ernst von Bandel in den Jahren 1838 bis 1875 geschaffen und am 16. August 1875 im Beisein von Kaiser Wilhelm I., des Lippischen Fürsten Leopold Fürst zur Lippe und zahlreicher weiterer Fürsten und Honoratioren eingeweiht.
Hannoversch Münden Als nächstes fahre ich direkt zu den Externsteinen. Ich gebe alles und erklimme die „Milliarden”-Stufen bis nach oben zum Gipfel, mache ein Foto und hechel die gleichen Treppenstufen wieder abwärts. Beim „freundlichen Felsenwirt”, so heißt die Lokalität, trinke ich einen aufbauenden Kaffee und schwinge mich wieder auf meine Wuchtbrumme.
Zwischenzeitlich macht sich mein Unterarm immer wieder bemerkbar und schmerzt. Ich beschließe meine Tour nicht mehr so ganz ausgedehnt zu beenden und noch einen weiteren Kaffee-Stop im Gut Albrock bei Bad Driburg einzulegen. Urig, gemütlich das in diesem Anwesen angesiedelte „Alb-Rock-Cafe”, das gleichzeitig ein weiterer Biker-Treff in der Region ist. Chef Rainer gibt mir sogar noch ein paar Tourentips, die ich mir aber für das nächste Mal aufhebe.
Auf dem Rückweg zu meinem Hauptquartier in Brakel zwingt mich die dort ansässige und optisch sehr ansprechende Hinnenburg doch noch zu einem kleinen Abstecher. Trotz verwirrender Beschilderung zur Burg (darf man oder darf man nicht den Berg hinauf fahren?), fahre ich steil hinauf zur Hinnenburg. Dort angekommen muß ich feststellen, daß diese ohnehin nicht zu besichtigen ist.
Was soll’s, ich schlage den Rückweg ein und komme auf der B 252 an der „Mutter Gottes im Wasser” vorbei. Einer Mutter-Gottes-Statue, die dort mitten im Heberbach steht, und bei der Autofahrer und Trucker dafür sorgen, daß in einer Laterne immer ein ewiges Licht brennt.
Mein letzter Tourentag soll mich in die südwestliche Region des Weserberglandes führen. Eine Strecke um den Driemelsee und in die weitere Umgebung. Der Wetterbericht meldet orkanartige Böen und Starkregen, und ich beschließe diesen Teil der Tour auf meinen nächsten Besuch zu verschieben, zumal dieser Tourenabschnitt im Schwerpunkt landschaftliche Leckerbissen bieten soll, die es zur jetzigen Jahreszeit ja ohnehin nicht so gibt. Ich schlage also grobe Richtung Norden ein und will stattdessen versuchen, solange es noch trocken ist, meine Strecke weitestgehend über Landstraßen zu fahren und dabei den ein oder anderen Zwischenstop einzulegen. Erstes Ziel ist die Rattenfängerstadt Hameln.
Kurz vor Hameln brauen sich die ersten dicken Wolken zusammen. Ich renne also kurz durch die tolle Altstadt und sehe zu, daß ich wieder zurück aufs Mopped komme. So eine angesagte Schlechtwetterfront treibt doch ungemein. Auf dem weiteren Weg nach Norden sind dann alle Vorsätze über den Haufen geworfen: Nächste Autobahnauffahrt rauf und versuchen den schnellsten Weg nach Hause einschlagen. Hauptsache trocken! Tatsächlich klappt es. Zuhause angekommen, bricht das angesagte „Schietwetter” los, gerade als ich mein Gepäck ins Haus bringe.
Ich schließe meine Reise mit einem Fazit für mich: Glück mit dem Wetter gehabt, aber leider in der Jahreszeit zu früh. Unterm Strich fiel mir ein Ausruf eines anderen Kradlers ein, der auf meiner Mosel-Rhein-Tour mal sagte: „Warum fährst Du denn hier rum? Die Weser ist doch viel schöner.” Ich glaube, ganz unrecht hatte er nicht.