aus bma 01/10

von Klaus Herder

Victory Hammer S Modell 2009Der Motorrad fahrende Mensch neigt mit zunehmendem Alter dazu, vermeintliche Biker-Wahrheiten immer weniger ernst zu nehmen und seinen ehernsten Grundsätzen untreu zu werden. Frei nach dem Motto „Was schert mich mein Geschwätz von gestern?!“ Männer, die jahrelang in quietschbunten Lederleibchen als Gebückte mächtig supersportlich durch die Gegend getobt sind und sich lieber einen Arm hätten abhacken lassen, als sich auf einen Cruiser oder gar Chopper zu schwingen, entdecken als Ü40-Jährige plötzlich ihre Liebe zur gemächlicheren Gangart. In einem letzten Aufbäumen von Selbstachtung gilt für einige von ihnen aber immer noch der Grundsatz „Niemals eine Harley!“ Dabei haben sie prinzipiell gar nichts gegen das Ami-Eisen, ganz im Gegenteil. Doch die zu befürchtende Häme, die dem Verräter an der Supersport-Sache aus dem Kreise der (schon seit Jahren nicht mehr selbst fahrenden) Kumpels entgegenschlagen würde, lässt sie zaudern. Alternativen? Bislang Fehlanzeige, die tuntigen Japo-Hobel gehen gar nicht, für Moto Guzzi fehlt dann doch die Leidensfähigkeit, und eine Triumph Rocket III ließe sich dem Ehe-Gespons oder Kredit-Sachbearbeiter nur schwerlich vermitteln. Das sind echte Probleme. Doch die lassen sich seit September 2009 erstaunlich elegant lösen, denn seit besagtem Monat ist die US-amerikanische Motorradmarke Victory hierzulande ganz offiziell mit einem Importeur und zwölf Händlern vertreten.

 

Eine neue Marke aus den USA? Da gehen beim einen oder anderen Biker möglicherweise erst einmal die Warnlampen an, denn in den vergangenen Jahren haben nur allzu oft Glücksritter probiert, mit irgendwelchen Harley-Klonen den schnellen Dollar zu machen. Wie oft wurde der legendäre Markenname Indian für unsägliche Heiße-Luft-Projekte missbraucht? Eben! Doch keine Panik, die junge Marke Victory hat einen grundsoliden Hintergrund zu bieten: Victory Motorcyles wurde 1997 als Tochtergesellschaft der Polaris Industries gegründet. Das in Minnesota (das liegt im Norden der USA, direkt an der kanadischen Grenze) ansässige Unternehmen Polaris gibt’s seit 1954 und es ist einer der weltweit führenden Anbieter von Schneemobilen und ATVs (All Terrain Vehicles). Für Polaris arbeiten über 3500 Mitarbeiter. Am 4. Juli 1998 – also am Unabhängigkeitstag, der Ami liebt es etwas melodramatisch – verließ die erste serienmäßige Victory die Endmontagehalle in Spirit Lake, das liegt mitten in einer beliebten Urlaubsregion im südlich an Minnesota anschließenden Iowa.

Victory Hammer S Modell 2009Bislang brachte Victory gut 40000 Exemplare auf die nordamerikanischen Straßen. Nun soll der Siegeszug in Europa fortgesetzt werden. Die Victory-Macher stellen etwas komplett Eigenes auf zwei Räder und verbauen als Antrieb nicht etwa die Harley-Kopien von S&S oder RevTech. Am luftgekühlten V-Twin kamen sie dann aber doch nicht vorbei, was durchaus verständlich ist, denn mit über 50 Prozent Marktanteil bei den Big Bikes gibt Harley in den USA ziemlich deutlich vor, was sich in God’s Own Country immer noch am besten verkaufen lässt. Der Victory-Motor spreizt seine beiden Zylinder im 50-Grad-Winkel (Harley: 45 Grad), doch die viel wesentlicheren Unterschiede gibt’s im Motor-Inneren: Wo beim Urvieh aus Milwaukee zwei unten liegende Nockenwellen über ellenlange Stoßstangen je zwei Ventile pro Zylinderkopf steuern, hat die Victory vier Ventile pro Brennraum zu bieten. Und die werden jeweils von einer oben liegenden Nockenwelle per Kipphebel und Tassenstößel betätig.

Die deutlich moderne Victory-Konstruktion sorgt zusammen mit einem deutlichen Hubraum-Plus (1731 satt 1585 cm2) dafür, dass der nur moderat langhubig (Bohrung 101, Hub 108 mm) ausgelegte Motor mehr Leistung und Drehmoment aus den Zylindern schütteln kann. Während es Harley’s Twin Cam 96-Motor in der Dyna-Baureihe bei maximal 78 PS und 126 Nm gut sein lässt, hat Victory’s Freedom-Motor 90 PS und 140 Nm zu bieten. Der schnörkellose Twin befeuert den vollverschalten Tourer Victory Vision und vier aus einem gemeinsamen Baukasten zusammengesteckte Cruiser-Modelle (Vegas, Vegas Jackpot, Kingpin und Hammer), die in unterschiedlichen Ausstattungs-Varianten zu haben sind. Der Zusatz „8-Ball“ in der Modellbezeichnung verrät, dass es sich um das jeweilige Victory-Einstiegsmodell handelt, das schwarz, einsitzig und sehr puristisch daherkommt. Die Victory-Welt beginnt bei 12490 Euro für die Vegas 8-Ball. Für das etwas nach 50er Jahre-Straßenkreuzer aussehende Topmodell Victory Vision sind 21990 Euro fällig.

Victory Hammer S Modell 2009Als Harley-Alternative für Europäer vielleicht am reizvollsten ist der Muscle-Cruiser Victory Hammer, der mit blau-weißer Lackierung und leichteren Zehn-Speichen-Schmiederädern als Hammer S antritt. Der üppig besohlte Muskelprotz passt perfekt in die Lücke zwischen Harleys etwas untermotorisierten Big Twins und den etwas übertechnisierten V-Rods. Die Hammer S hat fast gar nichts vom Chrom-Schwulst und Fender-Barock, zu dem das verständlicherweise am US-amerikanischen Geschmack ausgerichtete Victory-Programm ansonsten neigt. Vom Scheinwerfer abgesehen ist die vollgetankt 315 Kilogramm schwere Hammer S erfreulich klar gezeichnet. Ein Hingucker ist sie trotzdem, dafür sorgt allein schon der 250er-Dunlop an der Hinterhand. In der ebenfalls üppig dimensionierten Upside-down-Gabel steckt auch ein 18-Zöller, hier im 130er-Format. Eine von Vierkolben-Festsätteln kontrollierte Doppelscheibenbremse gibt’s im Victory-Cruiserprogramm auch nur in der Hammer. Gleiches gilt für den Drehzahlmesser, der als zweites klassisches Rundinstrument dem Tacho zur Seite steht. Bereits beim ersten Probegucken und –sitzen fällt auf, wie wertig die Victory rüberkommt. Das wirkt alles hervorragend verarbeitet und grundsolide gemacht. Kein Wunder, vertrauen die Amis bei vielen Bauteilen doch auch auf namhafte Zulieferer. So stammen die Bremsen von Brembo, und den 17-Liter-Tank liefert die deutsche Firma Behr, die auch Spritfässer für BMW und Triumph fertigt. Stahlflexleitungen, eine nicht schon im Stand rostende Auspuffanlage, Zahnriemen zum Hinterrad und ein Zentralfederbein, das, für Cruiser eher ungewöhnlich, über ein progressiv arbeitendes Umlenksystem angelenkt ist – das alles sind Details, die sehr schnell deutlich machen, wie ernst es Victory meint.

Victory Hammer S Modell 2009Auf immer noch recht bodennahen 71 cm Sitzhöhe untergebracht harrt der Fahrer der Dinge, die da nach dem schlagartigen Einspuren des Anlasserritzels kommen mögen. Seien wir ehrlich: Das ist zumindest akustisch weniger, als erwartet. Was da den langen Endtöpfen entweicht, klingt erstaunlich verhalten. Nicht unangenehm, ganz im Gegenteil, nur eben nicht nach luftgekühlten 1731 Kubik. Das harte „Klonk“ beim Einlegen des ersten von sechs Gängen macht dann aber schon recht schnell wieder klar, dass hier kerniger amerikanischer Maschinenbau für Vortrieb sorgen soll. Die Kupplung verlangt entschlossenen Zugriff, lässt sich dann aber fein über den leider nicht verstellbaren Handhebel dosieren. Das Einlegen der Gänge erfordert ebenfalls etwas Nachdruck, doch dann geht’s los.

Und wie es los geht! Es bleibt keine Zeit, sich über die doch sehr verhaltenen Lebensäußerungen zu grämen, denn die 90 PS bringen die Fuhre gehörig in Wallung. Mit einem satten, kraftvollen Stampfen tritt der Twin bereits knapp über Standgas sehr, sehr kraftvoll an. Ab 2500 bis knapp 5000 Touren surft die Hammer S auf einer gigantischen Drehmoment-Woge, die einfach nicht unter 130 Nm sinken will. Für den Sprint von 0 auf 100 benötigt die Wuchtbrumme gut vier Sekunden. Noch beeindruckender dürfte der Durchzugswert von 60 auf 180 km/h sein: in knapp 18 Sekunden ist das Thema erledigt. Zum Vergleich: Harleys Big Twin benötigt für die gleiche Übung 31 Sekunden. Bei allem, was der Freedom-Motor fahrleistungsmäßig zustande bringt, bleibt er immer und überall erstaunlich kultiviert. Für den Geschmack der ganz bösen Jungs vielleicht sogar etwas zu kultiviert, denn der von einer Ausgleichswelle beruhigte Big Block hält herzlich wenig von kerniger Schüttelei.

Victory Hammer S Modell 2009Kraft ja, Vibrationen nein – so die klare Ansage. Der sehr willig am Gas hängende Victory-Motor bietet kein Standgas-Schüttel-Showprogramm an der Ampel, er will möglichst heftig und ohne übermäßige Lastwechselreaktionen in Fahrt kommen. Es geht aber auch ganz lässig, dann liegen bei 140 km/h im sechsten, als Overdrive ausgelegten Gang gerade mal 3000/min an. Im fünften und sechsten Gang wird grundsätzlich bei 193 km/h abgeriegelt, das entspricht dann 4900 bzw. 4200/min. Das wird in der Praxis niemanden belasten, denn das eigentliche Hammer-Revier ist durchaus die kurvige Landstraße. Wie bitte – 250er-Hinterradwalze und kurvige Landstraße? Das funktioniert ganz prächtig, denn einmal in Fahrt wirkt die Victory erstaunlich leichtfüßig. Und das ändert sich auch nicht in Schräglage, um den Bock sauber auf Kurs zu halten, muss am Lenker nur wenig Gegendruck ausgeübt werden. Für Cruiserverhältnisse wuselt die Hammer S erfreulich neutral ums Eck, die Schräglagenfreiheit ist systembedingt nicht gerade üppig, aber es hätte schlimmer kommen können. Die Federelemente machen einen erstaunlich guten Job. Reifenpaarung und Fahrwerksgeometrien passen wirklich gut zusammen, die Fuhre ist goldrichtig ausbalanciert. Diese Erkenntnis sollte aber dem Solofahrer vorbehalten bleiben, denn der unter einer ohne Werkzeug abnehmbaren Abdeckung versteckte Soziussitz hat bestenfalls Alibifunktion.

Eine Rundum-glücklich-Funktion in allen Lebenslagen gibt’s dafür von der Bremse. Wer ordentlich am Hebel zieht und etwas gefühlvoller aufs Pedal tritt, wird mit famosen Verzögerungswerten belohnt. Die Hammer-Bremse ist in Cruiser-Kreisen referenzverdächtig und auch unter ganz normalen Motorrad-Maßstäben ein tolles Teil. Wer mit etwas weniger Bremse, nämlich mit nur einer Scheibe im Vorderrad, leben kann, bekommt die Hammer als besagtes Sparmodell Hammer 8-Ball schon für 13990 Euro. Die normale Hammer, die mit der hier vorgestellten Hammer S weitgehend baugleich ist, kostet 15490 Euro. Für die Hammer S sind 16490 Euro fällig. Die Victory-Preise liegen über den Tarifen vergleichbarer Japan-Cruiser, aber noch unter den Preisen entsprechender Harley-Eisen. Zwischen diesen beiden Welten dürfte die Victory auch imagemäßig einzuordnen sein, was die Sache für Ex-Sportfahrer durchaus reizvoll machen könnte. Die Kumpels würden nicht lästern, man selbst wäre zumindest einem Grundsatz treu geblieben – und ganz nebenbei bekäme man ein erstklassig verarbeitetes Motorrad, das nicht peinlich aussieht, dafür aber mit einem kräftigem Motor, einem ordentlichen Fahrverhalten und hervorragenden Bremsen überzeugt. Die Victory könnte den gestandenen Motorradfahrer auf die alten Tage zum Sieger-Typen machen – das wäre dann doch echt der Hammer!