aus bma 3/11 – Fahrbericht

von Klaus Herder

Triumph Tiger 800 mit SoziusMan muss nicht immer alles selbst erfinden. Manchmal muss man nur schauen, wie es andere gut machen – und dann mit dieser Anregung seinen eigenen Weg finden. Triumph muss zwangsläufig schon seit vielen Jahren mit ansehen, wie es ein Wettbewerber richtig gut macht. Stichwort BMW R 1200 GS (Zulassungen 2010 in Deutschland: 5673 Stück) und deren kleine Schwestern F 800 R (1953 Stück) und F 800 GS (1465 Stück). Zum Vergleich: Von der Triumph Tiger 1050 wurden im ganzen vergangenen Jahr bundesweit nur 374 Exemplare unters Volk gebracht.

Dabei ist die Tiger 1050 ein rundherum gelungenes Motorrad, das allein schon seines famosen Dreizylindermotors wegen eine Versuchung wert wäre. Doch gegen den Platzhirsch R 1200 GS lässt sich hierzulande einfach nicht anstinken. Okay, sagten sich die Briten – dann greifen wir die Bayern eben dort an, wo die Flanken noch etwas offener liegen, wo man keinen Boxer-Mythos und keinen Kardan-Bonus zu fürchten hat: in der Mittelklasse, konkret im 800er-Segment. Na ja, öffentlich sagten das die Jungs von der Insel natürlich nicht, denn nach offizieller Lesart war die Triumph Tiger 800, um die es nachfolgend gehen soll, längst in der Entwicklungs-Pipeline, als BMW 2008/2009 mit den nackten 800er-Twins debütierte. Konzept-Kopien? Niemals!

Triumph Tiger 800Wie auch immer, die Tiger 800 und speziell die stollenbereifte XC-Version sehen der F 800 GS mächtig ähnlich, sogar den überm Vorderrad thronenden Entenschnabel übernahmen die Triumph-Macher bei der XC. Muss ja auch nichts Verwerfliches sein, denn erstens hat BMW ganz sicher nicht das Entenschnabel-Copyright – das dürfte bei Suzuki und der seligen DR Big 750 S liegen -, und zweitens pocht im Tiger-Stahlrahmen ein ganz und gar eigenständiges Herz. Kein Zweizylinder-Vibrator, sondern in guter, junger Triumph-Tradition natürlich ein Dreizylinder-Sahneschnittchen.

Und das ist nicht etwa eine schnöde Organspende aus der 125 PS starken Daytona 675 oder der 106 PS leistenden Street Triple, sondern eine leckere Quasi-Neukonstruktion. Dieser Reihendreier hat nicht mehr das Thema Sport mit all seinen Drehzahlanforderungen als oberstes Prinzip, sondern muss zum Drehmoment-orientierten Charakter eines „Adventure-Bikes“ (um ebensolche handelt es sich laut Triumph bei den beiden Mini-Tigern) passen.

Triumph Tiger 800 ohne ABS SensorDamit es aus dem Drehzahlkeller mächtig abenteuermäßig losgehen konnte, griffen die Triumph-Techniker zu einem probaten Mittel der Drehmoment-Optimierung: der Hubraumerhöhung. Und dafür war der 675er-Triple dann doch eine ganz nette Basis, von der man zumindest den Zylinderkopfrohling und den Drosselklappenkörper übernehmen konnte. Die Bohrung blieb mit 74 mm unverändert, aber der Hub legte mit 61,9 statt 52,3 mm kräftig zu. Über 80 Prozent aller Bauteile wurden komplett neu gezeichnet, und dabei kam ein Motor heraus, dem die Drehzahlsucht des 675ers völlig fremd ist. Kerngesunde 95 PS bei 9300/min leistet der Dreizylinder maximal; das höchste Drehmoment von 79 Nm wird bei 7850/min gestemmt. Für den Charakter viel entscheidender als die Spitzenwerte ist aber die Tatsache, dass zwischen 4000 und 9000/min immer über 70 Nm anliegen. Immer!

Zwischen 2500 und 8000/min steigt das Drehmoment gerade mal um 5 Nm an – eine solch genial flache Drehmomentkurve haben ansonsten nur Elektromotoren. Diese Auslegung beschert dem Tiger-Motor eine vorbildliche Elastizität mit besten Durchzugswerten und sorgt dafür, dass die ersten vier von sechs Gängen eigentlich nur zum Anfahren benötigt werden. Ansonsten lässt sich alles, wirklich alles im fünften oder recht lang ausgelegten sechsten Gang erledigen, ohne im für Triumph-Verhältnisse erstaunlich leicht zu schaltenden Ge­trie­be rühren zu müssen.

Triumph Tiger 800 WheelieDie Kupplung ist über den serienmäßig leider nicht verstellbaren Kupplungshebel perfekt dosierbar, der Motor läuft seidenweich, und der Verbrauch hält sich mit deutlich unter 5 Liter/100 km in Grenzen. In Kombination mit dem großen 19-Liter-Tank sorgt das für eine Landstraßenreichweite von über 400 Kilometern.

Mit unter vier Sekunden für den Sprint von 0 auf 100 km/h sowie einer Höchstgeschwindigkeit von 210 km/h stimmen auch die Stammtischwerte. Und auch von der Sound-Front gibt es nur Gutes zu berichten: Der Nachwuchs-Tiger faucht vielleicht nicht ganz so böse wie Street oder Speed Triple, doch das, was da herrlich kernig aus dem hoch gelegten Edelstahldämpfer röhrt, sorgt immer noch für ein ganz breites Grinsen und aufgestellte Nackenhaare.

Der kultivierteste Dreizylinders, der jemals in Hinckley zusammengesteckt wurde, überzeugt auch an Stellen, die man beim Erstkontakt vielleicht nicht auf dem Schirm hat. So gibt es statt des Plastikpeilstabes für die Ölstandskontrolle endlich ein Schauglas, und mit 675 Watt Lichtmaschinenleistung sowie einer 14 Ah-Batterie ist das Adventure-Bike sehr gut für elektrisch betriebenes Abenteuer-Zubehör gerüstet.

Dieses kann über eine Steckdose betrieben werden, die direkt neben dem Zündschloss und damit perfekt erreichbar montiert ist. Die gezahnten Fahrerfußrasten tragen abnehmbare Gummiauflagen.

Triumph Tiger 800 Steckdose neben ZündschlossDer Lenker lässt sich durch Umstecken der Aufnahmeböcke vor oder zurück versetzen, und die Sitzhöhe lässt sich durch das einfache Umstecken einer als Sitzbankaufnahme dienenden Stange zwischen 840 und 860 mm variieren. Ähnlich einfach ist das Anpassen der Leuchtweite, ein Handgriff genügt. Das alles sind nette Details, denen man anmerkt, dass sich die Entwickler sehr viele Gedanken über die Alltagstauglichkeit der vollgetankt 220 Kilo schweren Tiger 800 gemacht haben.

An anderer Stelle fehlt die Detailliebe allerdings etwas – oder aber die den Rotstift schwenkenden Kaufleute pfuschten den Technikern ins Handwerk. So ist zum Beispiel das Bremspedal aus billigster Stanzware gefertigt. Etwas billig und wenig sturzfreundlich ist auch der Vorbau geraten, der von plump an den Lenkkopf geschweißten Röhren getragen wird. Die Digitalanzeige im eigentlich üppig bestückten Cockpit lässt sich nicht vom Lenker aus verstellen. Das Federbein liegt voll im Spritzwasserbereich. Und die weit herausragenden Beifahrer-Fußrastenhalter können nicht abgeschraubt werden, was bei einem „Abenteuer-Motorrad“, das bei artgerechter Nutzung auch mal ungewollt in die Waagerechte kommen kann, mindestens genauso unverständlich ist, wie die Wahl einer durchgehenden Schweißkonstruktion beim Stahlrohrrahmen. So können eigentlich harmlose Umfaller oder Ausrutscher sehr schnell zu einer teuren Reparatur-Angelegenheit werden – geschraubte Konstruktionen wären die praxisgerechtere Wahl gewesen. Die gute Soziustauglichkeit, die zwar nicht übermäßig hübschen, dafür aber äußerst praktischen Haltebügel sowie die üppige Zuladung von 215 kg versöhnen dafür aber und machen deutlich, dass die Tiger 800 im normalen, nämlich unfallfreien Betrieb durch und durch alltagstauglich geraten ist.

Triumph Tiger 800 CockpitVon der fünf Kilo schwereren Enduro-Schwester Tiger 800 XC (das Kürzel steht für „Cross-Country“) unterscheidet sich die mehr straßenorientierte Basis-Tiger in Ausstattungsdetails; Motor und Fahrwerk sind prinzipiell identisch. Wo bei der hier gezeigten Tiger 800 Pirelli-Straßengummis im Format 100/90-19 und 150/70 R 17 auf Alu-Gussrädern montiert sind, trägt die XC auf Drahtspeichenrädern grobstolligere Bridgestones der Größe 90/90-21 und 150/70 R 17. Die Upside-down-Gabel der XC hat 45er-Standrohre mit 220 mm Federweg, die Tiger 800 muss sich mit einer 43er-Gabel und 170 mm begnügen. Das XC-Federbein ist ebenfalls für etwas härteren Einsatz gerüstet: 215 mm Federweg mit Federbasis- und Zugstufendämpfungs-Verstellung sowie Ausgleichsbehälter. Die Basis-Tiger federt über 170 mm und hat nur eine verstellbare Federbasis. Ein breiterer Lenker auf höheren Risern, serienmäßige Handprotektoren und natürlich der besagte Entenschnabel sind weitere Unterscheidungsmerkmale.

Triumph Tiger 800Das Mehr an Ausstattung hat natürlich seinen Aufpreis: 800 Euro kostet der kleine Unterschied, in Summe 9590 Euro für die Tiger 800 XC statt 8790 Euro für die normale Tiger 800. In Sachen Fahrspaß gibt’s keine Unterschiede, den bieten beide Jung-Tiger im gehörigen Maße. Neben dem tollen Motor hat daran das bestens funktionierende Fahrwerk einen großen Anteil.

Äußerst zielgenau schwenkt die 800er um Kurvenradien aller Art, bleibt dabei jederzeit gut berechenbar und folgt aufmerksam jedem noch so kleinen Lenkimpuls. Das wuselige Fahrverhalten lässt sich mit einem Wort zusammenfassen: superhandlich. Der sehr bequem und lang­­streckentauglich untergebrachte Fah­rer benötigt praktisch keinerlei Eingewöhnungsphase, auf der eher straff als soft abgestimmten Tiger hat man auf Anhieb absolutes Vertrauen zum Gerät. Und das wird nicht enttäuscht, denn die gutmütige Auslegung verzeiht auch gröbere Fahrfehler.

In die Rubrik „gutmütig“ gehören auch die Bremsen. Die vorderen Doppelkolben-Schwimmsättel von Nissen sind nicht gerade wütende Beißer, sie agieren in Sachen Dosierung und Wirkung eher etwas zahnlos. Sehen wir es positiv: Die Gefahr des ungewollten Überbremsens ist recht gering. Oder sogar gänzlich ausgeschlossen, denn ab diesem Frühjahr soll auch endlich das 600 Euro Aufpreis kostende ABS lieferbar sein. Damit dürfte der weitaus größte Teil der vom deutschen Importeur für 2011 angepeilten 1000 Tiger 800-Verkäufe bestückt werden; denn das Dreizylinder-Schätzchen zielt nun mal ganz klar auf die Fernreisefreaks, die sich ansonsten für eine BMW F 800 GS entscheiden würden, und für die ist der Blockierverhinderer ein absolutes Muss.

Das in Sachen Tiger 800 hervorragend sortierte Triumph-Zubehörprogramm dürf­te den Klapphelm- und Gore-Tex-Trägern ebenfalls sehr gut gefallen und dem einen oder anderen vielleicht den letzten Anstoß geben, vielleicht doch einmal britisch zu kaufen.

Unabhängig davon ist die Tiger 800 natürlich ein völlig eigenständiges Konzept. Selbstverständlich gab es keine direkten Vorbilder. Ist klar. Und außerdem ist es eine richtig tolle Sache, eine ohnehin schon gute F 800 mit einem vielleicht noch besseren Motor kaufen zu können…